Alle nach den gleichen medizinischen Standards behandeln!

Damit auch Menschen ohne Papiere hierzulande ihr Recht auf Gesundheit bekommen, engagiert sich eine junge Ärztin seit Jahren für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen. Ein Interview mit Carlotta Conrad, Mitglied des Dresdner Medinetzes und Vorstandsmitglied der IPPNW Deutschland ("International Physicians for the Prevention of Nuclear War"). Carlotta Conrad, Assistenzärztin, Dresden privat × Frau Conrad, Sie stehen gerade am Anfang Ihrer beruflichen Laufbahn als Anästhesistin und setzen sich gleichzeitig schon seit Jahren für die medizinische Versorgung von Menschen ohne Papiere ein. Wie ist es dazu gekommen? Über das Medizinstudium! Ich bin damals neu nach Dresden gezogen und habe etwas Praktisches gesucht, das ich neben dem doch sehr theoretischen Studium noch machen kann. Die Mitarbeiter des Dresdner Medinetzes haben sich in der ersten Woche an der Uni vorgestellt. Es gibt in fast allen Unistädten ein Medinetz oder Medibüro – also Vereine, die sich um Menschen kümmern, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Das sind mittlerweile nicht mehr nur Menschen ohne Papiere, also sogenannte Illegale oder Illegalisierte, sondern auch viele Asylsuchende, die trotz Rechtsanspruch nicht den Weg zum Arzt finden. Mir hat diese Arbeit eingeleuchtet: Dem einzelnen Menschen im Hier und Jetzt dabei zu helfen, sein Recht zu bekommen, und gerade ein so wichtiges wie das auf medizinische Versorgung oder Gesundheit. Praktisch heißt das beispielsweise Gelder zu besorgen durch Benefizaktionen, aber auch die Menschen zu Ärzten zu begleiten, Dolmetscher zu organisieren, überhaupt Ärzte zu finden, die bereit sind, diese Menschen kostenlos und anonym zu behandeln. Welche Erlebnisse sind Ihnen dabei besonders positiv oder auch motivierend im Gedächtnis geblieben? Dazu gehört sicherlich, dass wir in Dresden viele schwangere Frauen ohne Papiere erfolgreich unterstützen konnten. Diese Frauen haben keinen Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen oder zu Hebammen, zu all diesen Strukturen, die wir für uns als so normal ansehen können. Mit der Hilfe von Gynäkologinnen, Hebammen und anderen haben wir wiederholt dazu beigetragen, dass ein Kind gesund auf die Welt kommt und auch die Mutter gesund ist. Und im Nachgang konnten wir mit Unterstützung von Rechtsanwältinnen bewirken, dass sowohl die Mutter als auch das Kind einen legalen Status bekommen. Das ist immer das Kritische bei anonymen Geburten: Wenn die Mutter abgeschoben werden soll, hat sie im Zweifelsfall keinen Beleg dafür, dass dieses Kind das ihre ist. Und die andere Seite? Wann hat man zum Beispiel das Gefühl, gegen Mauern zu rennen? Frustrierend sind immer chronische Erkrankungen, wie etwa chronische Rückenschmerzen. Mir fällt zum Beispiel ein Betroffener ein, den wir über Jahre kannten. Und dann trat plötzlich etwas Akutes auf, und es stellte sich die Frage nach einem Bandscheibenvorfall. Die Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern und Ärzten war dann auch wieder sehr positiv! Aber hinterher gestaltete es sich wie so häufig schwierig. Zum Beispiel bekommt man keinen Physiotherapieplatz. So viel Hilfe annehmen zu müssen ist den betroffenen Menschen auch oft so unangenehm, dass sie sich nicht mehr melden. Oder sie müssen untertauchen. Das Ganze ist schon sehr zäh. Es gelingt uns leider nicht gut, bei chronischen Erkrankungen eine Gesundheitsversorgung herzustellen. Über das Medinetz sind Sie dann auch zu der IPPNW und zum IPPNW-Arbeitskreis Flucht und Asyl gekommen. Richtig. Die praktische Arbeit im Medinetz hat mir lange viel Spaß gemacht und macht es auch immer noch. Hinzu kamen dann die großen politischen Fragen. Flüchtlingspolitik, Migrationsthemen, Medizinische Friedensarbeit. Dadurch bin ich immer weiter eingestiegen, war zunächst in der IPPNW-Studierendenschaft aktiv, zwei Jahre als Studierendensprecherin, und bin jetzt seit knapp drei Jahren im Vorstand der bundesweiten IPPNW. IPPNW-Arbeitskreis Flucht & Asyl Mehr über die IPPNW – "International Physicians for the Prevention of Nuclear War" – und den Arbeitskreis Flüchtlinge & Asyl lesen Sie hier! Der Arbeitskreis Flucht und Asyl ist ein überregionaler deutschlandweiter Arbeitskreis von lokal engagierten Ärzten, die sich unter dem Dach der IPPNW treffen und zu diesem Thema arbeiten. Momentan sind wir gut 15 Aktive, weit mehr auf der Mailingliste. Viele bringen ein hohes Maß an Expertise mit, sind vor Ort z.B. in einer Härtefallkommission oder beschäftigen sich speziell mit traumatisierten Flüchtlingen. Das ist aber nicht notwendig, so mancher kommt auch als Studenten dazu. Wir koordinieren in diesem Arbeitskreis Kampagnen, die wir als Verein machen wollen, oder Unterstützung, die wir bundesweit anbieten wollen. Wir tauschen uns aus, was läuft bundesweit, wo wollen wir ansetzen? Was können wir zur Unterstützung recherchieren oder veröffentlichen? Wo können wir auf bundesweiter Ebene Druck ausüben? Um welche Themen geht es dabei konkret? Etwa um das Thema Altersfestsetzung bei vor allem unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Daran hängt in Deutschland sehr viel: Wenn Sie über 18 sind, haben Sie kein Recht mehr, zur Schule zu gehen, bekommen erschwert Sprachkurse, haben nicht mehr diesen besonderen Schutz in der Betreuung, landen dann auch in den riesigen Erstaufnahmeeinrichtungen nur mit Erwachsenen und nicht in speziellen Einrichtungen für Jugendliche und Kinder. Herangezogen in dieser Frage wird häufig die radiologische Bestimmung des Knochenalters. Und hiergegen argumentieren wir mit vielen anderen Ärzten, dass medizinisch nicht indizierte Röntgen- und CT-Strahlung genutzt wird. Eine andere Methode der Altersfestsetzung ist die Inspektion der Genitalien. Das ist gerade auch für heranwachsende Männer entwürdigend. Auch die Berufsverbände der Kinder- und Jugendmediziner sprechen sich ganz entschieden dagegen aus, genauso wie es die Deutsche Bundesärztekammer in mehreren Tagungen getan hat. Und es wird dennoch weiterhin an sehr vielen Orten durchgeführt. Was könnte besser gemacht werden? Die Idee ist, dass Kinder- und Jugendmediziner nicht nur den Entwicklungsstand, sondern auch den Hilfebedarf eines jugendlichen Flüchtlings einschätzen. Dass man hierfür beispielsweise psychologische und endokrinologische Aspekte mit einbezieht, und nicht nur schaut, wie groß der Handwurzelknochen ist! Die Belege sind übrigens sehr unterschiedlich, ob Kinder ganz verschiedener Herkunft tatsächlich das gleiche Knochenwachstum haben. Wofür setzt der Arbeitskreis Flucht und Asyl sich noch ein? Ein anderes Thema sind die sogenannten „fit-to-fly“-Ärzte: Ärzte, die sich gegenüber den Behörden bereit erklären, bei Abschiebungen Flugbegleitungen zu machen, Reisefähigkeitsbescheinigungen auszustellen und Ähnliches. Da versuchen wir aufzuklären. Über die Rechte der Flüchtlinge, über die medizinischen Gründe, die man gegen eine Abschiebung anführen kann. Solche Gründe gibt es in vielen Fällen. In unseren Augen widerspricht es dem ärztlichen Ethos, wenn jemand in seiner Rolle als Arzt Abschiebungen begleitet und unterstützt. Und Ihre Meinung bzw. die Sichtweise der IPPNW zum Asylpaket II? Das Asylpaket II trifft ausgerechnet die verletzlichste Gruppe der Flüchtlinge. Für Kranke, Traumatisierte, Minderjährige oder andere schutzbedürftige Menschen sind die neuen beschleunigten Verfahren besonders katastrophal. Sie können mit dem neuen Gesetz leichter abgeschoben werden und haben keine Chance mehr auf ein faires Verfahren. Besonders skandalös ist, dass von Gesetzes wegen eine Vermutung besteht, "dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen". Dabei ist hinlänglich bekannt, dass gerade traumatisierte Menschen nicht beim ersten Kontakt alle Umstände erlittener Menschenrechtsverletzungen vorbringen können. Wenn es um die medizinische Versorgung von Flüchtlingen geht, kommt auch immer wieder das Asylbewerberleistungsgesetz ins Spiel. Das ist meiner Meinung nach eines der gravierendsten Probleme. Es regelt, welche medizinischen Leitungen übernommen werden und welche nicht und ist in Teilen sehr restriktiv. Außerdem glaube ich, dass es die Arbeit vieler Ärzte und Krankenhäuser vor Ort extrem erschwert. Wofür müssen Anträge gestellt werden, wofür werden die Kosten im Einzelfall übernommen? Welcher Flüchtling bekommt welchen Krankenschein? Das Ganze entbürokratisieren würde die Gesundheitskarte für Flüchtlinge, die es leider noch nicht bundesweit gibt. Die Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz liegt also deutlich unter der deutschen medizinischen Grundversorgung. Wir als Medinetz fordern, dass es diese Einschränkung nicht mehr geben soll. Idealerweise soll jeder, der hier ist, auch nach den gleichen Standards behandelt werden. Entgegen häufiger Befürchtungen würden die Kosten dadurch eher nicht steigen – sondern langfristig chronische Krankheiten und schlimmere Folgen verhindert werden. Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Birte Seiffert Infobox: Medizinische Friedensarbeit Was steckt hinter der Idee der medizinischen Friedensarbeit? „Ohne Gesundheit kann es keinen Frieden geben, ohne Frieden aber auch keine Gesundheit“, erklärt Carlotta Conrad die Sichtweise der IPPNW und vieler anderer Organisationen. „Das sind zwei Themen, die sehr nah zusammen hängen.“ Für interessierte Ärzte, Medizinstudenten und andere Mitarbeiter im Gesundheitswesen stehen seit 2011 sieben kostenlose Kurse zum Thema „Medical Peace Work“ im Internet zur Verfügung. Die Online-Kurse – bestehend aus E-book, E-case und Testfragen – wurden von der IPPNW gemeinsam mit verschiedenen europäischen Partnern entwickelt, und vermitteln Wissen über die Rolle von Gesundheitsarbeitern in Friedensarbeit. Inhaltlich geht es um Menschenrechte, strukturelle Gewalt, friedensfördernde Arbeit während und nach Kriegssituationen, Gewaltvorbeugung auf zwischenmenschlichem und persönlichem Niveau, Abrüstungsarbeit und (Atom-) Kriegsverhütung. Insbesondere für Studierende werden mittlerweile auch zwölf Fallstudien online angeboten. In Gruppen sollen die Teilnehmer einen fiktiven oder echten Fall analysieren, geeignete Informationsquellen finden, und schließlich Lösungen vergleichen, auswählen und umsetzen. „Es geht zum Beispiel um Folter, um den Klimawandel, Flüchtlingsmedizin oder Arbeitsbedingungen und gesundheitliche Probleme“, so Carlotta Conrad, die eine der Case-Studien mitverfasst hat. Internet-Links Online-Kurse „Medical Peace Work“: www.medicalpeacework.org/mpw-courses.html Case-Studien: www.medicalpeacework.org/teaching-resources/mpw-cases.html

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