"Der Tod ist keine Krankheit"

Was passiert, wenn junge Menschen die Chance erhalten, sich aktiv mit ihrer eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen? Dr. Christian Schulz, Palliativmediziner am Universitätsklinikum Düsseldorf, und Prof. Dr. Martin W. Schnell, Sozialphilosoph und Ethiker an der Universität Witten/Herdecke, haben sich genau dieser Frage angenommen. Aus ihren Überlegungen ging das Projekt „30 junge Menschen sprechen mit Sterbenden und ihren Angehörigen“ hervor. Junge Menschen setzten sich im Rahmen des Projektes mit der eigenen Endlichkeit auseinander. Sie diskutierten in Workshops darüber und führten Gespräche mit Sterbenden. Bei ihren Erfahrungen und Begegnungen wurden sie von einem Kamerateam begleitet. Aus den Aufzeichnungen entstand der Film „Berührungsängste“, der im Februar 2013 Premiere feierte. Das Projekt soll einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs über das Thema leisten. Springer Medizin sprach mit Professor Schnell. Herr Professor Schnell, der Film „Berührungsängste“ hatte kürzlich Premiere. Er basiert auf dem Projekt „30 junge Menschen sprechen mit Sterbenden und ihren Angehörigen“. Worum ging es bei diesem Projekt? Prof. Dr. Martin W. Schnell: Einerseits ist der Tod „in aller Munde“, andererseits sind Sterben und Tod hochinstitutionalisierte Angelegenheiten – alle wollen zu Hause sterben, aber kaum einer tut es – immer noch sterben sehr viele Menschen im Krankenhaus. Doch Tod und Lebensende sind keine „medizinischen“ Dinge – sie gehören nicht dem Arzt, sondern dem Menschen und sind Teil des Lebens, auch wenn der persönliche Kontakt mit Sterben abnimmt. Christian Schulz und ich haben uns überlegt, was passiert, wenn sich der Mensch darauf besinnt, dass er sterblich ist und ein Projekt entwickelt, in dem wir dieser Frage nachgingen. Dafür haben wir 30 junge Menschen ausgewählt, die nicht mit einer Krankheit vor Augen leben. Im Rahmen unseres Projekts sollten sie sich mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Wir sind davon ausgegangen, dass sie sich wirklich damit beschäftigen müssen, wenn sie einem Menschen begegnen, der am Lebensende steht und dem man das auch ansieht. Lesen Sie auch Gespräche mit Sterbenden Wieso haben Sie Menschen im Alter von 16—22 Jahren ausgesucht? Schnell: In diesem Alter ist die innere Auseinandersetzung besonders authentisch, weil die jungen Menschen gerade dabei sind in ihrem Leben etwas aufzubauen. Für sie geht es noch nicht so sehr um die Begrenzungen, die im Leben eine Rolle spielen – und die fernste Begrenzung ist ja der Tod. Nur wenige Teilnehmer hatten Erfahrungen mit sterbenden Angehörigen, ihre Großeltern waren meist kurz vor dem Rentenalter und ihre Eltern erst Ende 30. Was hat Sie dazu bewogen, aus den Begegnungen einen Film zu machen? Schnell: Bei „30 junge Menschen“ handelt es sich um ein Diskursprojekt. Wir wollten uns in diese Debatte über Lebensende und Tod einmischen, die wir seit einiger Zeit in Medien verfolgen können. Daher haben wir auf unsere Homepage Videoclips von Gesprächsausschnitten gestellt, die kommentiert werden können, und den Kinofilm „Berührungsängste“ produziert, den wir in verschiedenen Städten zeigen. Das ist sozusagen unser Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Einige der jungen Menschen berichteten von „Schlüsselmomenten“ in ihrem Gespräch, die sie noch lange begleitet haben. Was macht eine Begegnung mit jemandem, der an seinem Lebensende steht, so besonders? Schnell: Schon seit Elisabeth Kübler-Ross und auch durch unsere eigenen Forschungsprojekte über Patienten am Lebensende wissen wir, dass sich sterbende Menschen nicht aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen sehen möchten, sondern sich wünschen, so lange wie möglich am Leben teilzuhaben. Zudem geht es Sterbenden häufig darum, etwas mitzugeben und zu hinterlassen. Das zeigte sich auch während der Gespräche im Rahmen des Projektes. Für die jungen Menschen war dies dann beispielsweise ein Schlüsselmoment, der sie noch lange beschäftigte. Während eines Workshop-Wochenendes bereiteten sich die jungen Menschen auf ihr Gespräch mit einem sterbenden Menschen vor. Andy Schütz × Glauben sie, solche Schlüsselmomente wurden dadurch unterstützt, dass die Menschen am Lebensende standen? Schnell: Auf jeden Fall war es besonders, dass diese Menschen am Lebensende standen. Das Besondere ist die Unausweichlichkeit. Die ganz klare Unausweichlichkeit. Sie forschen und publizieren schon lange im Bereich Palliativmedizin. Hat Sie im Rahmen des Projektes etwas besonders überrascht oder berührt? Schnell: Berührt hat mich natürlich Vieles – wie die jungen Menschen sich vorher Gedanken gemacht haben, wie sie auf der Palliativstation oder im Hospiz auf und ab gegangen sind, wie sie mit sich ins Gericht gegangen sind, um sich auf das Gespräch vorzubereiten, um nur einiges zu nennen. Unter wissenschaftlichen Aspekten muss man klar sagen: die Begegnungen im Zeichen der Endlichkeit und des Sterbens sind vielfältig. Das ist immer wieder eine sehr wichtige Erkenntnis. Mediziner neigen dazu, durch Behandlungsleitlinien Dinge zu schematisieren. Auch im Medizinstudium wird Wissen über Krankheit häufig sehr schematisch vermittelt. Der Tod ist aber keine Krankheit. Deshalb stößt der Arzt notwendigerweise auf Grenzen, weil das Sterben die Medizin eigentlich gar nichts angeht – das Leben selbst ist beendet. Schaut man sich die Videoclips von den Gesprächen und natürlich auch den Kinofilm an, wird deutlich, wie vielfältig und unterschiedlich sich Sterben gestaltet. Ein junger Mensch thematisiert in seinem Gespräch, dass es wichtig ist, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen, man darüber aber vielleicht vergisst zu leben – wie kann man hier Balance finden? Schnell: Wenn man die Sache durchdringt, hat sie eben auch solche existentiellen Dimensionen. Natürlich ist es schwierig, nur in diesem Bewusstsein zu leben. Aber die totale Verdrängung ist auch ein Problem – in jedem Fall für professionelle Begleiter. Im Leben geht es darum etwas aufzubauen, mit dem Tod wird alles beendet. Sich zumindest damit auseinanderzusetzen, ist hilfreich und wichtig. Die Projektkoordinatoren: Prof. Dr. Martin W. Schnell (li.) und Dr. med. Christian Schulz.Das Projekt „30 junge Menschen“ ist eine Kooperation der Universität Witten/Herdecke und des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Es wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.Weitere Informationen unter: www.30jungemenschen.de Nicole Kesting × Planen Sie, das Projekt weiterzuführen? Als Diskursprojekt, das sich an die Öffentlichkeit wendet, geht es natürlich weiter. Unser Kinofilm soll nach Kräften öffentlich gezeigt und thematisiert werden – u.a. von Podiumsdiskussionen begleitet. Wir haben deutschlandweit bis Ende des Jahres eine Reihe von Veranstaltungen geplant. Über unsere Erfahrungen in diesem Projekt schreiben Christian Schulz und ich ein Buch. Zudem werten wir die Ergebnisse der Begleitforschung aus. Es wurde gefragt, wie sich die Einstellung und Haltung junger Menschen zur Endlichkeit ihres eigenen Lebens durch Gespräche mit einem Sterbenden und dessen Angehörigen verändert. Wir hoffen, erste Ergebnisse vor Weihnachten veröffentlichen zu können. Was können Mediziner durch das Projekt und von den jungen Menschen lernen? Schnell: Sie können das lernen, was wir als die Diversität des Lebensendes bezeichnen. Selbst die beste Form der medizinischen Begleitung hat es immer mit einem Phänomen zu tun, das nicht vollständig zu fassen ist. Denn die Medizin kann – selbst im besten Sinne gemeint und durchgeführt – nur in medizinischen Schemata etwas anbieten. Aber hier geht es nicht um Krankheit, sondern um etwas, das von Symptomen und Krankheit begleitet wird. Dieser Überschuss des Menschlichen über den Patienten hinaus muss Ärzten in einem ganz elementaren Sinne gegenwärtig gehalten werden. (Das Interview führte Dr. Kim Jené) Der Film „Berührungsängste“ wurde vom Medienprojekt Wuppertal produziert. Im Store des Medienprojekts kann er erworben werden. Termine zur Filmaufführung und den begleitenden Podiumsdiskussionen können bei Prof. Schnell unter Martin.Schnell@uni-wh.de erfragt werden.

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