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Erschienen in: Ethik in der Medizin 4/2013

Open Access 01.12.2013 | Aktuelles

Empfehlungen zum Umgang mit dem Wunsch nach SuizidhilfeArbeitsgruppe „Ethik am Lebensende“ in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM)

verfasst von: Dr. med. Gerald Neitzke, Dr. theol. Michael Coors, Dr. med. Wolf Diemer, Dr. jur. Peter Holtappels, PD Dr. med. Johann F. Spittler, Dr. med. Dietrich Wördehoff

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 4/2013

Hinweise
Arbeitsgruppen in der AEM sind offene Foren für den Austausch unterschiedlicher Standpunkte und Positionen. Der Inhalt der von ihnen veröffentlichten Beiträge wird allein von den genannten Autorinnen und Autoren verantwortet. Er repräsentiert nicht notwendigerweise die Meinung der AEM oder ihrer Organe. Die Empfehlungen wurden von den Autoren nach Beratungen der gesamten AG verfasst. Diese Empfehlungen werden von folgenden AG-Mitgliedern ebenfalls unterstützt: Carolin Arenz (Kassel), Hartmut Kreß (Bonn), Gita Neumann (Berlin), Arnd T. May (Halle), Frank Oehmichen (Kreischa), Wolfgang Putz (München), Werner Schweidtmann (Lippstadt).

Einleitung

Die Arbeitsgruppe „Ethik am Lebensende“ in der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) hat zwei Jahre intensiv soziale, rechtliche und ethische Fragen der Suizidhilfe diskutiert. Bewusst hat sich die AG dabei nicht auf die Frage des ärztlich assistierten Suizids beschränkt, sondern behandelt allgemein den Umgang mit der Bitte um Suizidhilfe, die an professionelle und ehrenamtliche Mitarbeiter1 im Gesundheitswesen oder an Angehörige gerichtet wird.
Die öffentliche Diskussion wird seit 2011 vor allem über den ärztlich assistierten Suizid geführt, angestoßen durch eine vorsichtige Liberalisierung der „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ und die folgende Änderung der Musterberufsordnung für Ärzte, die konträr dazu ein standesrechtliches Verbot der ärztlichen Suizidhilfe vorgibt.2 Dieses Verbot haben lediglich 9 der 17 Landesärztekammern gleichlautend übernommen (Stand: Januar 2013). Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2009 können sich unter bestimmten Bedingungen 37 % der Ärzte eine Unterstützung beim Suizid vorstellen.3
Moralische und rechtliche Fragen stellen sich aber nicht nur Ärzten, sondern in gleicher Weise auch Pflegekräften, Seelsorgern sowie Ehrenamtlichen z. B. in Hospizen. In welchem Rahmen Hilfe zum Suizid ethisch vertretbar ist, ist gesellschaftlich umstritten und bleibt auch innerhalb der AG „Ethik am Lebensende“ strittig. Konsens in der AG ist aber, dass Grenzfälle existieren, in denen eine individuelle Gewissensentscheidung gefordert ist. Die Breite der gesellschaftlichen Diskussion soll im Folgenden an einigen Schlaglichtern verdeutlicht werden.
Die Verbände und Gesellschaften der Hospiz- und Palliativbewegung (Deutscher Hospiz und PalliativVerband e. V. (DHPV), Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und European Association for Palliative Care (EAPC)) lehnen ärztliche Suizidhilfe ab4 und verweisen insbesondere darauf, dass die Alternativen hospizlicher und palliativer Begleitung im Sterben noch nicht hinreichend bekannt und ausgebaut sind.5 Die DGP fordert jedoch, auf eine berufsrechtliche Ächtung des ärztlich assistierten Suizids in begründeten Einzelfällen zu verzichten.6
Die katholische Kirche lehnt nicht nur die Suizidhilfe ab, sondern äußert sich grundsätzlich kritisch im Blick auf den Suizid, der als Verstoß gegen das Tötungsverbot begriffen wird.7 Die Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Thema kritisiert die Suizidhilfe, möchte diese aber unter Verweis auf den individuellen Gewissenskonflikt im Grenzfall nicht verurteilen. Aus sozialethischen Gründen spricht sich die EKD aber gegen eine Institutionalisierung der Suizidhilfe, insbesondere in Form von so genannten Sterbehilfeorganisationen, aus.8 Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), der auch die Gliedkirchen der EKD angehören, lehnt die Suizidhilfe hingegen ab, weil für sie trotz aller Unterschiede dieselben Argumente greifen, die auch gegen die Tötung auf Verlangen sprechen. Allerdings wird betont, dass die seelsorgliche und geistliche Begleitung durch Christen auch dort geschehen soll, wo der Wunsch nach Suizidhilfe ausgesprochen wurde.9
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) sieht den Arzt in einem ähnlichen Konfliktfeld: Auf der einen Seite sei die Suizidhilfe nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit. Auf der anderen Seite stehe der individuelle Respekt vor der Selbstbestimmung des leidenden Patienten.10 Der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) hat hingegen die Suizidhilfe durch Pflegende abgelehnt und verweist dafür vor allem auf sozialethische Gründe. Allerdings hätten Menschen, die Suizidwünsche äußern, nach wie vor Anspruch auf Pflege und Begleitung.11 Eine offizielle Positionierung der Pflegeberufe in Deutschland zu diesem Thema liegt bisher nicht vor.
Für eine Suizidhilfe treten insbesondere Sterbehilfeorganisationen wie in der Schweiz EXIT und DIGNITAS und in Deutschland SterbeHilfeDeutschland e. V. ein. Die wachsenden Mitgliederzahlen dieser Organisationen belegen einen gesellschaftlichen Diskussionsbedarf. Auch der 66. Deutsche Juristentag hat sich 2006 gegen eine Pönalisierung der Suizidhilfe ausgesprochen.
Die folgenden Empfehlungen ermutigen weder zum Suizid noch zur Hilfe beim Suizid. Sie tragen aber dem Umstand Rechnung, dass Wünsche nach Suizidhilfe geäußert werden und sich deshalb einzelne Personen, Berufsgruppen und die Gesellschaft insgesamt zu diesen Wünschen verhalten müssen. Die meisten Positionen zur Suizidhilfe verweisen auf das Vorliegen einer im Einzelfall zu bewertenden Konfliktsituation. Angehörige, Ärzte, Pflegekräfte, Seelsorger und ehrenamtliche Mitarbeiter sehen sich in unterschiedlichen Verantwortungsverhältnissen – gegenüber dem leidenden Patienten, den Familien, ihrem Berufstand, der Gesellschaft oder Gott –, die in einer individuellen Gewissensentscheidung gegeneinander abzuwägen sind. Eine solche Gewissensentscheidung muss nach Überzeugung der Arbeitsgruppe sorgfältig geprüft und so gut wie möglich ethisch begründet sein, um vor sich selbst und nach außen verantwortet werden zu können. In diesem Sinne sollen die im Folgenden vorgelegten Fragen und Überlegungen zu einer Gewissensprüfung beitragen. Sie bieten keine fertigen Antworten, sondern stellen Kriterien zur Strukturierung der je eigenen Urteilsbildung dar.

Suizid: Definitionen und Differenzierungen

Definitionen

Der Suizidversuch ist eine selbst verursachte bzw. veranlasste selbstschädigende Handlung eines Menschen mit der Absicht, sein eigenes Leben zu beenden. Der Suizidversuch kann überlebt oder als Suizid vollendet werden. Die meisten Suizidversuche müssen als Zeichen einer Hilf- und/oder Perspektivlosigkeit des Suizidenten verstanden werden. Die große Mehrzahl der Suizidversuche bzw. Suizide wird allein ausgeführt und kann als „einsamer Suizid“ bezeichnet werden. Dem kann der Suizid mit helfender Beteiligung eines anderen als „assistierter Suizid“ gegenübergestellt werden.

Abgrenzungen

Auch eine auf Wunsch des Patienten durchgeführte Therapiebegrenzung kann zu einem selbstverfügten und selbstverantworteten Sterben führen. Sie stellt aber keinen Suizidversuch dar. Jeder entscheidungsfähige Mensch hat das Recht, auf medizinische Behandlung zu verzichten oder bereits durchgeführte Maßnahmen beenden zu lassen. Dies gilt auch dann, wenn damit ein sicherer Eintritt des Todes verbunden ist. Daher ist in diesen Fällen eine Akzeptanz der Entscheidung und Begleitung des Sterbenden nicht nur erlaubt, sondern moralisch geboten.
Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), also der Verzicht auf natürliche Ernährung, die nicht durch medizinische Maßnahmen (Sonden etc.) zugeführt wird, stellt ebenfalls eine individuelle Entscheidung dar, die zum Tode führen kann. Der FVNF wird mitunter als eine Methode der Selbsttötung vorgeschlagen, die von der Hilfe durch weitere Personen unabhängig ist. Es kann hier also sowohl ein Einverständnis mit dem natürlicherweise herannahenden Lebensende als auch eine dezidierte Suizidabsicht vorliegen. Demnach kann der FVNF sowohl unter dem Aspekt der Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen als auch unter dem Aspekt der Suizidhilfe diskutiert werden. Ungeachtet der Zuordnung im Einzelfall wird dafür plädiert, auch für die Hilfe beim FVNF dieselben Entscheidungskriterien anzuwenden, die hier für die Suizidhilfe erarbeitet werden.

Häufigkeit und Methoden von Suiziden

In Deutschland sterben laut Statistischem Bundesamt jährlich ca. 11,5/100.000 Männer und 6/100.000 Frauen durch Suizid. Die Anzahl von Suizidversuchen ist nicht zuverlässig erfasst, liegt aber etwa um den Faktor 5 (Männer) bzw. 20 (Frauen) höher. Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass die überwiegende Zahl der Suizide und Suizidversuche unter dem Einfluss einer psychischen Störung erfolgt. Sie sind deshalb nicht oder nur eingeschränkt als freiverantwortliche Suizide zu betrachten.

Normativ bedeutsame Aspekte einer (möglichen) Klassifizierung

In vielen klassischen Untersuchungen werden die folgenden Unterscheidungen vorgenommen, die verschiedene Suizidgruppen beschreiben und auch für eine normative Bewertung hilfreich sind:
  • Der Appell-Suizid: Dieser ist dadurch charakterisiert, dass in einer aktuellen Lebensproblematik keine Aussprache- oder Verarbeitungsmöglichkeit gesehen, aber eigentlich eher ein Hilfsangebot gesucht wird. Der Wille, mit der suizidalen Handlung ein Versterben zu erreichen, ist nicht definitiv, sondern bedingt.
  • Derimpulsiv reaktive Suizid: Dieser ist dadurch charakterisiert, dass der angenommene Anlass erst kurz zurückliegt oder dass der Entschluss zum Suizid nicht als wohlerwogen gilt (geringe Frustrationstoleranz, z. B. „Liebeskummer“; evtl. auch Gruppensuizide).
  • Parasuizidale Handlungen: Bei parasuizidalen Handlungen werden Selbstschädigungen gesetzt, z. B. oberflächliche Ritzungen über dem Handgelenk, bei denen probiert wird, wie groß der ausgelöste Schmerz ist. Mit der parasuizidalen Handlung ist ein Ausprobieren beabsichtigt, meist ohne Risiko des Versterbens und ohne die Absicht der Selbsttötung.
  • Der Bilanz-Suizid: Dieser ist dadurch charakterisiert, dass die aktuelle Lebensproblematik in einer eingehenden Überlegung als endgültig und nicht auflösbar eingeschätzt wird. Der Wille, mit der suizidalen Handlung ein Versterben zu erreichen, ist definitiv und wohlerwogen.

Ambivalenz/Ambitendenz: Gründe, Motive, Absichten

Man wird dem Verständnis suizidaler Handlungen nicht gerecht, wenn man Appell- und Bilanz-Motivation als sich gegenseitig ausschließend betrachtet. Bei den meisten Appell-Suizidversuchen ist eine bedingte Absicht des tatsächlichen Versterbens eingeschlossen. Auch beim sehr weitgehend durchdachten Bilanz-Suizid ist eine Ambivalenz der Lebensbeendigungsabsicht vorzufinden.
Außerdem sind die im Gespräch vorgebrachten Gründe, Motive oder Absichten oft nicht mit den tatsächlich maßgeblichen Gründen und diese wiederum häufig nicht mit den oft uneingestandenen Motiven deckungsgleich. In der Auseinandersetzung mit Menschen mit Suizidwünschen ist deshalb möglichst zu hinterfragen, ob die vorgebrachten Argumente den tatsächlichen Gründen entsprechen und welche möglicherweise dahinter stehenden, vielleicht unbewussten, Motive für die Entscheidung eine Rolle spielen.

Beihilfe, Hilfeleistung und Begleitung: Definitionen und Differenzierungen

Juristische Aspekte

Beihilfe ist ein juristischer Terminus. Beihilfe kann nur bestraft werden, wenn die Tat selbst strafbar ist. Die Selbsttötung ist nach geltendem deutschen Recht nicht strafbar. Deshalb ist die Hilfe bei der Selbsttötung ebenfalls grundsätzlich nicht strafbar.
Bei Straftaten liegt eine Beteiligung im juristischen Sinne vor, wenn der Teilnehmende den Täter zu der Straftat angestiftet oder ihm dabei geholfen hat (§§ 26, 27 StGB). Die Beihilfe zum Suizid ist in Deutschland nur dann straflos, wenn der Helfende die Grenzen von Hilfe nicht überschreitet, er also insbesondere keinen Tatbeitrag bei der Suizidhandlung leistet und nicht die intellektuelle oder emotionale Herrschaft über das Geschehen übernimmt (Tatherrschaft). Im Rahmen dieser Empfehlungen wird der allgemeinere Begriff Suizidhilfe verwendet, um nicht auf das engere juristische Konzept von Beihilfe beschränkt zu sein.
Hilfeleistungspflicht besteht in Notlagen zunächst für jeden Menschen. Auch nach einem Suizidversuch besteht die Pflicht, Leben zu retten und Hilfe zu leisten. Wenn der Suizid jedoch eindeutig freiverantwortlich geschieht, stellt die Lebensrettung aus Sicht der sterbewilligen Person keine Hilfe in einer Notlage dar. Wenn also bekannt ist, dass die Entscheidung zum Suizid nach rationaler Abwägung des Für und Wider erfolgte, kann keine Pflicht zur Lebensrettung bestehen.
Eine Garantenstellung umfasst eine besondere Verpflichtung, Hilfe zu leisten. Wer durch seine soziale oder professionelle Rolle eine besondere Schutzverpflichtung und Verantwortung gegenüber einem bestimmten Personenkreis hat, ist für diesen in besonderem Maße hilfeleistungspflichtig. Da aber wie oben dargelegt in bestimmten Ausnahmefällen die Lebensrettung keine Hilfe darstellt, muss sich in diesen Fällen auch die Garantenpflicht auf das Respektieren der autonomen Gesamtpersönlichkeit und nicht auf die Lebensrettung entgegen dem freien Willen des Sterbewilligen beziehen.

Wer und wo wird um Suizidhilfe gebeten?

Um Suizidhilfe werden insbesondere Angehörige, Ärzte, Pflegende und Organisationen/Vereine gebeten. Hinsichtlich der genannten Gruppen ergeben sich Unterschiede bei Art und Umfang von Präventions- und Rettungsbemühungen sowie möglichen Arten der Suizidhilfe. Darüber hinaus werden sich je nach angefragtem Personenkreis die Gründe und Motive für eine Suizidhilfe unterscheiden. Eine mögliche Suizidhilfe kann bei den Anfragenden zu Hause, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder Hospiz erfolgen. Aus der jeweiligen sozialen Rolle der um Suizidhilfe gebetenen Person kann eine spezifische ethische Verantwortung resultieren (vgl. VI.2 und VI.3).

Suizidhilfe zu Hause

In der größeren Zahl wird sich die Frage nach einer Suizidhilfe und -begleitung in der häuslichen Umgebung stellen.
Bei allein lebenden Menschen kommt es darauf an, ob diese ihre Angehörigen oder Bezugspersonen informieren oder dies vermeiden wollen. Wenn der Suizid nicht aufgedeckt wird und als natürlicher Tod erscheint, ist die Situation für Nahestehende oft weniger problematisch. Wenn die Tatsache des Suizids bekannt wird, bedeutet der Ausschluss der Nahestehenden u. U. eine schwer zu bewältigende Kränkung. In solchen Fällen ergibt sich für den Begleiter/Helfer der Konflikt, entweder die Bitte um Suizidhilfe unter diesen Umständen abzulehnen, oder die Schweigepflicht zu brechen, oder die Kränkung von Nahestehenden zu akzeptieren und eventuell deren massive Vorwürfe auf sich zu nehmen.
Bei Sterbewilligen, die in Gemeinschaft leben, ist zunächst das Einverständnis der gemeinsam Lebenden zu prüfen. Der Suizid kann als sehr belastende, aber auch als überzeugende und sinnvolle Tat erlebt werden. Falls eine Einbeziehung der Nahestehenden nachdrücklich abgelehnt wird, kann der begleitete Suizid nur in Abwesenheit der Nahestehenden oder außerhalb an einem neutralen Ort durchgeführt werden. Hieraus können neue konfliktträchtige Situationen entstehen, wenn beispielsweise der Leichnam nach dem Suizid aufgefunden wird.

Suizidhilfe in stationären Einrichtungen

In Einrichtungen der Altenpflege und in Hospizen sind in jedem Fall die professionellen ethischen Grundhaltungen der Pflegenden und Betreuenden sowie die ethischen Vorgaben der Einrichtung insgesamt zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist in Wohn- und Pflegeeinrichtungen eine Suizidhilfe durch Mitarbeiter, Angehörige, Ärzte oder Organisationen denkbar. Wenn dies heimlich geschieht, sind erhebliche Konflikte zu erwarten. Eine offene Haltung zu Suizidhilfe widerspricht andererseits in der Regel den professionellen und institutionellen ethischen Grundhaltungen. Eine Verlegung an einen anderen Ort kann diese Probleme abschwächen.
Das Krankenhaus ist kein geeigneter Ort für eine Suizidhilfe, weil die gesamte Organisationsstruktur auf Heilung und Leidensminderung ausgerichtet ist. Deshalb ist ein Sterbewilliger zunächst über die Optionen eines selbstbestimmten Sterbens durch Therapiezieländerung, Therapiebegrenzung und palliativmedizinische Angebote bis zur Sedierung aufzuklären. Wenn in Einzelfällen der freiverantwortliche Suizidwunsch fortbesteht, ist zunächst das gesamte Behandlungsteam einzubeziehen. Um nicht in Konflikt mit dem Ethos der beteiligten Professionen und den institutionellen Vorgaben der Klinik zu geraten, sollten alternative Orte für einen Suizid geprüft werden. Eine strukturierte Ethikberatung kann das Team bei der Entscheidungsfindung sinnvoll unterstützen.

Formen der Suizidhilfe

Eine „Hilfe zum Suizid“ ist in vielfältiger Weise möglich. Bei der Vorbereitung kann ein psychiatrisches Gutachten erbeten werden. Die Hilfe kann sich auf die Beratung über Medikamente und Suizidarten, das Ausstellen eines Rezepts, oder als konkrete Hilfe bei der Anwendung, Zubereitung und Anreichung der tödlich wirkenden Substanz/Maßnahme beziehen. Dazu kommen die Begleitung und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung.
Daneben kann auch ein Nichthandeln, also Unterlassen, eine Hilfe bei der Durchführung eines Suizids darstellen. Angehörige, die keine Bedenken gegen die geplante Tat äußern oder nicht auf Therapie- und Betreuungsangebote hinweisen, Pflegekräfte, die bei der Einnahme tödlicher Substanzen nicht einschreiten, Bezugspersonen, die den Notarzt nicht alarmieren, oder Ärzte, die keine Reanimation durchführen, leisten Hilfe bei der Durchführung des Suizids.
Neben der „Hilfe zum Suizid“ erscheint auch eine Suizidhilfe als bloße Begleitung denkbar. Dies könnte als „Hilfe beim Suizid“ bezeichnet werden. Eine solche Begleitung würde sich dadurch auszeichnen, dass der Begleiter nicht aktiv, körperlich handelnd einschreitet, sondern dem Betroffenen nur bei seinen Überlegungen und der darauf folgenden Umsetzung zur Seite steht. Damit ist nicht immer die eigene Zustimmung zum Suizid verbunden, die Entscheidung zur Hilfe kann auch aus der faktischen Unmöglichkeit resultieren, den Suizid zu verhindern. Diese „Hilfe beim Suizid“ schließt eine Nicht-Rettung ein. Ein solches Unterlassen wurde allerdings bereits als eine Form der „Hilfe zum Suizid“ dargestellt, so dass die beiden Begriffe juristisch vor dem Hintergrund einer möglicherweise unterlassenen Hilfeleistung schwer zu trennen sein dürften. Für die Begleiter selbst aber kann sich eine nicht-unterstützende Anwesenheit, die keine bestärkenden Auswirkungen auf den Betroffenen hat, als bloße Begleitung darstellen.

Motive von Hilfeleistenden

Auch auf Seiten der Helfenden sollten Motive, Beweggründe und Intentionen (selbst-)kritisch reflektiert werden: Es gibt lautere und unlautere Motive, die für eine Suizidhilfe sprechen. Es gibt berechtigte und ungerechtfertigte Motive, die gegen die Suizidhilfe sprechen. Oft wird eine Mischung von Motiven vorliegen, die in ihrer Ambivalenz gegeneinander abgewogen werden sollten.
Rein altruistische Motive sind darauf gerichtet, das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen so gut wie möglich zu achten. Dabei wird der Bewertung des Lebens aus Sicht des Sterbewilligen gefolgt. Auch Mitleid ist ein mögliches Motiv von Helfenden: Dabei wird das Leid des Sterbewilligen zumindest partiell selbst übernommen. Daraus entsteht das Einverständnis, dass der Suizidwillige sich von bestehendem oder drohendem Leid befreit.
Aber auch Eigeninteressen können zu den Motiven von Suizidhelfern gehören: Denkbar sind eigene wirtschaftliche Interessen (z. B. Erbe, Honorare für Suizidhilfe), das Abwenden von finanziellen Nachteilen (z. B. hohe Pflegekosten) oder die eigene Unfähigkeit, das Leid des Suizidwilligen zu sehen und zu ertragen.

Kriterien der Bewertung

Im Folgenden werden normativ und evaluativ relevante Unterscheidungen im Blick auf den Wunsch nach Suizidhilfe dargestellt. Wie diese Unterscheidungen ethisch bewertet werden können, wird in Abschnitt VI erläutert.

Lebenssituationen

Die zugrunde liegenden Motive und Gründe von Suizidversuchen, Suiziden und Wünschen nach Suizidhilfe sind in verschiedenen Lebensaltern zwar unterschiedlich, aber nicht eindeutig abgrenzbar, so dass hier nur Tendenzen beschrieben werden können. Grob vereinfachend lassen sich folgende vier Gruppen unterscheiden:
  • Suizidversuche/Suizide bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen
    In diesem Alter spielen kränkende Konfliktsituationen vor dem Hintergrund einer noch unzureichend stabilisierter Persönlichkeit eine wesentliche Rolle. Hier besteht eine unbestreitbare und dringliche Therapieindikation.
  • Suizidversuche/Suizide im mittleren Lebensalter
    Einsame Suizide werden in als aussichtslos erlebten Lebenssituationen (z. B. Partnerschaftskonflikte, Partnerverlust, wirtschaftliche Krisen) oder bei psychischer Erkrankung (z. B. Schizophrenie, Major-Depressionen) unternommen. Suizidhilfewünsche im mittleren Lebensalter werden vorwiegend bei lebensbedrohenden oder chronisch fortschreitenden, unerträglich gewordenen Erkrankungen (z. B. Malignome, Amyotrophe Lateralsklerose) geäußert.
  • Suizidversuche/Suizide im höheren Lebensalter
    Wesentliche Gründe sowohl für einsame Alterssuizide als auch Suizidhilfewünsche sind einerseits Erfahrungen mit der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers durch Krankheiten, andererseits die klare Erkenntnis der Lebensneige (Abnehmen der körperlichen Kräfte und der noch zu erwartenden Lebensgestaltungs-Möglichkeiten) und schließlich menschliche Verluste und Vereinsamungssituationen.
  • Suizidversuche/Suizide bei körperlicher Erkrankung
    Unabhängig vom Alter wollen Menschen mit schweren Erkrankungen wie z. B. Querschnittslähmung oder Krebsleiden gelegentlich den weiteren absehbaren Verlauf mit schweren körperlichen Symptomen oder auch Abhängigkeit von Anderen nicht aushalten und ziehen deshalb einen Suizid in Erwägung.
Jeder Suizid hat Auswirkungen auf das soziale Umfeld: Er kann Schuldgefühle bei Angehörigen oder Freunden hinterlassen oder als Akt der Aggression erlebt werden. Die Entscheidung zum Suizid betrifft immer auch das Leben anderer Menschen. Darum ist auch das soziale Umfeld in die ethischen Abwägungen einzubeziehen.
Suizidwillige können vereinsamte Menschen sein, die aber oft auch Angehörige haben: Lebenspartner, Kinder, Eltern. Diese können über die Suizidabsichten informiert sein oder nicht, und sie können damit einverstanden sein oder nicht. Unter Umständen enthalten sie sich auch einer klaren Positionierung.
Ob Menschen einer Kirche oder anderen (religiösen) Gemeinschaften angehören, kann ebenfalls ein relevanter Aspekt sein. Unter Umständen werden religiöse Autoritäten respektiert oder es sind religiöse Gebräuche und Riten zu beachten. In vielen Religionen ist der Suizid moralisch stigmatisiert oder negativ bewertet. Entsprechend kann der Suizid eines Menschen bei Angehörigen und Freunden religiöse und moralische Schuldgefühle auslösen.

Suizid-Absicht und Psychopathologie

Jeder kommunizierte Wunsch zu sterben erfordert eine psychopathologische Einschätzung: Ist der Suizidwunsch Ausdruck einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung? Hier müssen verschiedene psychische Beeinträchtigungen unterschieden werden. Dabei ist die Frage nach der psychopathologischen Einschätzung unabhängig vom Vorliegen einer körperlichen Krankheit relevant: Auch ein körperlich schwer erkrankter Mensch kann zusätzlich an einer die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigenden psychischen Störung leiden.
In der Suizid-Prävention und Suizid-Therapie wird teilweise die Vorstellung vertreten, dass bei praktisch jeder Suizidhandlung eine depressive Verstimmung eine maßgebliche Rolle spiele. Dies dürfte für die große Mehrzahl der einsamen Suizidversuche zutreffen. Auch wenn Menschen um Suizidhilfe nachsuchen, muss die Frage einer relevanten Psychopathologie für jeden Einzelfall überprüft werden, um eine differenzierte Einschätzung der Freiverantwortlichkeit zu erhalten. Zu unterscheiden sind:
a.
Depressive Störungen: Sie sind grundsätzlich behandlungsbedürftig. Sowohl bei chronifizierten schweren Depressionen als auch bei rezidivierenden Depressionen kann jedoch eine realistische Selbsteinschätzung des bisherigen Krankheits- und Therapieverlaufes erhalten sein, so dass einem Wunsch nach Suizidhilfe nicht automatisch die Freiverantwortlichkeit abgesprochen werden darf.
 
b.
Persönlichkeitsstörungen und schizophrene Erkrankungen: Hier gelten grundsätzlich die gleichen Erwägungen wie unter a). Es gibt Menschen mit extrem behindernden und sozial desintegrierenden Persönlichkeitsstörungen oder mit mehr oder weniger remittierten Schizophrenien, die häufig vieljährige psychiatrische und/oder psychotherapeutische Therapien und deren Erfolglosigkeit erlebt haben.
 
c.
Andere, z. B. situativ ausgelöste depressive Verstimmungen: Sie bedürfen ebenfalls einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Therapie. Wenn in diesen Fällen ein Wunsch nach Suizidhilfe geäußert wird, finden sich typischerweise langfristig bestehende, u. U. chronifizierte und fixierte depressive Verstimmungen, die durch nicht weiter therapeutisch beeinflussbare (therapierefraktäre) chronische oder progrediente körperliche Krankheitsbilder oder psychische Störungen unterhalten werden.
 
d.
In anderen Fällen können Menschen mit einem Wunsch nach Suizidhilfe – beispielsweise angesichts einer die Lebenserwartung reduzierenden Grunderkrankung – durchaus sehr ernst und traurig gestimmt sein, aber eine erhaltene Modulation ihrer Gestimmtheit und eine lebendige affektive Schwingungsfähigkeit aufweisen, so dass nach den gängigen psychopathologischen Kriterien keine (krankheitswertige) depressive Störung festzustellen ist.
 
e.
Eine besondere Schwierigkeit für die psychiatrische Beurteilung bietet die sich abzeichnende demenzielle Entwicklung. Sofern erst geringe Störungen des kurzzeitigen Behaltens vorliegen, kann die selbstkritische Urteilsfähigkeit noch erhalten sein. Wenn diese jedoch schon eindeutig beeinträchtigt ist, wird die Frage der selbstbestimmten Willensbildung und der Urteilsfähigkeit eher zu verneinen sein.
 
Aus psychiatrischer Sicht gibt es bei allen genannten Zuständen Zuordnungs- und Abgrenzungsprobleme. Die Zustände sind nicht trennscharf und können kontrovers beurteilt und bewertet werden.

Freiverantwortlichkeit

Für die ethische Beurteilung der Suizidhilfe spielen neben dem eigentätigen Handeln die Entscheidungsfreiheit und die hinreichende Urteilsfähigkeit des Suizidenten die entscheidende Rolle. Zunächst wird die Diskussion um menschliche Freiheit und Autonomie angesprochen, danach werden Kriterien zur Überprüfung von Freiverantwortlichkeit benannt.

Willens- und Entscheidungsfreiheit

Das Problem der Freiheit des Willens wird seit Jahrtausenden in Philosophie und Theologie diskutiert. Die Frage der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, d. h. der Freiheit, zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu wählen, ist ein Aspekt dieser Diskussion. Zu diesem Aspekt haben Psychologie und Psychiatrie vor allem in forensischer Hinsicht wesentliche Aussagen zu machen. Unser soziales und juristisches System fußt auf der Grundannahme, dass alle Bürger für ihre individuellen Entscheidungen verantwortlich sind. Darum müssen sie als Menschen behandelt werden, die prima facie in ihren Entscheidungen frei sind. Der Begriff der Entscheidungsfreiheit legt den Akzent also auf die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Darum ist die entscheidende Frage im Blick auf einen Suizidwunsch die Frage nach der Freiverantwortlichkeit. Das Wissen darum allerdings, dass eine große Zahl der vollzogenen Suizide einen pathologischen Hintergrund hat und darum zumindest mit eingeschränkter Entscheidungsfreiheit erfolgte, macht es notwendig, die Frage nach der Freiverantwortlichkeit eines Suizidwunsches kritisch zu stellen.

Selbstbestimmung

Der Begriff der Selbstbestimmung (Autonomie) legt den Akzent auf die Freiheit von Fremdbestimmung und Fremdbeeinflussung (Heteronomie). Es entspricht der Alltagserfahrung, dass Menschen in sehr unterschiedlichem Maße von der Meinung oder dem Zureden anderer Menschen abhängig sind (von weitreichender, freiwilliger Unterordnung und Anpassung bis zu fast rücksichtslos autonomen Entscheidungen).
Wie viel Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse, Empfindungen und Einschätzung der sozialen Umgebung ist moralisch einzufordern? Dabei ist zu berücksichtigen, dass Selbstbestimmung immer durch soziale Kontexte ermöglicht wird, und somit immer Antwortcharakter hat: Selbstbestimmung ist immer relational verfasst, niemals absolut.
Wie weit darf die Rücksichtnahme andererseits reichen, ohne dass die Selbstbestimmtheit des Suizidwunsches abgesprochen werden muss? Einige Menschen mit dem Wunsch nach Suizidhilfe artikulieren sehr deutlich, dass sie ihre Angehörigen mit einer möglicherweise eintretenden Pflegebedürftigkeit – einschließlich der finanziellen Konsequenzen – nicht belasten wollen. Hier muss im Einzelfall geprüft werden, ob die vorgetragene altruistische Begründung möglicherweise doch als moralisch unzulässiger Druck auf die autonome Entscheidung gewertet werden muss.

Kriterien zur Überprüfung der Freiverantwortlichkeit eines Suizidwunsches

Die drei aufgelisteten Kriterien erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, stellen aber die bei der Begutachtung regelmäßig genannten und geforderten Kriterien dar:
a.
Einsichts- und Urteilsfähigkeit: Dieses Kriterium sollte zumindest im Zweifelsfall mittels psychologischer oder psychiatrischer Expertise beurteilt werden. Eine Beurteilung wird in Fällen akuter oder frisch bestehender psychischer Störungen und bei Fällen sehr klarer Lebensrück- und -vorausschau in hohem Lebensalter unproblematisch sein. Problematisch sind diejenigen Fälle, in denen ein krankheitswertiges Drängen zum Suizid gleichzeitig mit einer weitgehend realistischen Einsicht über den bisherigen Verlauf und die zukünftigen Lebens- und Behandlungschancen zu beobachten ist. Bei hinreichender Erfahrung und eingehender Untersuchung lässt sich in der Regel eine weitgehend verlässliche Einschätzung vornehmen. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Untersuchung und Beurteilung der Urteilsfähigkeit als Schritte in einem gedanklichen Prozess ihrerseits Einfluss auf die Entwicklung des Suizidwunsches nehmen können. Auch dieses Dilemma wird in einzelnen Fällen unauflösbar sein, so dass die Entscheidung über die Einsichts- und Urteilsfähigkeit problematisch und belastend bleibt.
 
b.
Wohlerwogenheit: Wurden alternative Handlungsoptionen und sowohl Argumente für als auch gegen den Suizid bei der Entscheidung in Betracht gezogen? In der Einschätzung der Wohlerwogenheit werden die Bewertungen und Abwägungen des Suizidwilligen vor dem Hintergrund seiner Biographie ernst genommen. Geprüft wird vor allem der Prozess und weniger das Ergebnis der Abwägung. Wohlerwogenheit ist in diesem Sinne kein vollständig objektivierbares Kriterium.
 
c.
Dauerhaftigkeit: Die Dauerhaftigkeit eines Suizidwunsches kann nicht positiv bewiesen werden. Entscheidend ist, ob es begründeten, vernünftigen Zweifel an der Dauerhaftigkeit gibt. Dabei wird man in unterschiedlichen Situationen (z. B. bei weit fortgeschrittener Erkrankung) auch unterschiedliche Anforderungen an die Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches stellen.
 

Suizidprävention

Prävention hat Vorrang

Suizidhilfe ist nicht zu rechtfertigen, solange nicht alle sinnvollen Möglichkeiten der Suizidprävention ausgeschöpft sind. Deshalb muss die Prävention jeder Suizidhilfe vorausgehen. Eine wirksame Suizidprävention kann bei einem freiverantwortlichen Suizidwunsch nicht ohne intensive Gespräche erreicht werden. Dazu ist eine Enttabuisierung des Themas erforderlich. Vorurteile oder Vorverurteilungen in Bezug auf Suizidwünsche verhindern wirksame Prävention und eine Sensibilität für direkte, indirekte oder versteckte Ankündigungen eines Suizids.

Prävention durch ergebnisoffene Gespräche

Eine Voraussetzung für wirksame Prävention ist das Vertrauen des suizidwilligen Menschen. Deshalb ist es unverzichtbar, ergebnisoffene Gespräche anzubieten. Ergebnisoffenheit bedeutet zunächst vor allem, dass einer Person die suizidalen Absichten nicht „ausgeredet“ werden. Nur so besteht die Chance, mit Menschen in einer möglicherweise verengten, isolierten und ausweglos erscheinenden Situation in ein vertrauensvolles Gespräch einzutreten. Dies schafft die Voraussetzung dafür, eine Orientierung zum Leben anzubieten.
Präventive Begleitung erfordert eigene Zurückhaltung, um der betreffenden Person nicht die für sie in diesem Moment notwendig erscheinende Handlungsalternative des Suizids zu nehmen. Die Androhung von Zwangsmaßnahmen aller Art (Einschaltung von Polizei, Sozialpsychiatrischem Dienst oder Notarzt) wird in vielen Fällen die Schwelle für vertrauensvolle Gespräche deutlich erhöhen. Auf Zwangsmaßnahmen sollte daher bei Anhaltspunkten für eine Freiverantwortlichkeit des Suizidwunsches verzichtet werden, da sie wirksame Prävention verhindern können.
Für Gespräche zur Suizidprävention ist eine Grundhaltung hilfreich, die wie folgt charakterisiert werden kann:
  • Todes- bzw. Sterbewunsch ernst nehmen,
  • Offenheit und Vertrauen gewährleisten, damit sich der betroffene Mensch in seiner Not angenommen fühlt,
  • Suizidwunsch aushalten und nicht ausreden,
  • keine Vorwürfe und moralischen Vorhaltungen machen,
  • Gründe, Begleitumstände und akute Auslöser besprechen,
  • die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge zu verstehen versuchen,
  • Orientierung zum Leben anbieten (aufzeigen von Therapie- und weiteren Unterstützungsmöglichkeiten; z. B. ältere Menschen auf autonome Wohn- und Versorgungsformen hinweisen, unheilbar kranke Menschen auf palliativmedizinische Versorgung und Hospizangebote verweisen),
  • Freiraum lassen für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, auch in Bezug auf einen möglichen oder bereits geplanten Suizid,
  • keine falschen Lösungen oder wohlfeilen Ratschläge erteilen,
  • nur versprechen, was man auch einhalten kann, um zusätzliche Enttäuschungen zu vermeiden.

Suizidprävention als gesellschaftliche Aufgabe

Suizidprävention ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Dazu ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen, Berufsgruppen und Fachrichtungen erforderlich. Die institutionellen Hilfsangebote sollten sich an den unterschiedlichen Gründen und Anlässen für Suizidalität orientieren. Spezifische Hilfsangebote für alle Lebensalter sind sinnvoll. Dabei sollte insbesondere die Präventionskultur für alte und/oder pflegebedürftige Menschen weiterentwickelt werden. Dies betrifft auch die sozialen Rahmenbedingungen, um dadurch einen Beitrag zu leisten, die Angst älterer Menschen vor Pflegebedürftigkeit und der Notwendigkeit eines Heimaufenthalts möglichst zu reduzieren.

Grenzen der Angebote von Suizidprävention

Individuelle und institutionelle Suizidprävention sollten bestimmte Grenzen respektieren. Dazu zählen zum einen das Gewissen der Person, die Prävention anbietet, und zum anderen die Grenze der Zumutbarkeit aus Sicht des Sterbewilligen. Der Hilfesuchende und der Begleiter sollen möglichst klar offenlegen, wo für sie selbst die Grenzen der Zumutbarkeit liegen. Sind bereits alle Hilfsmöglichkeiten ausreichend ausgeschöpft? Ist die Freiverantwortlichkeit und Nachhaltigkeit des Suizidwunsches hinreichend erwiesen? Einerseits darf jeder Mensch für sich die eigene Grenze der Leidensfähigkeit bestimmen, andererseits kann damit nicht ein Anspruch auf Suizidhilfe begründet werden.
Zwischen Suizidprävention und Suizidhilfe lässt sich keine starre Grenze festlegen. Wo hört Suizidprävention auf und wo beginnt Suizidhilfe? Solange Maßnahmen der Suizidprävention von Seiten der Begleiter als zumutbar eingeschätzt werden, ist es sinnvoll, die Angebote aufrecht zu erhalten. Der Suizidwillige kann die Angebote erneut annehmen oder sich von den Begleitern abwenden. Wenn aus Sicht aller Beteiligten die Grenze der Zumutbarkeit erreicht ist, müssen die Begleiter eine individuelle Entscheidung treffen, ob sie den Hilfesuchenden jetzt sich selbst überlassen oder die Suizidprävention in eine Suizidbegleitung übergeht.

Gesichtspunkte der individuellen ethischen Entscheidungsfindung

Einer Person, die um Suizidhilfe gebeten wird, stellen sich ethische Fragen auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst erfolgt die Anfrage an ein individuelles moralisches Subjekt und die jeweils eigenen Moralvorstellungen (1). Darüber hinaus erfolgt die Anfrage innerhalb eines bestimmten institutionellen Kontextes mit weiteren moralisch relevanten Herausforderungen an die soziale Rolle des Angefragten (2). Schließlich findet jede moralische Entscheidung in einem sozialen Kontext statt, der die Entscheidung prägt und auf den die Entscheidung wiederum zurückwirkt. Darum sind auch sozialethische Überlegungen relevant (3). Eine verantwortungsvolle individuelle Entscheidungsfindung (4) erfordert Reflexionen auf allen drei genannten Ebenen.

Der Helfer als individuelles moralisches Subjekt

Die Bitte um Suizidhilfe erfordert eine moralische Positionierung. Die eigenen emotionalen Reaktionen und ersten intuitiven Eindrücke werden häufig ambivalent und widersprüchlich sein. Mögliche Reaktionen können sowohl Mitleid als auch Abscheu, empathisches Verständnis, Wut, Trauer oder auch Erleichterung enthalten. Neben den emotionalen Reaktionen steht die rationale Reflexion, die in einem Abwägungsprozess das Für und Wider aufgrund der eigenen moralischen Überzeugungen und weiterer argumentativer Überlegungen analysiert.
Inhaltlich muss sich die um Suizidhilfe gebetene Person im Wesentlichen die folgenden Fragen zur Klärung der eigenen moralischen Haltung stellen:
  • Handelt es sich um einen möglicherweise pathologischen oder um einen freiverantwortlichen Suizidwunsch? Gibt es Hinweise auf pathologische Hintergründe, so hat die Behandlung im Sinne der Suizidprävention Vorrang.
  • Ist die Frage einer möglichen psychiatrischen Störung und deren Behandelbarkeit aus meiner Perspektive beantwortbar oder ist eine (fach-)ärztliche Begutachtung erforderlich?
  • Ist bei Vorliegen einer psychiatrischen Störung eine weitere Behandlung als aussichtslos (therapierefraktär) einzuschätzen?
  • Gibt es Handlungsalternativen, die der Suizident in Betracht gezogen hat? Habe ich als angefragter Helfer diese Alternativen ausreichend und angemessen angeboten? Sind diese Angebote vor dem Hintergrund seiner Lebens- und Leidensgeschichte zumutbar?
  • Habe ich externe Hilfe angemessen eingebunden?
  • Wie bewerte ich den freiverantwortlichen Suizidwunsch im Horizont meiner eigenen moralischen und weltanschaulich-religiösen Überzeugungen? In welcher Weise sind meine moralischen Vorstellungen von Sterben und Tod berührt?
  • Welche Bedeutung haben finanzielle Aspekte? Wie und in welchem Ausmaß beeinflussen sie meine Entscheidung?
  • Um welchen Beitrag beim Suizid werde ich gebeten? Erlaubt meine moralische Haltung, diesen Beitrag (von einem bloßen Zulassen über Begleitung bis zur aktiven Vorbereitung und Planung) zu leisten?
Dabei ist jeweils abzuwägen:
  • Welche Wahrnehmungen, Intuitionen, Emotionen und Argumente sprechen aus Sicht des Suizidwilligen für eine Beendigung seines Lebens? Was davon ist für mich nachvollziehbar (auch wenn ich für mich selbst möglicherweise in vergleichbarer Situation anders argumentieren würde)?
  • Welche Wahrnehmungen, Intuitionen, Emotionen und Argumente sprechen aus meiner Sicht gegen die Entscheidung zum Suizid? Liegen auf Seiten des Suizidwilligen andere Wahrnehmungen der Situation oder andere moralische Grundannahmen vor? Wie verhält sich der Suizidwillige zu meiner Wahrnehmung und meinen Gegenargumenten? Zieht er sie in Betracht und kann mit nachvollziehbaren Argumenten darauf eingehen?
Die Beantwortung dieser Fragen verlangt nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den Gründen und Überzeugungen des Suizidwilligen und setzt Zeit für Gespräche voraus. Die Bereitschaft, sich auf diesen Prozess einzulassen, sollte ein ethischer Standard zur Prüfung vor einer Suizidhilfe sein.
Die um Hilfe gebetene Person muss für sich klären, ob eine mögliche Suizidhilfe für ihr Gewissen zumutbar ist: Bin ich – auch langfristig – in der Lage, mit dem Wissen zu leben, dass ich einem anderen Menschen beim Suizid geholfen habe und eine Mit-Verantwortung für seinen Tod trage? Könnte ich andererseits damit leben, die Suizidhilfe abgelehnt zu haben?

Der Helfer in seiner sozialen/institutionellen Rolle

Ein Suizidhelfer wird nicht nur als Individuum, sondern immer auch in einer bestimmten sozialen und/oder institutionellen Rolle angefragt: als Angehöriger, als Hausarzt, als Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung, eines Palliativdienstes oder einer Suizidhilfeorganisation. Als Mitarbeiter einer Einrichtung des Gesundheitswesens ist zu berücksichtigen, dass sich eine mögliche Suizidhilfe nicht als private Handlung von der beruflichen und gesellschaftlichen Rolle abtrennen lässt: Als Arzt oder Pflegekraft handelt man immer auch in der professionellen Rolle und wird wahrscheinlich deswegen um Hilfe gebeten. Das bedeutet auch, dass eine Ablehnung der Suizidhilfe den Hilfesuchenden vor die Entscheidung stellt, den Suizid zu unterlassen, allein durchzuführen oder Hilfe durch eine Organisation in Anspruch zu nehmen. Mitarbeiter solcher Suizidhilfeorganisation müssen daher die Bedeutung ihrer Rolle bereits im Vorfeld gründlich und grundsätzlich für sich reflektieren, da sie überwiegend nicht als Privatpersonen wahrgenommen werden und handeln können.
Der um Suizidhilfe Gebetene muss prüfen, ob existierende standesethische Überzeugungen und berufsrechtliche Regelungen mit der Suizidhilfe in Konflikt stehen, und ob er ggf. bereit ist, entsprechende rechtliche Konsequenzen zu tragen, weil er sich aufgrund seines Gewissens zur Beihilfe verpflichtet fühlt. In Betracht zu ziehen sind dabei auch Auswirkungen, die seine Handlung auf das gesellschaftliche Bild und Ansehen seines Berufsstandes haben kann. Dabei sollte der angefragte Suizidhelfer klären, ob dieser Fall eine Ausnahme darstellt oder ob die Suizidhilfe in seiner Tätigkeit zum Regelfall wird.
Mitarbeiter einer Einrichtung im Gesundheitswesen sind Teil eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems. Darum ist auch zu klären, ob und in welchem Umfang im Rahmen der Suizidhilfe öffentliche Mittel in Anspruch genommen werden und ob dies ggf. zu rechtfertigen ist. Hier ist etwa an die durch das Gesundheitssystem finanzierte Arbeitszeit des Arztes, Fragen der Finanzierung von Medikamenten und den Umgang mit Spendenmitteln, etwa in der Hospizarbeit, zu denken. Zu berücksichtigen sind auch Konsequenzen, die sich aus einem möglichen Misslingen eines Suizids ergeben (z. B. Kosten, Haftung).

Sozialethische Aspekte der Suizidhilfe

Wie jede gesellschaftliche Praxis erfordert die ethische Bewertung der Suizidhilfe neben einer individualethischen Perspektive auch sozialethische Überlegungen: 1) In welcher Weise beeinflussen gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Sterbewunsch älterer oder kranker Menschen? 2) Welche positiven und negativen Konsequenzen kann die Etablierung von Suizidhilfe für die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzten, innerhalb der Familien und in der Gesellschaft insgesamt aufweisen? 3) Welche positiven und negativen Konsequenzen hat die Praxis der Suizidhilfe auf das Selbstverständnis bestimmter sozialer Gruppen, wie etwa der Ärzteschaft oder der Pflegenden? 4) Wie verändern sich das Menschenbild und die Einstellungen zu Leben, Sterben, Krankheit und Tod?

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Die soziale Situation insbesondere älterer und kranker Menschen beeinflusst deren Lebensqualität und damit ihren Lebenswillen. Die Angebote für die Betreuung und Pflege dieser Menschen müssen verbessert werden, um den sozialen Druck in Richtung eines Suizids so weit wie möglich zu minimieren. Dazu zählt auch die finanzielle Situation alter und kranker Menschen und ihrer Angehöriger, die nicht durch den ökonomischen Druck einen möglichen Sterbewunsch fördern darf. Gleichzeitig ist kritisch wahrzunehmen, dass Suizide zu erheblichen Einsparungen etwa bei Sozialversicherungsträgern führen können.

Veränderung von Beziehungen

Beziehungen verändern sich durch das Angebot von Suizidhilfe. Menschen mit Behandlungswunsch müssen sich weiterhin darauf verlassen können, dass das Ziel ärztlicher und pflegerischer Bemühungen zu jedem Zeitpunkt auf ihre Lebenserhaltung, Wiederherstellung der Gesundheit oder das Lindern von Leiden ausgerichtet ist. Das Angebot von Suizidhilfe, also einer beabsichtigten lebensverkürzenden Maßnahme, darf das Vertrauen in Mitarbeiter im Gesundheitswesen nicht untergraben. Dies gilt analog auch für Beziehungen in Familien: Kann bereits die Verfügbarkeit der Option einer Suizidhilfe mein Vertrauen schwächen, dass meine Angehörigen sich für meine Pflege und mein Weiterleben einsetzen werden? Andererseits gründet jede Beziehung auch in dem Respekt vor der Autonomie. In diesem Sinn schwächt bereits das Verweigern eines Gesprächs über Suizidhilfe das Vertrauen und damit die Beziehung.

Suizidhilfe und Berufsethos

Das moralische Selbstverständnis von Ärzten, Pflegenden oder ehrenamtlichen Helfern wird sich ebenfalls verändern. Das Zulassen des Todes eines Patienten bezieht sich nicht mehr nur auf das Sterbenlassen an einer Krankheit, sondern auch auf das Zulassen eines vorzeitigen und selbstverfügten Todes. Im Rollenverständnis von Ärzten und Pflegenden entsteht eine neuartige ethische Herausforderung: die Entscheidung, bis wann Angebote im Sinne der Lebenserhaltung gemacht werden können und ab wann ein Angebot zur Suizidhilfe zulässig ist, weil die Angebote zum Leben aus Sicht des Patienten nicht länger zumutbar sind.
Für das eigene Rollenverständnis ist weiterhin bedeutsam, dass der Suizidwunsch eine Zurückweisung von Behandlungs- und Pflegeangeboten darstellt. Hier stellt sich ebenfalls die Frage der Zumutbarkeit der eigenen professionellen Angebote. Die Veränderungen des professionellen Selbstverständnisses von Ärzten und Pflegenden durch die dauerhafte Zurückweisung ihrer professionellen Angebote durch einen Suizid sollten reflektiert werden.
Außerdem ist zu klären, ob die Alternativen zur Suizidhilfe verantwortet werden können. Wenn etwa aufgrund des professionellen Selbstverständnisses eine ärztliche Suizidhilfe abgelehnt wird, könnte die Zahl der einsamen Suizide, der misslingenden Suizide oder der Suizidbegleitung durch Organisationen zunehmen.

Veränderungen im Verständnis vom Menschsein

Angebot und Nachfrage beeinflussen sich wechselseitig. Das Angebot einer Suizidhilfe kann eine eigene Nachfrage erzeugen und muss deshalb verantwortet werden. Das dadurch sich verändernde Verständnis vom Menschen könnte die Bewertung enthalten und fördern, dass ein natürlicher Sterbeprozess und natürlich eingetretener Tod nicht wünschenswert oder hinzunehmen seien. Damit entstünde für jeden Menschen die Notwendigkeit, eine Entscheidung zumindest über die Frage der Verfügbarkeit des eigenen Todeszeitpunktes zu treffen.
Vorstellungen der Machbarkeit und Handhabbarkeit würden sich dann auch auf Art und Zeitpunkt des Todes erstrecken. Lebens- und Alternsprozesse könnten kaum mehr gedacht werden, ohne die Option einer aktiven Beendigung des Lebens zu prüfen. Darüber hinaus könnte auch das (mitmenschliche, professionelle oder finanzielle) Engagement im Umgang mit Sterbenden abnehmen, wenn diese Lebensphase selbst rechtfertigungsbedürftig wird, da die Gruppe der „natürlich Sterbenden“ aus Personen besteht, die willentlich auf den Suizid verzichtet haben.
Sozialethische Bewertungen sollten so gut wie möglich auf empirische Daten Bezug nehmen. Die oben genannten gesellschaftlichen Entwicklungen stellen zunächst hypothetische Spekulationen dar. Daher sollte eine kontinuierliche Begleitforschung stattfinden, die die Auswirkungen der Praxis von Suizidhilfe sozialwissenschaftlich analysiert. Hierzu gehört auch ein internationaler Vergleich. Die durch diese empirischen Daten und Befunde belegten Entwicklungen sollten kontinuierlich einer ethischen Bewertung unterzogen werden.

Entscheidungsfindung: Gewichtung der Argumente

Die ethischen Argumente der unterschiedlichen Reflexionsebenen (individuell, institutionell, sozialethisch) müssen in jedem Einzelfall gegeneinander abgewogen werden und in die Bewertung der Bitte um Suizidhilfe eingehen. Die suizidwillige Person wiederum muss dann, auf die Bewertung durch den Angefragten reagieren, z. B. durch einsamen Suizid oder durch Weiterleben, wenn die erbetene Suizidhilfe abgelehnt wird. Dies sind Konsequenzen der Ablehnung, die möglicherweise Schuldgefühle oder Trauer auslösen. Dadurch wird aber die getroffene Bewertung zum Zeitpunkt der Entscheidungnicht unzutreffend oder moralisch verwerflich.
Zusammenfassend werden noch einmal ethische Argumente für und gegen eine erbetene Suizidhilfe dargestellt, die aus der subjektiven Perspektive der um Suizidhilfe gebetenen Person entscheidungsleitend sein können:
Gründe für eine Suizidhilfe können z. B. sein:
  • Respekt vor der Selbstbestimmung: Der Respekt vor der Selbstbestimmung ist ein zentrales Prinzip in der Medizinethik. Es kann als so weitreichend interpretiert werden, dass jeder Mensch grundsätzlich das Recht hat, frei über sein Lebensende zu entscheiden. Dies gilt auch dann, wenn er um Suizidhilfe bittet.
  • Mitleid und Barmherzigkeit: Das schwere Leiden eines Menschen erscheint nachvollziehbar nicht erträglich, so dass die Suizidhilfe als Leidensvermeidung begriffen wird. Das Leiden des Anderen kann dann sogar zur Hilfe und Begleitung beim Suizid auffordern.
  • Menschenwürde: Wenn Krankheit und Siechtum als nicht mit der Menschenwürde vereinbar wahrgenommen werden, kann der begleitete Suizid eine als menschenwürdig empfundene Alternative darstellen.
Gründe gegen eine Suizidhilfe können z. B. sein:
  • Menschenwürde: Das Leben eines Menschen stellt einen absoluten Wert dar. Dies kann im Sinne einer Heiligkeit des Lebens oder als ein Hinweis auf die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens gedeutet werden. Wer z. B. menschliches Leben als von Gott geschaffen versteht, kann der Überzeugung sein, dass der Mensch deshalb nicht das Recht habe, sein Leben zu beenden.
  • Fürsorgepflichten: Fürsorgepflichten spielen in Familien und in Einrichtungen des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle. Wurde wirklich schon alles getan, um beispielsweise einem Kranken ein Leben und Sterben in Würde zu ermöglichen? Resultiert der Suizidwunsch aus einer mangelnden Kenntnis von Versorgungsangeboten, palliativmedizinischen Optionen oder anderen (z. B. psychologischen, spirituellen) Begleitungsmöglichkeiten? Darüber hinaus können auch moralische Fürsorgepflichten gegenüber Angehörigen gegen eine Suizidhilfe sprechen.
  • Sozialethische Verantwortung: Jede individuelle Entscheidung ist von der sozialen Wirklichkeit geprägt, in der wir leben, und wirkt zugleich auf diese soziale Wirklichkeit zurück. Deshalb besteht die Sorge, dass sich durch das Angebot von Suizidhilfe soziale Rollen und Beziehungen negativ veränderten und das Weiterleben alter, kranker oder behinderter Menschen rechtfertigungsbedürftig würde.
Diese Empfehlungen gehen von der Annahme aus, dass ein Wunsch nach Suizidhilfe und die Erfüllung dieses Wunsches nicht in jedem Fall juristisch verboten oder moralisch verwerflich sind. Wenn die Praxis der Suizidhilfe in Deutschland nicht in Händen weniger Personen oder Organisationen liegen soll, ist daher eine Gewissensentscheidung von vielen einzelnen Menschen im Umgang mit Suizidwünschen erforderlich. Die im Rahmen der Empfehlungen dargelegten Fragen, Kriterien und Anregungen sollen einen Beitrag leisten, diese Gewissensentscheidungen so gut begründet wie möglich treffen zu können.
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Fußnoten
1
In den Empfehlungen wird das grammatikalisch männliche Geschlecht verwendet. Frauen und Männer sind damit gleichermaßen gemeint.
 
2
§ 16 der Musterberufsordnung für deutsche Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997– in der Fassung der Beschlüsse es 114. Ärztetages 2011 in Kiel (http://​www.​bundesaerztekamm​er.​de/​downloads/​MBO_​08_​20111.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013); Bundesärztekammer (2011) Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Dtsch Ärztebl 108:A346–348.
 
3
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 5265, August 2009 (www.​baek.​de/​downloads/​sterbehilfe.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
4
Deutlich z. B. in der EAPC Definition von palliative care, die u. a. die Aussage enthält: „[Palliative care] neither hastens nor postpones death“ (http://​www.​eapcnet.​eu/​Corporate/​AbouttheEAPC/​Definitionandaim​s.​aspx) Zugegriffen: 3. April 2013.
 
5
Vgl. dazu die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, hrsg. von DGP/DHPV/BÄK (http://​www.​dhpv.​de/​tl_​files/​public/​Themen/​Charta/​Charta-zur-Betreuung-Sterbender_​08-09-2010.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
6
Stellungnahme der DGP zu den überarbeiteten Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. 25.02.2011. (http://​www.​dgpalliativmediz​in.​de/​images/​stories/​DGP_​stellungnahme_​BK_​GS_​Sterbebegleitung​_​25_​02_​11.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
7
Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Oldenburg 2005, Nr. 2325: „Der Selbstmord ist ein schwerer Verstoß gegen die Gerechtigkeit, die Hoffnung und die Liebe. Er wird durch das fünfte Gebot untersagt.“ Vgl. zu den Hintergründen: Bauer EJ et al (2011) Wenn das Leben unerträglich wird. Suizid als philosophische und pastorale Herausforderung. Kohlhammer, Stuttgart, S 150–154.
 
8
Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2008) Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung (EKD Texte 97). Kirchenamt der EKD, Hannover. In diesem Sinne auch die Stellungnahme von EKD und Diakonischem Werk zum Verbot der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung (http://​www.​ekd.​de/​download/​Gemeinsame_​Stellungnahme%281%29.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
9
Vgl. GEKE: Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit, S. 98 f. (http://​www.​leuenberg.​net/​sites/​default/​files/​Leben_​hat_​seine_​Zeit_​0.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
10
Vgl. SAMW (2004) Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, S. 7 (http://​www.​samw.​ch/​dms/​de/​Ethik/​Lebensende/​Lebensende_​D_​04.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013). Vgl. außerdem: SAMW (2012) Probleme bei der Durchführung von ärztlicher Suizidhilfe. Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der SAMW (http://​www.​samw.​ch/​dms/​de/​Ethik/​Lebensende/​d_​Stellungnahme_​Suizid2012.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
11
SBK (2005) Ethische Standpunkte 1. Beihilfe zum Suizid ist nicht Teil des pflegerischen Auftrags (http://​www.​sbk-asi.​ch/​webseiten/​deutsch/​4pflege/​PDF/​Ethische%20​Standpunkte%20​1%20​deutsch.​pdf. Zugegriffen: 3. April 2013).
 
Metadaten
Titel
Empfehlungen zum Umgang mit dem Wunsch nach SuizidhilfeArbeitsgruppe „Ethik am Lebensende“ in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM)
verfasst von
Dr. med. Gerald Neitzke
Dr. theol. Michael Coors
Dr. med. Wolf Diemer
Dr. jur. Peter Holtappels
PD Dr. med. Johann F. Spittler
Dr. med. Dietrich Wördehoff
Publikationsdatum
01.12.2013
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 4/2013
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-013-0256-6

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