Stammzelltransplantation stoppt MS über sieben Jahre hinweg

Bemerkenswerter Erfolg mit einem kompletten Neustart des Immunsystems: Neue Schübe oder MRT-Läsionen traten nach einem Stammzelltransfer nicht mehr auf. Allerdings starb auch ein Patient an den Folgen der initialen Immunablation. Obwohl in den vergangenen Jahren viele neue MS-Mittel auf den Markt gekommen sind, die auch eine sehr aktive Erkrankung ausbremsen können, spricht weiterhin ein Teil der Betroffenen nicht gut auf die verfügbaren Therapeutika an. Die Prognose solcher Patienten ist sehr schlecht, daher werden auch ungewöhnliche Methoden versucht. Ein kompletter Neustart des außer Kontrolle geratenen Immunsystems wäre eigentliche eine elegante Lösung, hätte eine solche Therapie nicht gravierende, mitunter tödliche Nebenwirkungen. Dabei wird zunächst das Immunsystem mit einem Cocktail toxischer Substanzen weitgehend vernichtet, bevor es die Ärzte mit zuvor den Patienten entnommenen autologen hämatopoetischen Stammzellen wieder aufbauen – in der Hoffnung, dass das neue Immunsystem das Gehirn in Ruhe lässt. Der Ansatz wurde inzwischen in einigen Studien untersucht und scheint bei einem Teil der Patienten gut zu klappen. So ließen sich in der HALT-MS-Studie* bei 19 von 24 Patienten auch drei Jahre nach der autologen Stammzelltherapie keine Zeichen einer MS-Aktivität (no evidence of disease activity, NEDA) feststellen, und nur bei drei Patienten traten in dieser Zeit neue Schübe auf (wir berichteten). Allerdings haben inzwischen weitere Patienten MRT-Läsionen entwickelt, sodass die NEDA-Rate nach fünf Jahren nur noch bei rund 60 % liegen dürfte. Keine Entzündungsaktivität mehr Etwas besser sehen die Ergebnisse einer kanadischen Langzeitstudie aus: Hier waren sämtliche Überlebende nach im Median sieben Jahren frei von Schüben und neuen MRT-Läsionen. An der Studie haben 24 MS-Kranke mit sehr schlechter Prognose teilgenommen. Sie hatten schon früh im Krankheitsverlauf zahlreiche Schübe mit bleibenden Behinderungen entwickelt – trotz Behandlung mit Immunmodulatoren und Immunsuppressiva. Da die Studie bereits im Jahr 2001 begann, waren dies vorwiegend Interferone und Glatirameracetat, Mitoxantron, Cyclophosphamid sowie intravenöse Immunglobuline. Im Median hatten die Patienten einen EDSS-Wert von 3 Punkten bereits drei Jahre nach der Diagnose erreicht, zum Studienbeginn lag der Wert zwischen 3 und 6 Punkten, im Schnitt erfolgte die Stammzellbehandlung 6,5 Jahre nach Krankheitsbeginn. Die Hälfte der Patienten hatte eine sekundär progrediente MS mit überlagernden Schüben. Für die Immunablation verwendeten die Ärzte um Dr. Harold Atkins vom Ottawa Hospital Research Institute eine Chemotherapie mit Busulfan, Cyclophosphamid und Anti-Thymozyten-Globulin. Dieser Mix wirke deutlich stärker als die Therapieregime in anderen Studien und gelange zudem gut ins Gehirn. „Er könnte damit auch schädliche Immunzellen aus dem Gehirn entfernen“, erläuterte Atkins in einer Mitteilung zur Studie. Zudem wurden die transplantierten Stammzellen ex vivo über ein immunomagnetisches Verfahren selektiert. Damit wollten die Ärzte ausschließen, dass autoaggressive Lymphozyten das Transplantat verunreinigen. Auf ein solches Verfahren werde in anderen Studien meist aus Kostengründen oder aufgrund regulatorischer Barrieren verzichtet. NEDA-Rate von 70 % Nach im Median 6,7 Jahren zeigten die 23 überlebenden Patienten keinerlei entzündliche MS-Aktivität – weder Schübe noch neue MRT-Läsionen wurden festgestellt. Die Studie ist damit offenbar die erste, bei der entzündliche Prozesse komplett gestoppt werden konnten. Allerdings schritt die Behinderungsprogression bei sieben der Patienten weiter voran – NEDA wurde damit langfristig bei knapp 70 % der Patienten erzielt. Eine Zunahme von Behinderungen sahen die Ärzte vorwiegend bei den Patienten, die zu Beginn der Studie das höchste Progressionsrisiko aufwiesen (MS Severity Score über 8 Punkte). In der Regel wurde die Progression bereits in den ersten Jahren nach der Behandlung registriert. Bei 40 % der Patienten kam es zu einem anhaltenden Rückgang der Behinderungen. Solche Verbesserungen ließen sich meist ab dem dritten Jahr nach der Behandlung feststellen. Einige davon waren recht unerwartet: So verschwanden lange bestehende Ataxien oder Nystagmen, auch die Muskelstärke nahm oft wieder zu. Sechs der Betroffenen konnten ihre Frühverrentungsansprüche wieder abgeben und eine Arbeit aufnehmen. Auffallend war auch eine Normalisierung der Hirnatrophie: Der Hirnvolumenverlust pendelte sich nach ein bis zwei Jahren bei 0,3 % p.a. ein – ein Wert, wie er bei Gesunden auftritt. Alle Patienten setzten ihre bisherigen immunmodulatorischen Therapien ab. Tod durch Lebernekrose und Sepsis Bei den Erfolgen müssen natürlich auch die Nebenwirkungen berücksichtigt werden. Ein Patient starb an einer massiven Lebernekrose aufgrund eines Sinusoidalverschlusses sowie einer Klebsiella-Sepsis. Er hatte knapp 15 mg/kg Busulfan erhalten. Ein zweiter Patient entwickelte ebenfalls einen Sinusoidalverschluss nach einer hohen Busulfandosis, konnte aber gerettet werden. Daraufhin wurde die Dosis reduziert. 16 der Patienten zeigten Fieber, sechs eine schwere virale Infektion, sechs eine sekundäre Autoimmunerkrankung – meist war die Schilddrüse betroffen. Eine postinfektiöse Immunthrombozytopenie wurde bei einem der Patienten beobachtet. Nach Auffassung der Studienautoren um Atkins sind die Ergebnisse der Untersuchung mit Vorsicht zu interpretieren – die Zahl der Patienten war klein, eine Kontrollgruppe fehlte. Schließlich stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Stammzelltransplantation im Zeitalter spezifischer Antikörpertherapien hat – diese können ebenfalls einen Neustart des Immunsystems bewirken. Dabei werden zwar nicht ganz so hohe NEDA-Raten erreicht, allerdings müssen die Patienten auch nicht um ihr Leben fürchten. Die kanadische Studie macht jedoch einige wesentliche Punkte deutlich: Lässt sich das autoaggressive Immunsystem rechtzeitig ausschalten, ist vielleicht eine Heilung möglich. Wird dagegen zu lange gewartet, läuft der Prozess auch ohne Lymphozyten weiter. Das spricht für eine möglichst frühe und aggressive Therapie. *HALT-MS: Hematopoietic Cell Transplantation for Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis

Live-Webinar: Aktuelle Leitlinien bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Springer Medizin

Stammzelltransplantation stoppt MS über sieben Jahre hinweg

Weiterführende Themen

Passend zum Thema

Services in der MS-Therapie für Neurolog*innen und Betroffene