Psychiatr Prax 2006; 33(3): 150-151
DOI: 10.1055/s-2006-939802
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Die Förderung seelischer Gesundheit und die Prävention seelischer Krankheiten - Luxus oder Notwendigkeit?

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Publication Date:
05 April 2006 (online)

 

Hartmut Berger, Rainer Paul, Eva Heimsath

Seelische Krankheiten bestimmen in zunehmendem Maß das Schicksal einer großen Anzahl von Menschen und werden so zu einer wachsenden Herausforderung für die Gesellschaft und das Gesundheitswesen. Ihr Anteil an allen Erkrankungen belief sich im Jahre 1990 bezogen auf die hierdurch ausgelöste und in Lebensjahren berechnete Arbeitsunfähigkeit auf 11% und wird voraussichtlich im Jahre 2020 auf 15% ansteigen [[16]]. Panik- und Zwangsstörungen, depressive Störungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, bipolare affektive Störungen sowie die Schizophrenie zählen zu den 20 häufigsten Ursachen für die gesundheitlichen Behinderungen aller 15-44 Jahre alten Menschen [[17]]. Der Suizid ist in Europa 1998 die zweithäufigste Todesursache der 15-34- Jährigen gewesen [[18]]. Zudem gibt es Indizien dafür, dass trotz der umfassenden Verbesserung der psychiatrischen Infrastruktur in den letzten 20 Jahren die Mortalität und Morbidität sowie die Obdachlosigkeit von Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, deutlich zugenommen hat [[11],[13]]. Weiterhin nimmt die Zahl der Unterbringungen seelisch Kranker in den Kliniken für forensische Psychiatrie deutlich zu [[10]]. Darüber hinaus stellen die mit der Immigration verbundenen seelischen Folgeerscheinungen gänzlich neue Anforderungen an das psychiatrische Versorgungssystem [[3]]. Unter anderem in Folge dieser Entwicklungen verursachen seelische Krankheiten sehr hohe direkte und indirekte Kosten [[2],[6]]. Zugleich besteht nicht nur in der BRD eine erhebliche Lücke zwischen den von der Gesundheitspolitik zur Verfügung gestellten Ressourcen und den erforderlichen Mitteln für die Behandlung und Verhütung seelischer Krankheiten [[7]].

Den genannten Herausforderungen ist gemeinsam, dass sie auf multifaktoriellen Wirkketten beruhen und mehrschichtiger Interventionen bedürfen. Angesichts dieser Komplexität greift das nach wie vor das psychiatrische Denken bestimmende Krankheitsmodell zu kurz. Interventionen, welche erst dann einsetzen, wenn eine definierte seelische Störung besteht, kommen häufig zu spät und vermögen nur Teilaspekte der Störung zu beeinflussen, wenn sie sich auf die reine Kuration beschränken. Notwendig erscheint vielmehr ein grundsätzliches Umdenken in Richtung einer ganzheitlichen, die Gesamtheit der Lebensbezüge reflektierenden Sichtweise, wie sie bereits Engel gefordert und von Antonovsky in dem Konzept der Salutogenese ausformuliert wurde [[1],[5]]. Dieses Konzept hat die Weltgesundheitsorganisation in der Ottawa Charter und der Erklärung von Alma Ata aufgegriffen und die nationalen Gesundheitsdienste aufgefordert, sich auf das Ziel eines umfassenden Gesundheitsverständnisses hin auszurichten, welches Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit versteht [[19],[20]]. Hierauf aufbauend ist in Europa 1993 ein Netzwerk von Allgemeinkrankenhäusern gegründet worden [[21]], welches sich verpflichtet hat, Projekte der Gesundheitsförderung in den Kliniken umzusetzen. Zentrales Instrument dieser Strategien ist das Empowerment-Konzept [[4]], also die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten mit dem Ziel, die eigenen Ressourcen zu verstärken und zu aktiver Lebensbewältigung zu befähigen. Herunter gebrochen auf die einzelnen Institutionen soll diese Strategie in drei Arbeitsschwerpunkten umgesetzt werden: 1. Patienten sollen befähigt werden, an der Gestaltung ihrer Gesundheit aktiv mitzuwirken. 2. Mitarbeiter sollen befähigt werden, an der Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen aktiv zu partizipieren. 3. Die Einrichtungen sollen befähigt werden, ihre kooperativen Beziehungen zu anderen Diensten zu verbessern z.B. in Gestalt integrierter Versorgungskonzepte und die Idee der Gesundheitsförderung zu verbreiten. Unter diesem Banner haben sich inzwischen europaweit 600 Kliniken zu einem von der WHO unterstützten Netzwerk zusammen gefunden [[9]].

Wegen der spezifischen Problemstellungen des psychiatrischen Versorgungssystems wurde dann im Jahre 1998 unter diesem Dach die Task Force on Health Promoting Psychiatric Services gegründet, ein Netzwerk, welches inzwischen 100 Mitgliedsinstitutionen umfasst und das von der Walter Picard Klinik in Riedstadt koordiniert wird. Aus dieser Kooperation heraus sind einerseits Leitlinien für die Gesundheitsförderung in psychiatrischen Diensten entstanden und andererseits zahlreiche Modelle guter Praxis der Gesundheitsförderung in der psychiatrischen Versorgung. Die Leitlinien umfassen acht Themenschwerpunkte: Gesundheitsfördernde psychiatrische Dienste sollen 1. den einzelnen Menschen in der Gesamtheit seiner Lebensbezüge betrachten. 2. auf einem ganzheitlichen Konzept von Gesundheit und Krankheit basieren. 3. Die vorhandenen Ressourcen unterstützen und verstärken. 4. die aktive Partizipation und Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit von Patienten und deren Angehörigen fördern. 5. ihre Aktivitäten an menschlicher Würde, Gleichheit und Solidarität unter Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von Gruppen unterschiedlicher kultureller Herkunft innerhalb der Gesellschaft ausrichten. 6. ihr Handeln auf das Wohlbefinden der Patienten, ihrer Familien und der Mitarbeiter ausrichten. 7. gesunde Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter in psychiatrischen Diensten fördern. 8. die Gesamtheit der Gesundheitsdienste insgesamt im Blick behalten und die Kommunikation und Kooperation aller Dienste, die im Bereich seelischer Gesundheit und psychiatrischer Behandlung aktiv sind, fördern [[22]].

Die Umsetzung dieser Leitlinien innerhalb der am Netzwerk beteiligten Dienste manifestiert sich bislang in insgesamt 137 Projekten, welche in den seit 1998 jährlich stattfindenden europäischen Health Promoting Hospitals-Konferenzen [[23]] vorgestellt wurden. Hierzu wurden unter anderem auf der Ebene der Patienten Projekte zur Psychoedukation, zur Arbeitsvermittlung, zur Frühprävention depressiver Störungen und suizidalem Verhalten sowie zu Beratung von Familien mit hohen gesundheitlichen Risiken entwickelt. Auf der Ebene der Mitarbeiter psychiatrischer Dienste sind dies vornehmlich Projekte zur Verhütung von und zum Umgang mit gewalttätigem Verhalten und Projekte zur Verhütung von Burn-out sowie zur Verbesserung der Gesundheit am Arbeitsplatz. Auf der Ebene der Kooperation der Gemeinden wurden unter anderem Modellprojekte zur Verknüpfung psychiatrischer Dienste mit allgemeinen Gesundheitsdiensten und Projekte zur Unterstützung von Patientenselbsthilfeinitiativen entwickelt. Die Netzwerkmitglieder betreiben hierzu eine Reihe von Evaluationsstudien [[12]].

Die Task Force on Health Promoting Psychiatric Services ist zudem Mitglied der EU- Projekte IMHPA und EMIP [[25]] sowie der Mental Health Working Group. Alle drei von der EU finanzierten Projekte befassen sich mit der Implementation von Gesundheitsförderung und Prävention seelischer Krankheiten in Europa. Aus diesen Arbeitsgruppen heraus sind einerseits Leitlinien zur seelischen Gesundheitsförderung und Verhütung seelischer Krankheiten [[24]] entstanden, anderseits das so genannte Grünbuch [[8]] der EU, in dem ebenso wie in der europäischen Erklärung und in dem europäischen Aktionsplan der EU-Gesundheitsministerkonferenz [[14],[15],[26]] Strategien zur Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union formuliert sind. Es steht zu hoffen, dass der jetzt angestoßene Diskussionsprozess die Förderung seelischer Gesundheit und die Prävention seelischer Krankheiten von ihrem bislang eher randständigen Dasein befreit und zukünftig als unabdingbaren Bestandteil des Gesundheitswesens im Allgemeinen und der psychiatrischen Versorgung im Besonderen verankert.

Literatur

  • 40 Antonovsky A . Health, Stress and Coping. London: Jodie Bass, 1979. 
  • 41 Arwood H . The Economic course of mental illness. Virginia: The Leading Group, 2000. 
  • 42 Berger H . Gesundheitsförderung - Ein neuer Weg in der Psychiatrie.  Psychiat Prax. 2003;  30,Supplement 1 S14-20
  • 43 Berger H . What is empowerment of users in the mental health care system, how does it take place and is there any evidence that it can yield better recovery rates and more satisfaction overall within the system. HEN Report, Publication in preparation 2006. 
  • 44 Engel GL . Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit. R. Huber, 1976. 
  • 45 Helmchen H . Psychiatrie im Wandel des Gesundheitssystems.  Nervenarzt. 2004;  75 1049-1052
  • 46 Herrmann H . Saxena S . Modi R . Promoting Mental Health. Geneva: World Health Organisation, 2004. 
  • 47 Kommission der europäischen Gemeinschaften: Grünbuch: Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern - Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der europäischen Union. Brüssel, 2005. 
  • 48 Lobnig H . Krajic K . Pelikan JM . The international WHO-network of Health Promoting Hospitals: State of development of concepts and projects. In: Berger H, Krajic K, Paul R: Health Promoting Hospitals in Practices: Gamburg: Konrad, 1999. 
  • 49 Müller-Isberner R . Freese R . Jöckel D . Gonzales-Cabeza S . Forensic psychiatric assessment and treatment in Germany: Legal framework, recent developments and current practices.  International Journal of Low and Psychiatry. 2000;  23 467-480
  • 50 Ösby U . Time Trend in schizophrenia mortality in Stockholm county, Sweden.  BMJ. 2000;  321-483
  • 51 Pelikan JM . Garcia-Barbero M . Lobnig H . Kraijc K . Pathways to a Health Promoting Hospital: Gamburg: Konrad, 1998. 
  • 52 Reker T . Eickelmann B . Berufliche Eingliederung als Ziel psychiatrischer Therapie.  Psychiat Prax. 2004;  31 S.:251-251
  • 53 Weltgesundheitsorganisation. Europäischer Aktionsplan für psychische Gesundheit. Helsinki: WHO, 2005. 
  • 54 Weltgesundheitsorganisation. Europäische Erklärung zur Psychischen Gesundheit. Helsinki: WHO, 2005. 
  • 55 World Health Organisation. World Health Report 2001. Mental Health: new understanding, new hope. 25. Geneva: WHO, 2001. 
  • 56 World Health Organisation. World Health Report 2001. Mental Health: new understanding, new hope. 27. Geneva: WHO, 2001. 
  • 57 World Health Organisation. World Health Report 2001. Mental Health: new understanding, new hope. 39. Geneva: WHO, 2001. 
  • 58 http://www.who.int/hpr/NPH/docs/declaration_almaata.pdf
  • 59 http://www.who.int/hpr/NPH/docs/ottawa_charter_hp.pdf
  • 60 www.euro.who.int/healthpromohosp/publications
  • 61 www.hpps.net
  • 62 www.hph-hc.cc
  • 63 www.imhpa.net
  • 64 www.emip.baua.de
  • 65 www.euro.who.int

Prof. Dr. med. Hartmut Berger

Ärztlicher Direktor

Walter Picard Klinik

64560 Riedstadt

Email: berger@zsp-philippshospital.de

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