Auf der Suche nach dem „Missing Link“: Was treibt den Zelltod bei MS voran?

Das größte Problem bei Multipler Sklerose ist nicht unbedingt der Myelinabbau durch Immunzellen, sondern die Neurodegeneration durch sterbende Axone. Erst langsam verstehen Forscher, wie beides zusammenhängt. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und das gilt auch in der MS-Forschung. Auf dem Kongress der American Academy of Neurology (AAN) in Vancouver präsentierte Professor Bruce Trapp von der Cleveland Clinic zwei Schwarz-Weiß-Fotos: Auf dem einen waren unzählige kleine schwarze Flecken dicht nebeneinander zu sehen – mit einem speziellen Verfahren markierte Axone im Rückenmarkquerschnitt eines gesunden Probanden. Auf dem anderen sah es dagegen fast leer aus. Es zeigte einen Rückenmarksquerschnitt einer chronischen MS-Läsion bei einem Patienten, der seit 22 Jahren an einer sekundär-progredienten MS leidet. „Dieser Mann hat keine Lähmungen, weil seine Axone demyelinisiert sind, sondern weil sie nicht mehr da sind“, sagte Trapp. Inzwischen besteht ein Konsens, dass die Neurodegeneration der entscheidende Faktor für irreversible Beeinträchtigungen bei MS ist, so der Neurologe, der sich als MS-Grundlagenforscher einen Namen gemacht hat. Allerdings ist noch immer nicht geklärt, wie es zum Tod von Nervenverbindungen und Nervenzellen kommt und was das Ganze mit den Entzündungsprozessen bei MS zu tun hat. So gehen viele MS-Experten davon aus, dass es neurodegenerative Prozesse geben muss, die unabhängig von entzündlichen Prozessen die Behinderungsprogression vorantreiben. Denn viele Patienten mit progredienten MS-Formen zeigen trotz zunehmender Behinderungen keine neuen demyelinisierenden Läsionen im MRT, keine Zeichen einer Astrogliose, keine übermäßigen Entzündungsprozesse, was erklärt, weshalb sie auch auf Immunmodulatoren nicht mehr reagieren. Dass die Neurodegeneration hier scheinbar unabhängig von der Inflammation voranschreitet, heißt aber nicht, dass sie nichts damit zu tun hat, stellte Trapp fest. Irgendwo muss es eine Verbindung geben. Wird sie aufgezeigt, können Forscher vielleicht auch die dringliche Frage beantworten, ob eine wirksame antientzündliche Therapie in der Frühphase der Krankheit die Neurodegeneration stoppen kann. Bislang, so Trapp, lasse sich jedoch allenfalls eine Verzögerung beim Übergang von der schubförmigen in sekundär-progrediente Form beobachten. „Immunmodulatoren machen einen guten Job, indem sie die Progression der Erkrankung bremsen, aber sie stoppen sie nicht.“ Möglicherweise ist dies mit einigen der neuen MS-Therapeutika anders: Hier gelingt es immerhin bei einem Teil der Patienten, die entzündliche Krankheitsaktivität weitgehend zu beenden. Man wird allerdings erst in einigen Jahren wissen, ob sich damit auch Neurodegeneration und Krankheitsprogression abschalten lassen. Neurodegeneration vom ersten Schub an Sicher ist jedenfalls, dass die Neurodegeneration den kompletten Krankheitsverlauf begleitet und bereits in der Frühphase der Erkrankung aktiv ist. Darauf gibt es mehrere Hinweise. Trapp nannte etwa Studien zur Hirnatrophie. Diese schreitet bei MS-Patienten schneller voran als bei Gesunden. Üblicherweise schrumpft das Gehirn bei Erwachsenen um weniger als 0,4 % pro Jahr. In Studien bei MS-Kranken ließ sich ein mittlerer Wert von 0,7 % feststellen. Erstaunlicherweise wurde dieser Wert sowohl bei Patienten mit einem ersten MS-Schub als auch bei solchen mit langjähriger primär oder sekundär progredienter MS ermittelt. Die Hirnvolumenabnahme ist also über den gesamten Krankheitsverlauf relativ konstant. Nun spiegelt diese Abnahme vielleicht nicht exakt das Ausmaß der Neurodegeneration wider, doch je schneller das Gehirn schrumpft, umso mehr Behinderungen akkumulieren die Patienten und umso schlechter ist die Prognose. In Korrelationsanalysen wird davon ausgegangen, dass sich etwa die Hälfte der Behinderungsprogression durch die Hirnschrumpfung erklären lässt. Auch hier blicken Experten mit Spannung auf die Langzeitergebnisse von Präparaten, welche die Hirnatrophie nicht nur bremsen, sondern auf das normale Maß von Gesunden reduzieren. Es gibt aber noch überzeugendere Belege für eine frühe Neurodegeneration, und hier kommen wieder die erwähnten Fotos ins Spiel. Ein axonaler Verlust lässt sich nicht nur bei Patienten mit langjährigen progredienten Formen nachweisen, sondern auch in nur wenige Tage alten entzündlichen Läsionen. In histologischen Präparaten solcher Läsionen haben die Forscher um Trapp die Axone einmal durchgezählt und ihre Zahl mit der von nicht betroffenen Personen verglichen: Pro Kubikmillimeter fanden sie mehr als 11.000 frisch durchtrennte Nervenfortsätze, deutlich erkennbar an den ovalen Anschwellungen. „Wir waren schockiert, als wir das sahen“, erläuterte der Neurologe, „das gibt uns einen Einblick, was da eigentlich passiert“. Die immense Zahl markiert zwar nur einen relativ geringen Anteil der Axone in der Läsion, dieser Anteil, so Trapp, ist aber nicht unerheblich: „Wenn ein Axon demyelinisiert, kann es seine Funktion wieder aufnehmen, einmal durchtrennt, ist sie für immer verloren.“ Für den Neurowissenschaftler ist dieser axonale Verlust entscheidend für die Behinderungsprogression. Zunächst kann das ZNS die anfänglich noch geringe Zahl der durchtrennten Axone gut funktionell kompensieren, doch irgendwann kommt diese Fähigkeit an ihre Grenzen und das eigentliche Ausmaß der Neurodegeneration manifestiert sich in persistierenden Behinderungen. Nicht nur eine Krankheit der weißen Substanz Der axonale und neuronale Untergang findet nicht nur in der weißen Substanz statt, sondern auch im Kortex, wenngleich in anderer Weise. „Wir haben früher die MS immer als Krankheit der weißen Substanz bezeichnet, das stimmt aber nicht“, sagte Trapp. Nach seiner Ansicht übertrifft der Myelinabbau im Kortex bei manchen Patienten sogar denjenigen in der weißen Substanz. Dies lässt sich mit ausreichender Genauigkeit bisher nur post mortem mit histologischen Methoden nachweisen. Ein Grund dafür ist die weitaus geringere Entzündungsaktivität in der grauen Substanz – sie hinterlässt kaum Spuren in Aufnahmen mit gängigen MRT-Verfahren. Im Vergleich zur weißen Substanz wandern deutlich weniger Lymphozyten in kortikale Läsionen ein, auch werden in solchen Läsionen weniger Axone und Dendriten durchtrennt – Trapp geht von einer um zwei Drittel geringeren Zahl durchtrennter Nervenfortsätze pro Kubikmillimeter aus als in der weißen Substanz. Allerdings scheinen die Folgen einer solchen Dissektion gravierender zu sein: So konnten die Forscher in kortikalen Läsionen eine hohe Zahl von Nervenzellen im Zustand der Apoptose nachweisen, auch war die Zahl der synaptischen Verbindungen oft dramatisch reduziert. Offenbar scheinen die Nervenzellen einen Angriff in unmittelbarer Nähe weniger gut zu überstehen als in einem weit entfernten Axonbereich irgendwo in der weißen Substanz. Mehr vom Kongress Weitere Beiträge finden Sie in unserem Dossier "AAN-Kongress 2016"! Kortikale Läsionen folgen zudem einem anderen Ausbreitungsmuster. Trapp nannte drei wesentliche Typen: Am besten erkennbar sind Läsionen in der weißen Substanz, die sich auf den angrenzenden Kortex ausbreiten. Hinzu kommen kleine perivaskuläre Schädigungen – sie hält der Neurologe für klinisch wenig relevant. Von einem anderen Kaliber sind dagegen großflächige subpiale Läsionen: Sie beginnen direkt unterhalb der Pia mater und expandieren bis zur vierten Schicht der Großhirnrinde, wo sie in der Regel stoppen. „Selten dringen die Läsionen bis zur sechsten Schicht durch, und noch nie habe ich einen Übergang in die weiße Substanz gesehen“, so der MS-Forscher. Die Bluthirnschranke im Bereich solcher Läsionen scheint intakt zu sein, der Myelinabbau erfolgt weitgehend ohne hämatogene Leukozyten. Wie diese Läsionen entstehen, ist noch weitgehend unklar. Trapp geht aber davon aus, dass sie entscheidend zu kognitiven Problemen und Fatigue beitragen. Nun müssten endlich Methoden entwickelt werden, um kortikale Läsionen auch in vivo darzustellen, forderte der Wissenschaftler. Liegt es an der aktivierten Mikroglia? Es bleibt jedoch die Frage, was die Axone durchtrennt und die Nervenzellen tötet. Das Immunsystem greift die Nervenfortsätze nach bisherigen Erkenntnissen jedenfalls nicht direkt an, sondern verdaut primär das Myelin. Trapp vermutet, dass die inflammatorische Umgebung Nervenzellen mit freiliegenden Axonen zusetzt. In erster Linie stehen aktivierte Mikrogliazellen in Verdacht, mit reaktiven Sauerstoffverbindungen und Stickoxiden die Mitochondrien der Nervenfortsätze zu schädigen – sie wären demnach das „Missing Link“ zwischen Neuroinflammation und Neurodegeneration. Funktionierende Mitochondrien sind nötig, um den erhöhten Energiebedarf in demyelinisierten Axonen zu decken. Denn um die fehlende Myelinschicht funktionell zu ersetzen, bauen die Nervenzellen vermehrt Natriumkanäle in den entmarkten Bereichen ein. Damit lassen sich weiterhin Aktionspotenziale übertragen – wenn auch etwas langsamer als bei myelinisierten Axonen. Der Prozess kostet jedoch viel Energie: Die Natrium-Kalium-ATPase muss das Natrium schnell wieder aus dem Axon pumpen, damit es neue Aktionspotenziale weiterleiten kann. Die Zelle schickt daher vermehrt Mitochondrien in die Krisenregion. Je länger eine MS besteht, umso mehr Defekte haben die Zellkraftwerke jedoch – so waren die auffallendsten genetischen Veränderungen im Motorkortex von MS-Patienten diejenigen in der mitochondrialen DNA, erläuterte Trapp. Irgendwann – so die derzeit favorisierte Hypothese – lässt sich der Energiebedarf nicht mehr decken, die Natrium-Kalium-Pumpe lahmt, Natriumionen akkumulieren im Axon, und der Fortsatz kann keine Reize mehr weiterleiten. Wird eine bestimmte Natriumkonzentration überschritten, ändert zudem der Natrium-Kalzium-Austauscher seine Betriebsrichtung und lässt Kalziumionen ins Zytosol strömen. Das besiegelt das axonale Schicksal: Nun werden proteolytische Enzyme aktiviert, die Neurofilamente abbauen und das Axon an der jeweiligen Stelle zerstören. Einige Aspekte dieser Hypothese sind mittlerweile gut experimentell belegt, andere, wie die Bedeutung der Mikroglia, eher weniger. In das Bild passt jedoch, dass die eher diffusen Entzündungsprozesse bei progredienter MS primär durch Mikroglia und Makrophagen vermittelt werden. Solche Zellen könnten also durchaus die Neurodegeneration vorantreiben. Immerhin sollte sich die axonale Degeneration nach diesem Modell mit Natriumkanalblockern bremsen lassen. Sie können eine übermäßige Natriumansammlung im Axon verhindern. Tatsächlich ließ sich in einer Studie mit dem Antiepileptikum Phenytoin bei Optikusneuritis eine etwa 30 % höhere retinale Nervenfaserdicke erreichen als unter Placebo, was einen neuroprotektiven Effekt nahelegt (wir berichteten). Für Trapp jedenfalls bietet die MS eine gute Möglichkeit, Therapien gegen Neurodegeneration zu prüfen. „In der Alzheimerforschung werden Milliarden Dollar für Methoden ausgegeben, um Patienten früh im Krankheitsverlauf zu identifizieren. Bei MS haben wir solche Patienten jedoch schon im Frühstadium der Neurodegeneration.“

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