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Erschienen in: Ethik in der Medizin 4/2016

01.04.2016 | Originalarbeit

Patientenverfügungen und Advance Care Planning bei Demenz und anderen kognitiven Beeinträchtigungen

verfasst von: Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 4/2016

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Zusammenfassung

Patientenverfügungen für spätere Zustände schwerer kognitiver Beeinträchtigungen, wie sie für Spätphasen der Demenz typisch sind, stoßen auf weitergehende Vorbehalte als Patientenverfügungen für anderweitige Zustände eingeschränkter Einwilligungsfähigkeit. Einer der Gründe dafür scheinen die ethischen und psychologischen Konflikte im Gefolge von Patientenverfügungen zu sein, mit denen Patienten in gesunden Tagen für bestimmte Phasen der Erkrankung die Nichtbehandlung interkurrenter Erkrankungen oder die Unterlassung künstlicher Ernährung verfügt haben, während sich unter den in der Patientenverfügung gemeinten Bedingungen keine Anzeichen finden, dass sie unter ihrer Situation leiden. Der Beitrag argumentiert für diese Situation für eine „gemischte“ ethische Strategie: Patientenverfügungen im rechtlichen Sinne sollten insbesondere dann, wenn sie im Rahmen eines Advance Care Planning erstellt sind, befolgt werden, um zu verhindern, dass den Vorausverfügenden das Vertrauen in die spätere Befolgung ihres Wunsches nach Abbruch oder Nichtaufnahme medizinischer Behandlungen genommen wird. Dagegen sollten darüber hinausgehende „Pflegeverfügungen“ ohne rechtlich verbindlichen Status nur in Fällen beachtet werden, in denen zwischen vorausverfügtem und „natürlichem“ Willen Konkordanz besteht.
Fußnoten
1
Zur geringen Verbreitung von Patientenverfügungen im Bereich der Psychiatrie vgl. [30].
 
2
Zur Problematik dieses Begriffs vgl. [15].
 
3
Exemplarisch seien hier die Berichte von Arno Geiger und Tilman Jens genannt.
 
4
Schopenhauer, der den deutschen Ausdruck „Sich-Verlieren“ als besonders treffend schätzte (vgl. [32], I, S. 232), hat – in der Nachfolge der deutschen Mystik – den Zustand, in dem „das Leben und seine Gestalten […] nur noch vor ihm (schweben), wie eine flüchtige Erscheinung“ sogar als „Quietiv des Willens“ idealisiert ([32], II, S. 483).
 
5
Art, Mittel und Ausführlichkeit der Erklärung wirken sich erfahrungsgemäß signifikant auf das Verständnis der Patienten mit mild cognitive impairment bzw. in einem frühen Stadium der Alzheimer-Erkrankung aus (vgl. [25]).
 
6
Medizinische und nicht-medizinische Maßnahmen lassen sich wohl nicht trennscharf abgrenzen. Die Ernährung eines Patienten mit hochkalorischer Nahrung („Weltraumnahrung“) kann kaum als „natürlich“ bezeichnet werden, ist aber andererseits auch keine eindeutig medizinische Maßnahme.
 
7
Dies betonen u. a. auch die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung in der Fassung von 2011: „Andere Formen der vorsorglichen Willensbekundung eines Patienten (z. B. mündliche Erklärungen) sind… keine Patientenverfügung im Sinne des Gesetzes; sie sind aber als Behandlungswünsche oder als Indizien für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens zu beachten“ ([3], S. 348).
 
8
Ein ähnlicher Vorschlag war bereits 2000 in einem Statement des American College of Physicians’ End-of-Life Care Consensus Panel enthalten (vgl. [21], S. 2).
 
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Metadaten
Titel
Patientenverfügungen und Advance Care Planning bei Demenz und anderen kognitiven Beeinträchtigungen
verfasst von
Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher
Publikationsdatum
01.04.2016
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 4/2016
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-016-0388-6

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