Psychiatr Prax 2008; 35(5): 216-218
DOI: 10.1055/s-2007-986329
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bedarf für eine eigenständige Adoleszentenpsychiatrie und -psychotherapie

A Need for Independent Adolescence Psychiatry and PsychotherapyPro: Barbara  Blankenburg Kontra: Michael  Kölch, Claudia  Mehler-Wex
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Publication Date:
03 July 2008 (online)

Pro

Adoleszenz bezeichnet den Übergang zwischen Pubertät und Erwachsenenleben mit vielen basalen Entwicklungsaufgaben hinsichtlich einer stabilen Identitätsbildung, Verselbstständigung und Gestalten eines eigenen sozialen Raumes jenseits der Herkunftsfamilie. Diese Aufgaben sind in der Regel nicht mit der formalen Volljährigkeit des 18. Geburtstags abgeschlossen, sondern benötigen oft bis etwa Mitte 20.

Jugendliche und junge Erwachsene, die früh psychiatrisch ersterkranken bzw. klinisch behandlungsbedürftige Symptome zeigen und in biografische Sackgassen geraten, haben oft die üblichen Entwicklungsschritte gesunder Gleichaltriger nicht oder nur unzureichend vollziehen können. Sie sind auch bei formaler Volljährigkeit was persönliche Reife und Selbstständigkeit angeht oft um Jahre verzögert und eigentlich psychisch „jünger” und können auf weniger Kompetenzen zurückgreifen. Dies ist auch dadurch bedingt, dass häufig jahrelanger sozialer Rückzug und Isolation nur wenig altersspezifische Erfahrungen und Reibungsphasen ermöglicht haben.

Insbesondere ist hier an Jugendliche mit juvenilen Psychosen, Angst- und Zwangserkrankungen, Essstörungen sowie beginnenden Persönlichkeitsstörungen zu denken. Depressive Syndrome treten in dieser Altersgruppe meist sekundär auf.

Oft haben die Patienten keinen Schulabschluss, keine Berufsausbildung oder Arbeit sowie kein tragendes Netz gefestigter sozialer Beziehungen. Hinsichtlich Impulskontrolle, emotionaler Regulation und dem Bilden von Handlungsentwürfen entsprechen diese Patienten oft 13 – 16-jährigen Jugendlichen, können nicht an Strukturen der Erwachsenenpsychiatrie anknüpfen und diese sinnvoll nutzen.

Die gängige Praxis, Patienten mit ihrem 18. Geburtstag in erwachsenenpsychiatrischen Abteilungen zu behandeln, ja teilweise in diese zu verlegen, wird der Situation inhaltlich und im Hinblick auf einen optimalen Behandlungserfolg oft nicht gerecht.

Anstatt zur notwendigen Verselbstständigung und Progression kommt es oft zu eher regressiven Entwicklungen. Einerseits wird der Patient/die Patientin leicht zum versorgten Nesthäkchen durch teilweise wesentlich ältere Mitpatienten und übernimmt ungünstige, dysfunktionale Verhaltensweisen oft chronisch kranker Erwachsener mit sekundärer Identitätsbildung durch die Krankheit. Oder aber der Jugendliche geht in Vereinsamung und Widerstand und produziert eine Menge pädagogischer Probleme, denen erwachsenenpsychiatrische Behandlungsteams oft überfordert gegenüberstehen. Immer wieder wenden sich bei diesem Klientel erwachsenenpsychiatrische Kliniken an uns mit der Bitte um Verlegung der Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, da ein spezifisches adoleszenzpsychiatrisches und therapeutisch-pädagogisches Setting erforderlich ist.

In den letzten Jahren ist zu der Problematik der Reifungsverzögerung durch frühe Erkrankung noch ein weiteres pädagogisch-psychosoziales Problemfeld hinzugetreten. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterscheidet über- und untersozialisierte Jugendliche. Übersozialisierte Jugendliche zeigen eine hohe Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit im Sinne der sozialen Erwünschtheit, oft um den Preis eines weitgehenden Verzichts auf individuelle Entwicklung.

Im Gegensatz dazu sind wir in den letzten Jahren auch in der Psychiatrie mit einem immer größer werdenden Anteil sogenannter untersozialisierter Jugendlicher konfrontiert, dies interessanterweise unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit. Wichtige soziale Fähigkeiten für das Gestalten förderlicher Beziehungen und Übernahme von Aufgaben und Arbeiten in der Gemeinschaft sind kaum oder nur rudimentär entwickelt. Dazu gehören Fähigkeiten wie Empathie, Respekt und Verbindlichkeit, Entwicklung und Motivation zu mittel- und langfristigen Zielen, Frustrationstoleranz, aktive Konfliktfähigkeit, die Fähigkeiten, um etwas bitten zu können und sich zu entschuldigen, Verantwortungsübernahme, Introspektionsfähigkeit und Korrekturfähigkeit.

Bei unzureichender Ausbildung dieser Fähigkeiten kommt es bei notwendigen Entwicklungs- und Verselbstständigungsaufgaben häufig entweder zu impulsiv-externalisierenden Verhaltensweisen oder zu passiv-vermeidendem Rückzug.

Bei ersterem Handlungsmuster sehen wir Jugendliche und junge Erwachsene, die häufig unrealistisch ansprüchlich und fordernd auftreten, zu impulsivem und grenzüberschreitendem Verhalten neigen, Verantwortung fast ausschließlich anderen zuschreiben, selbst mit Kritik gar nicht umgehen können und keinesfalls bereit sind, Schwierigkeiten auszuhalten. Sie pflegen Kontakte zu ähnlich strukturierten anderen Jugendlichen, die sie in ihrer Haltung bestärken, kommen aber mit Erwachsenen und ihren Anforderungen und Grenzen meist kaum zurecht.

Im Gegensatz dazu neigen passiv-vermeidende junge Patienten zu Rückzug und Isolation, scheuen direkte Kontakte und Konfrontation, lassen unbequeme und unangenehme Dinge gern von ihren Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen erledigen. Mit diesen kommen sie scheinbar recht gut zurecht, isolieren sich aber von Gleichaltrigen, mit denen sie oft Ausgrenzungs- oder nach ihrer Diktion „Mobbing”-Erfahrungen haben.

Obwohl bei den meisten eine tiefe Sehnsucht nach tragfähigen Beziehungen besteht, neigen beide Gruppen in ihrem eigenen Verhalten eher zu Unverbindlichkeit in Absprachen und mitmenschlichen Kontakten und tendieren manchmal dazu, die Beziehungspartner im Sinne kurzfristiger Wünsche und Affekte zu funktionalisieren. Dies geschieht meistens vor dem Hintergrund eigener, wenig haltgebender Beziehungserfahrungen. Zum Entwickeln eines individuell befriedigenden und anregenden Lebensstils im Erwachsenenalter gehören auch eigenständig entwickelte Interessen und Freizeitgestaltung. Entsprechende Aktivitäten wirken auch deutlich antidepressiv und sozialer Isolation entgegen. Im Laufe der letzten 15 Jahre ist in der psychiatrischen Behandlung Jugendlicher und junger Erwachsener ein deutlicher Rückgang von Eigeninitiativkräften zu beobachten in einer Entwicklungsphase, in der sie biografisch angelegt eigentlich besonders vital sein müssten.

Außerhalb von festgelegten Zeiten für Schule und Ausbildung (wenn die Pat. dort noch hingehen) sehen wir eher passives Verhalten entweder in konsumierenden oder Rückzugstendenzen. Außerhalb von Shoppen, Kino, Fernsehen, Internet, Flucht in Scheinwelten und passivem Rückzug mit viel Schlafen und schnell aufgehobener Tagesstruktur sehen sich viele erst mal mit viel Leere und Langeweile konfrontiert. Es gibt weniges, was die Seele wirklich erwärmt und auch zum persönlich immer mehr bereichernden Interesse und Austausch mit der Welt beiträgt.

So brauchen die jungen Erwachsenen während der stationären Behandlung insbesondere an Abenden und Wochenenden viel Anregung und unterstützende Detailplanung seitens der Mitarbeiter, um in diesen Bereichen neue, oft erst mühsame, dann aber doch anregende und bereichernde Erfahrungen machen zu können.

Bei wenig ausgebildeten Fähigkeiten zum Überblick über mittel- und langfristige Konsequenzen und hohem Affektdruck, Wünsche unmittelbar zu befriedigen, unterscheiden sich viele Jugendliche und junge Erwachsene oft kaum von Kindern. Leider sind mit formal eingetretener Geschäftsfähigkeit die finanziellen Folgen in Form hoher Schulden schon in jungem Alter erheblich, meist durch nicht bezahlbare Handyrechnungen oder Versandkäufe. Viele junge Erwachsene haben in dramatischer Weise noch nicht gelernt, mit Geld umzugehen.

Dies ist keine kritisierende Abrechnung mit der Generation heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener, mit denen sich die Autorin sehr verbunden fühlt. Es ist vielmehr eine Schilderung von täglich erlebbarem Problemverhalten aufgrund von unzureichend ausgebildeten sozialen Fähigkeiten, mit dem nicht nur die oft unglücklichen jungen Menschen selbst, ihre Familien, Schule und Ausbildungseinrichtungen konfrontiert sind, sondern im Falle von Erkrankung oder ausgeprägterer Störungen eben auch die Psychiatrie.

Diese Sozialisierungsdefizite spielen für viele Krankheits- und Störungsbilder bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine bedeutsame mitverursachende und/oder komplizierende Rolle, ähnlich wie das Vorliegen von Persönlichkeitsstörungen in der Erwachsenenpsychiatrie. Sie führen auch oft zum Scheitern oder zur vorzeitigen Beendigung von stationären Behandlungen, entweder aus Frustration und dem Gefühl des Unverstandenseins seitens des Patienten oder aus grenzziehenden, disziplinarischen Gründen seitens des Behandlungsteams etwa bei häufigen Regelverletzungen oder vermeintlich mangelnder Motivation des Patienten. In der nächsten, absehbaren Krise ist er aber wieder da und so kommt es zu unbefriedigenden und chronifizierenden „Drehtür”-Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist für etliche junge Patienten bis ca. 24 Jahre eine milieutherapeutische Behandlung mit der altersadäquaten Lernerfahrung innerhalb der Peergroup zum Entwickeln nötiger psychosozialer Basisfähigkeiten sinnvoll und effektiv. Pädagogische und psychotherapeutische Anteile sind dabei sorgfältig aufeinander abzustimmen und benötigen auch im Jugendbereich erfahrene sozialpädagogische Mitarbeiter. Eine spezifische Behandlung in diesen biografisch weichenstellenden Jahren begünstigt die Prognose der Patienten entscheidend und kann einer Chronifizierung nachhaltig entgegenwirken.

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Barbara Blankenburg

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberärztin für den Psychiatrischen Behandlungsbereich für Jugendliche und Junge Erwachsene, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, Abt. Psychiatrie und Psychotherapie

Gerhard-Kienle-Weg 4

58313 Herdecke

Email: m.vehoff@gemeinschaftskrankenhaus.de

Dr. med. Michael Kölch

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Oberarzt, Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie

Steinhövelstraße 5

89075 Ulm

Email: michael.koelch@uniklinik-ulm.de

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