Werden ältere Diabetiker oft zu intensiv behandelt?

Folgt man den Ergebnissen einer US-Studie, ist die Gefahr einer Übertherapie von älteren Diabetikern hinsichtlich des HbA1c-Wertes und des Blutdrucks als nicht gering einzuschätzen. Ein von Jeremy Sussman (University of Michigan, Ann Arbor) angeführtes Forscherteam hatte sich für eine retrospektive Kohortenstudie die Blutdruck-Daten von mehr als 210.000 und die HbA1c-Werte von knapp 180.000 allgemeinärztlich behandelten Diabetikern im Alter ab 70 Jahren beschafft. Überprüft werden sollte, ob deutlich erniedrigte Blutdruck- und HbA1c-Werte zu einer weniger intensiven Behandlung führten. ACCORD-Studie als Ausgangspunkt Die Wissenschaftler gingen dabei von den Erkenntnissen der „Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes“(ACCORD)-Studie aus. In dieser Untersuchung hatte eine intensive Therapie mit einem Ziel-HbA1c < 6,0% im Vergleich zu 7,0–7,9% eine erhöhte Mortalität zur Folge, ohne dass die Rate kardiovaskulärer Zwischenfälle reduziert worden wäre. Eine Blutdrucksenkung unter einen systolischen Wert von 120 statt 140 mmHg war ebenfalls nicht mit einer geringeren Rate tödlicher oder nicht tödlicher kardiovaskulärer Ereignisse assoziiert. Entsprechend sollten, so die Annahme von Sussman und Kollegen, Diabetiker mit derart niedrigen Werten weniger ambitioniert behandelt werden – zumal wenn sie älter sind und eine eingeschränkte Lebenserwartung haben. Das war aber nicht oder allenfalls in geringem Ausmaß der Fall. So war der Blutdruck bei etwa der Hälfte der im Zuge der Studie untersuchten Patienten sehr niedrig (< 120/65 mmHg) oder jedenfalls moderat niedrig (systolisch <120–129 mmHg oder diastolisch < 65 mmHg) eingestellt. Das führte aber nur bei höchstens 19% der Patienten zu einer deintensivierten Medikation. Dabei hatten nur die wenigsten Patienten mit sehr niedrigem Druck (0,2%) bei einer der folgenden Messungen Werte von 140 mmHg oder mehr. Die Rate der Deintensivierung unterschied sich nicht allzu sehr von jener der Patienten, die keinen niedrigen Druck aufwiesen. Wie die Quote von 15,1% in dieser Gruppe zustande kam, ließ sich aus den Daten nicht herauslesen; jedenfalls schied Übertherapie als Grund aus. Kaum Arzneireduktion trotz stabil niedriger Werte Rund jeder fünfte ältere Diabetiker erreichte HbA1c-Werte von < 6,4% oder sogar < 6,0%. Höchstens bei 27% dieser Patienten wurde die Medikation daraufhin heruntergefahren. Das war aber auch bei 17,5% der Patienten der Fall, die höhere HbA1c-Werte aufwiesen. Die sehr niedrigen HbA1c-Werte erwiesen sich zudem als stabil, nur bei 0,8% der Patienten wurden in der Folge Werte von ≥ 7,5% gemessen. Selbst der Zusammenhang der Therapiereduktion mit der geschätzten Restlebenserwartung war nicht sonderlich ausgeprägt. Für Patienten mit fünf verbleibenden Lebensjahren lag die Deintensivierungsrate für die Blutdruck-Medikation bei 19,8%. Bei zu erwartenden fünf bis zehn Jahren erreichte die Quote 16,9%, bei mehr als zehn Jahren 14,7%. Die Anteile für die antidiabetische Therapie lauteten 21,3%, 18,5% und 17,2%. Übertherapie einkalkulieren „Eine Mäßigung der medikamentösen Behandlung aufgrund niedriger Messwerte für Blutdruck und HbA1c ist selten, selbst bei älteren Patienten mit Werten deutlich unter den empfohlenen“, schreiben Sussman und Mitarbeiter in ihrem Resümee. Sie monieren, in den einschlägigen Leitlinien würden einseitig die Gefahren der Unter- und kaum die Risiken einer Übertherapie reflektiert. Ihrer Ansicht nach sollte sich das in Zukunft ändern – und teils hat es das ja auch schon. Denn Ärzte müssten nicht nur den Nutzen, sondern ebenso mögliche Nachteile einer intensiven Therapie ins Kalkül ziehen.

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