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Erschienen in: Der Nervenarzt 9/2005

01.09.2005 | Übersichten

Perspektiven der forensischen Psychiatrie

Eine psychiatriehistorische und aktuelle Bestandsaufnahme

verfasst von: Prof. Dr. med. Dr. phil. P. Hoff

Erschienen in: Der Nervenarzt | Ausgabe 9/2005

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Zusammenfassung

Der Beitrag stellt die wesentlichen Entwicklungslinien der forensischen Psychiatrie dar. Dabei hat die wissenschaftshistorische Betrachtungsweise vor allem den Zweck, der aktuellen Diskussion um Gegenstandsbereich und Methodik des Faches einen konzeptuellen Rahmen zu geben und damit den häufig anzutreffenden Verkürzungen und Vereinfachungen entgegen zu arbeiten. Grundgedanke ist, dass die forensische Psychiatrie nur zusammen mit dem Gesamtfach und dessen historischer Entwicklung angemessen erfasst werden kann. Die jüngst viel diskutierten, von manchen als bedrohlich erlebten neurobiologischen und neurophilosophischen Konzepte zum Leib-Seele-Problem im Allgemeinen und zur Genese seelischer Störungen im Besonderen werden erörtert. Sie werden zu einer Neubesinnung auf grundsätzliche Fragen innerhalb der Psychiatrie und ihrer forensischen Anwendung führen.
Fußnoten
1
Aus Gründen der Lesbarkeit wird zumeist nur die männliche Form von Berufs- und sonstigen Bezeichnungen genannt.
 
2
Diese Stärkung der psychiatrischen zuungunsten der juristischen Position muss im Kontext der im 19. Jahrhundert ausgetragenen Kontroverse zwischen der klassischen liberal-idealistischen Strafrechtsdoktrin, dem Rechtspositivismus und der antipositivistischen Gegenbewegung (Franz von Liszt) gesehen werden [28]. Kraepelins Position wird am klarsten in seiner frühen Schrift „Die Abschaffung des Strafmasses“ (1880) [21] artikuliert, die in Stil und Diktion hart an der Grenze zwischen pointierter Meinungsäußerung und Polemik angesiedelt ist.
 
3
Dies erinnert in geradezu verblüffender Weise an die heute, fast 100 Jahre später, laufende Debatte um die Willensfreiheit, die, gestützt auf neurobiologische Befunde und theoretische Argumente aus dem Umfeld der „philosophy of mind“, zum selben Ergebnis kommt (vgl. [24]).
 
4
Janzariks Formulierung, wonach die Psychopathologie die „Grundlagenwissenschaft“ der Psychiatrie sei [16], wird mitunter als Anspruch auf prinzipielle Superiorität gegenüber anderen Forschungsansätzen missdeutet. Gemeint ist hingegen, dass jede psychiatrische Forschungsrichtung ohne eine wissenschaftlich reflektierte und auch empirisch ausgewiesene psychopathologische Grundlage Gefahr läuft, ihrem Gegenstand nicht gerecht zu werden.
 
5
Freilich ist auch eine ätiologisch und pathogenetisch weitgehend geklärte Pneumonie keine „natürliche Krankheitseinheit“ im strengen Sinne, da eine unübersehbare Vielzahl von Faktoren den überindividuellen „natürlichen“ Kern erheblich modulieren kann. Dennoch erscheint die Verwendung des Begriffes „natürliche Krankheitseinheit“ zur Verdeutlichung der Debatte nützlich, bezeichnete dieser Terminus doch immerhin über einige Jahrzehnte mindestens die Leitidee, wenn nicht sogar das reale Forschungsziel zahlreicher Psychiater. Nach Jaspers war er ein „wahrer Orientierungspunkt für die empirische Einzelforschung“ [19].
 
6
Dieser Standpunkt ist gerade keine prinzipielle Kritik an der neurowissenschaftlichen Vorgehensweise bei der Erforschung seelischer Störungen. Verfehlt ist lediglich die unreflektierte Gleichsetzung der Erkenntnisebenen „objektiver empirischer Befund“ einerseits und „subjektives Erleben und Handeln“ andererseits.
 
7
Der philosophisch Kundige wird hier sofort einwenden, dass in einem solchen Fall auch nur das eine „Sprachspiel“ durch ein anderes ersetzt werde, woraus keineswegs automatisch die höhere Validität des Letzteren folge. Das ist zwar richtig, doch wird dabei übersehen, dass die „Sprachspiel“-Argumentation für die meisten der materialistisch orientierten Neurobiologen im Rahmen ihrer straff realistischen Erkenntnistheorie kaum Überzeugungskraft besitzt.
 
8
Eine sehr plastische Anschauung des Zusammenhangs vermittelt die im Schizophrenia Bulletin veröffentlichte Kontroverse über Phänomenologie und Physikalismus [1, 33]
 
9
Ausgearbeitet z. B. in [3]
 
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Metadaten
Titel
Perspektiven der forensischen Psychiatrie
Eine psychiatriehistorische und aktuelle Bestandsaufnahme
verfasst von
Prof. Dr. med. Dr. phil. P. Hoff
Publikationsdatum
01.09.2005
Erschienen in
Der Nervenarzt / Ausgabe 9/2005
Print ISSN: 0028-2804
Elektronische ISSN: 1433-0407
DOI
https://doi.org/10.1007/s00115-004-1811-7

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