Erschienen in:
29.04.2016 | Psychoanalyse | Editorial
Komplexe Traumatisierungen
verfasst von:
Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger
Erschienen in:
Die Psychotherapie
|
Ausgabe 3/2016
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Auszug
Die Anerkennung von psychosozialen und körperlichen Folgen komplexer Traumatisierungen hat in der Psychotherapie eine lange und wechselvolle Geschichte. Wie die Auseinandersetzungen um die „traumatische Neurose“ und die „Kriegsneurose“ seit 1890 und die breite Diskussion um die gesundheitlichen Folgen von Konzentrationslagerhaft zeigen, wurden die ätiologische und die pathogenetische Bedeutung von Realtraumatisierungen lange bezweifelt. Noch 1963 sah sich der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler (1908–1999) dazu veranlasst, in der Zeitschrift
Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen einen Aufsatz mit dem ironischen Titel „Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ zu veröffentlichen (Eissler
1963). Hintergrund war, dass nicht nur zahlreiche nationale und internationale „Nachkriegspsychiater“, sondern auch viele Psychoanalytiker von dem Paradigma ausgingen, dass die psychischen Veränderungen nach Konzentrationslagerhaft nur durch eine frühe entwicklungspsychologisch verankerte neurotische Störung oder Disposition erklärbar seien und deshalb traumabezogene Behandlungen ablehnten bzw. in Begutachtungen im Rahmen von „Wiedergutmachungsverfahren“ Entschädigungsleistungen verweigerten (Freyberger und Freyberger
2007; Freyberger und Widder
2010). Erst mit der Veröffentlichung des DSM-III wurde das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) breiter akzeptiert, und es kam in der Folge zu einem nahezu exponentiellen Anstieg auch der psychotherapeutischen Forschungsarbeiten in diesem Bereich. Die nach wie vor steigende Attraktivität des dahinterstehenden Konzepts hat mehrere Gründe. Das Konstrukt folgt einem vergleichsweise einfach untersuchbaren Ursache-Wirkung-Paradigma mit psychosozialen und neurobiologischen Prädiktorvariablen und Mediatoren und bietet sich so hervorragend für Forschungsarbeiten und die Neuentwicklung von psychotherapeutischen Techniken und Methoden an. Für Patienten und für Psychotherapeuten bietet das Konzept darüber hinaus sehr einfache Kausalitätsattributionen an, was nicht zuletzt dazu geführt hat, dass der ursprünglich an Ereignisse und Prozesse katastrophalen Ausmaßes gekoppelte Begriff des Traumas eine erhebliche Erosion erfuhr. Die Diskussion um „Low-magnitude“-Stressoren ist allerdings auch Teil eines gesellschaftlichen Diskurses, in dem der Traumabegriff über eine breite Berichterstattung dazugehöriger Ereignisse in den Medien eine zunehmende Popularisierung erfuhr und zu einer Medikalisierungstendenz mit einer immer breiteren Ausweitung von Störungsbegriffen beigetragen hat (Schneider
2013). …