Der Kinderarzt der Flüchtlinge

Überfüllt und unterversorgt: So fand Dr. Michael Osang im Juni 2014 die Zustände vor in der Bayernkaserne, Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in München. Bis zum November leitete der Kinderarzt mehrmals wöchentlich eine medizinische Sprechstunde in der Kaserne. Ein Einblick in seine Arbeit. Ein jugendlicher Eritreer sitzt auf der Behandlungsliege und schaut den deutschen Arzt fragend an. Der fasst an den Saum seines eigenen Pullovers und zieht ihn mehrmals ruckhaft nach oben. Der Junge versteht. Er nimmt seine Wollmütze vom Kopf und zieht seinen Kapuzenpullover aus. „FC Bayern München“ ist in großen Buchstaben auf die beiden Kleidungsstücke gedruckt. Der Arzt begutachtet nackten Oberkörper und Arme des FC-Bayern-Fans. An der Innenseite des Unterarms findet er ein Geschwür. „Aleppo-Beule“ lautet die Verdachtsdiagnose des Mediziners. Er schreibt etwas auf einen kleinen Zettel, drückt ihn dem Eritreer in die Hand und schickt ihn seinen Betreuer zu holen – ohne Worte, dafür mit ausladenden Gesten. „Kein Flüchtling wird freundlich aufgenommen“ Seit Anfang Juni leitet Dr. Michael Osang eine kinderärztliche Sprechstunde in der Bayernkaserne, eine von zwei Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende in Bayern. Bis zu fünf Mal in der Woche macht er das, in der Mittagspause oder nach Feierabend. „Kein Flüchtling wird freundlich aufgenommen“, stellt er nüchtern fest. Kurz nach seiner Geburt in den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges musste seine eigene Familie aus Schlesien fliehen. Das Gefühl, nicht willkommen zu sein, wirke bis heute nach. Nachdenklich blickt er ins Leere. Falten erscheinen auf seiner Stirn und um seine Augen. In solchen Momenten sieht man dem Mann mit den kurzen grauen Haaren – schon ein wenig licht und doch akkurat gestutzt – sein Alter an. Doch nicht sehr lange, dann dreht er wieder auf und die Zeichen des Alters sind wie verflogen. Von den Zuständen in der Kaserne hatte er aus den Medien gehört. Als er erfuhr, dass es keine medizinische Hilfe für die Flüchtlinge im Lager gab, war er entsetzt – und stellte die Sprechstunde auf die Beine. Die Impfstoffe, Medikamente und medizinischen Verbrauchsmaterialien dafür kommen aus seiner Praxis. Ebenso wie die Arzthelferinnen, die ihn in der Sprechstunde unterstützen. Von der Politik ist Osang enttäuscht. Viel zu lang sind die Verantwortlichen untätig geblieben, mit der Bürokratie hadert er. „Ich bin für die Kranken da!“ sagt er bestimmt. Die Helfer des Helfers Es ist schon fast dunkel, als Osang sich an diesem Herbstabend mit seinem Trupp von Helfern auf den Weg macht. Sie alle haben sich nach Feierabend in seiner Kinderarztpraxis in Freimann getroffen. Da ist Tatjana, seine Arzthelferin. Außerdem Theresa, eine Medizinstudentin, die ihr Blockpraktikum bei ihm absolviert hatte. Zum Übersetzen ist Karim dabei, der ursprünglich aus Ägypten stammt. „Der Vater eines Patienten“, erklärt Osang. Zum ersten Mal kommen zwei weitere Kinderärzte mit. Osang hatte Briefe an Kliniken geschrieben, um auf die Missstände in der Bayernkaserne aufmerksam zu machen. Die Kinderklinik der Münchner Universität lud ihn daraufhin ein, einen Vortrag vor der Belegschaft zu halten. Vierzig von den 60 anwesenden Ärzten erklärten sich spontan bereit zu helfen. Die zwei, die an diesem Abend zur Sprechstunde mitkommen, bilden die „Vorhut“, wie sie selbst sagen. Um mal zu schauen, wie das hier so funktioniere. Heidemannstraße 50 – kurz hinter dem Eingang in der Nähe des Securityhäuschens parken die Helfer. Die Behandlungsräume befinden sich in Haus 20, ein kleines einstöckiges Gebäude. Im Eingangsraum warten schon fast 30 Menschen. Viele davon stehen, die Sitzmöglichkeiten sind begrenzt: Eine Bierbank wurde aufgestellt, ein Bürostuhl hineingerollt. Es gibt zwei Behandlungsräume – Osang und seine Arzthelferin Tatjana nehmen den kleineren, die beiden Klinikärzte, das Stethoskop lässig über die Schultern geschwungen, gehen in den größeren. Tatjana setzt sich an den Schreibtisch und stellt einen Laptop auf. Der Kinderarzt rollt Papier aus, über der Krankenliege und der Polsterauflage auf einem der Tische. Er öffnet die Tür und ruft „Please, come on!“ in den Warteraum. Die Sprechstunde hat begonnen „Paper?“ fragt die junge blonde Arzthelferin, als ein Mann mit Krücken und seine Frau mit Kinderwagen und Baby auf dem Arm den Raum betreten. Um behandelt zu werden, brauchen die Patienten einen Krankenschein, den sie nach ihrer Registrierung ausgestellt bekommen. Doch die Behörden sind überlastet. Ohne Registrierung kein Krankenschein. Ohne Krankenschein kein Anrecht auf medizinische Behandlung. Osang sieht geflissentlich darüber hinweg. Die Krankenscheine, die sie dennoch bekommen, legt Tatjana sorgfältig ab. Ratlos kramt der Vater verschiedene Papiere aus der Tasche, in der Hoffnung, dass das richtige dabei ist. Da die Familie aus Syrien stammt, eilt Osang zum anderen Behandlungsraum, um Karim zum Übersetzen zu holen. Geduldig wartet die Familie auf die Rückkehr des Arztes. Der Vater holt seine kleine Tochter zu sich auf den Schoß. Sie waren bereits in der Sprechstunde. Das zehn Monate alte Mädchen hatte eine Mandelentzündung, Schnupfen und Fieber. Zufrieden sitzt sie nun auf dem Schoß ihres Vaters und schaut sich interessiert um. Ihre kleinen Finger umschließen das rote Stethoskop, das auf dem Schreibtisch liegt. Die Arzthelferin versucht es ihr zu entringen. Schließlich kommt Karim ins Zimmer – ständig wechselt er zwischen beiden Behandlungsräumen hin und her. Für die Kinder hat er immer ein Lächeln parat sowie Brausestäbchen und Schokobonbons. Manchmal pfeift er lustig, wie ein kleines Vögelchen. Mit seiner Hilfe gelingt es einen Zettel zu entziffern, in dem auf Arabisch die Impfungen vermerkt sind, die das Mädchen im Libanon erhalten hat. „Kein Fieber mehr“, stellt Osang fest, nachdem er die Temperatur gemessen hat. Er bereitet zwei Impfungen vor: Zwei schwungvolle Klapse auf den Po, zwei beherzte Stiche und es ist vorbei. Nicht mehr ganz so zufrieden findet die Kleine ihren Weg zurück auf den Schoß des Vaters. Ermutigend klopft Osang Vater und Mutter zum Abschied auf die Schulter. Vitamin D, Milchpulver und Kindershampoo, das bekommen sie noch mit auf den Weg – genau wie die anderen Familien. Manche fragen sogar danach. „Das hat sich anscheinend rumgesprochen“, vermutet der Kinderarzt und lacht. Der junge Eritreer mit der FC-Bayern-Mütze, den Osang geschickt hatte seinen Betreuer zu holen, kommt zurück. Neben dem Betreuer begleiten ihn seine Freunde, ebenso mit Fanartikeln ausgerüstet wie er. Einer der Jungs spricht Arabisch. Von ihm erfährt Karim, dass Bastian Schweinsteiger gestern in der Kaserne war. Stolz grinsend steht der Fanclub aufgereiht nebeneinander. Auch die Zeitung war da und hat Fotos gemacht. Sogar auf die Titelseite hätten sie es geschafft, weiß der Betreuer von seinen Schützlingen zu berichten. Ihm will Osang für den Jungen mit der Aleppo-Beule eine Überweisung an die dermatologische Klinik mitgeben. Die sind nun aber aus. Nach kurzem Überlegen rät der Arzt: „Einfach morgen wieder kommen.“ Hinweis Dr. Michael Osang leitete die kinderärztliche Sprechstunde in der Bayernkaserne ehrenamtlich von Juni bis November 2014. Seit November kümmert sich „Refudocs“, der „Verein für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und deren Kindern" im Auftrag der Regierung von Oberbayern um die Flüchtlinge in der Bayernkaserne. Dieses Interview zum Thema könnte Sie auch interessieren: „Flüchtlingskinder brauchen mehr als Notfallbehandlung!“

Live-Webinar: Aktuelle Leitlinien bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Springer Medizin

Der Kinderarzt der Flüchtlinge

Leitlinien kompakt für die Allgemeinmedizin

Facharzt-Training Allgemeinmedizin

Neu im Fachgebiet Allgemeinmedizin

Bei Senioren mit Prostatakarzinom auf Anämie achten!

Europäische Ernährungsgewohnheiten: Das sind die häufigsten Fehler

Ärztliche Empathie hilft gegen Rückenschmerzen

Demenzkranke durch Antipsychotika vielfach gefährdet

Update Allgemeinmedizin