Zahlen und Fakten
Die wissenschaftliche Evidenz für einen anthropogenen Klimawandel ist erdrückend. Diese Erkenntnis unterstützen 97 % der wissenschaftlichen, Peer-gereviewten Veröffentlichungen, die zwischen 1991 und 2011 publiziert wurden (Cook et al.
2013; Powell
2011). Doch obwohl ein „Rekordsommer“ mit neuen Maximaltemperaturen auf der Erdfieberkurve dem anderen folgt, wir Menschen immer besser über unser „planetares Hitzeleiden“ informiert sind und uns der Kräfteschwund in Form des „earth overshoot day“ jedes Jahr früher „zu Leibe rückt“, scheinen wir Erdbewohner unfähig zu sein, uns auf einen Therapieversuch im Sinne der konsequenten Reduktion des CO
2-Ausstoßes einzulassen. Ganz so, als ob wir erst einmal ungläubig wissen wollten, an welcher Zahl von erkrankten Erden die getroffene prognostische Einschätzung empirisch validiert wurde.
Die CO
2-Konzentration in der Atmosphäre erreichte bereits 2015 – also im Jahr des Pariser Klimaabkommens – erstmals die symbolische Marke von
400 „parts per million“ (ppm). Mitte des 18. Jh. – also zu Beginn der industriellen Revolution – bewegte sich dieselbe noch in einem Bereich zwischen
275 und 285 ppm. Trotz der unternommenen Regulierungsversuche hat sich die weltweite Emission von CO
2, das neben Vertretern wie Methan (CH
4), Distickstoffmonoxid (N
2O) und gasförmigen Fluorkohlenwasserstoffen (FKW) mit 75 % den Löwenanteil an relevanten Klimagasen ausmacht, zwischen 1970 und 2000 jährlich um jeweils
0,4 Gigatonnen (Gt) sowie zwischen 2000 und 2010 jährlich um jeweils
1 Gt erhöht. Maßgeblich der Verbrennung fossiler Energieträger und industrieller Prozesse geschuldet, erreichte der CO
2-Eintrag in unsere Atmosphäre 2017 zuletzt einen Wert von insgesamt
42,0 Gt. Es ist davon auszugehen, dass die CO
2-Konzentration hiermit die
450-ppm-Marke um das Jahr 2035 und die
500-ppm-Marke um das Jahr 2065 erreichen wird (Keeling
2016).
Resultierende Konsequenzen des CO2-Anstiegs – eine wissenschaftliche Perspektive
Mit Fortschreiten der eingangs geschilderten Entwicklung der atmosphärischen CO
2-Konzentration wären die Ziele des Pariser Klimaabkommens zum Scheitern verurteilt. Die dortige Maßgabe war, den globalen Temperaturanstieg auf deutlich unter die von vielen Wissenschaftlern bereits als bedrohlich angesehenen
2 °C zu begrenzen und Anstrengungen zur Limitierung auf
1,5 °C zu unternehmen. Während jedoch die mittlere Erdtemperatur 2015 im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um etwa
1 °C erhöht war, führt die weiterhin beschleunigte Freisetzung von CO
2 aller Voraussicht nach zu einem Temperaturanstieg von
1,5 °C bis zum Jahr 2030 und von
2 °C bis zum Jahr 2045 (Keeling
2016). Selbst bei der Einhaltung der im Pariser Klimaabkommen von 195 Nationen ratifizierten Selbstverpflichtungen ist davon auszugehen, dass bestenfalls mit einer Begrenzung der Erderwärmung auf
3,0 °C bis zum Ende des Jahrhunderts zu rechnen ist. Kritischere Analysen gehen von einer erreichten Temperaturdifferenz von
5,2 °C im Jahr 2100 aus. Bei einer weiteren unkontrollierten CO
2-Emission muss bereits 2030 eine „als katastrophal einzuschätzende“ Erderwärmung um
3,0 °C in Betracht gezogen werden (Xu und Ramanathan
2017).
Was bedeutet dies? Bereits innerhalb der im Pariser Klimaabkommen angestrebten
2-°C-Grenze werden die unterschiedlichen Bestandteile des Klimasystems empfindlich gestört. Dies betrifft qualitative Veränderungen des „Eissystems“ (z. B. durch Schmelzen des arktischen Sommermeereises, Verlust des Grönland-Eispanzers, Kollaps des westantarktischen Eisschilds, Verschwinden der alpinen Gletscher), des „Strömungssystems“ (z. B. durch Verlangsamung oder „Einrasten“ des planetarischen Jetstream) und des „Ökosystems“ (z. B. durch Verschwinden der tropischen Korallenriffe). Die Zustandsänderungen dieser „Kippelemente“ (Lenton et al.
2008) sind zum einen irreversibel, zum anderen setzen sie schwer einschätzbare weitere Selbstverstärkungsprozesse in Gang. Die Erhöhung der mittleren globalen Erdtemperatur um ca. 4 °C wird
zu Temperaturanstiegen führen, die weite Teile des nördlichen Indiens, des nördlichen Südamerikas, Mittelamerikas sowie der südlichen Sahararegion unbewohnbar werden lassen,
das Aussterben von 40 % der Tier- und Pflanzenarten sowie die Vernichtung des Amazonasregenwalds durch unbeherrschbare Brände zur Konsequenz haben werden,
bis Ende des Jahrhunderts dürrebedingten Ernteeinbußen von bis zu 12 % für Weizen, 6 % für Mais, 19 % für Reis und bis zu 16 % für Sojabohnen mit sich bringen,
bei einem 5‑°C-Szenario einen Anstieg des Meeresspiegels von 7,5 m bis 2200 nach sich ziehen, dem über 50 % der weltweiten Metropolen zum Opfer fallen würden (Marshall
2015).
Die genannten Veränderungen werden zur Folge haben, dass bis 2050 rund 140 Mio. Menschen als Klimaflüchtlinge ihre Heimat verlassen haben werden. Aufgrund der Flüchtlingsströme, der Dürre, des Mangels an Nahrungsmitteln, der Destabilisierung von Wirtschaftsräumen und der wärmebedingten Zunahme kriminellen Verhaltens ist in der Konsequenz nicht davon auszugehen, dass bei einer Temperaturerhörung von 4 °C eine funktionierende Gesellschaftsordnung aufrechterhalten werden kann (Spratt und Dunlop
2019).
Spezifische Charakteristika des Klimawandels – eine kognitionspsychologische Perspektive
Menschen reagieren auf Bedrohungen, die ihre eigene physische Integrität, die der eigenen Familie oder die des „eigenen Stamms“ gefährden, entweder mit Kampf („fight“), mit Flucht („flight“) oder Erstarren („freeze“). Um diese Handlungsmuster auszulösen, müssen die Bedrohungssituationen von uns Menschen jedoch als solche wahrgenommen werden (können). Dazu müssen sie distinkte Merkmale aufweisen: Sie müssen unmittelbar, konkret und unstrittig sein. So bedrohlich der Klimawandel für uns und unsere Zivilisation sein mag, es könnte kaum eine ungünstigere Passung zwischen der Ernsthaftigkeit der Gefährdung einerseits und unserem Sensorium, auf diese vorhandene Gefährdung adäquat mit einer Alarmreaktion antworten zu können andererseits, existieren, denn:
der Klimawandel ist eine elementare, aber schleichende Bedrohung mit fehlender Unmittelbarkeit,
der Klimawandel ist zumeist abstrakt, sehr komplex und aufgrund unzureichender Konkretheit kaum fass- und greifbar,
die Auswirkungen des Klimawandels bleiben vage und sind (oft noch) nicht direkt spürbar.
Diese spezifischen Charakteristika des Klimawandels verleiten uns dazu, dass wir Menschen einer Reihe von Trugschlüssen und (kognitiven) Verzerrungen unterliegen. Wir fokussieren uns auf die unbekannten Unbekannten („unknown unknowns“) statt auf die bekannten Bekannten („known knows“) und verschieben in der Anmutung, dass der Klimawandel eher ein Phänomen der Zukunft ist, auch unsere Gegenmaßnahmen auf zukünftige Zeiten. Dabei ist der Klimawandel eine prozesshafte Realität der Vergangenheit, des Heute, Hier-und-Jetzt und auch der Zukunft.
Der Klimawandel wird von uns Menschen jedoch nicht nur durch die evidente Faktenlage, sondern ganz entscheidend sowohl durch längerfristig erworbene biografisch-lebensgeschichtliche Erfahrungen (z. B. die familiäre und schulische Sozialisation) als auch durch situativ vorherrschende Umgebungsbedingungen (z. B. das Erleben extremer Wetterphänomene; Clayton et al.
2015) beurteilt. Die resultierenden Bewertungsmuster werden als „Bias“ bezeichnet. Beim interpretativen Bias („interpretative bias“) werden vorhandene Informationen entsprechend der persönlichen Grundhaltung interpretiert, während bei einem konfirmatorischen Bias („confirmation bias“) nur diejenigen Informationen überhaupt zur Kenntnis genommen werden, die die eigene Sichtweise und das eigene Narrativ bestärken. Diese kognitiven Verzerrungen können z. B. eine Rolle dabei spielen, dass zwar 90 % der Bevölkerung in Nordamerika, Europa und Japan die Existenz des Klimawandels anerkennen, jedoch nur ein kleiner Bevölkerungsanteil von der vorwiegend menschlichen Genese und der akut drängenden Gefahr überzeugt ist. Entgegen der intuitiv plausiblen Vermutung, dass zumindest Menschen mit Kindern den Klimawandel sehr ernst nehmen würden, zeigt sich tatsächlich, dass diese signifikant häufiger die Existenz des Klimawandels verleugnen. Dies wird als Optimismus-Bias („optimism bias“) bezeichnet, dessen Ursache vermutlich in dem Wunsch begründet ist, die eigenen Kinder als nichtgefährdet zu wissen.
Die kognitiven Verzerrungen deuten darauf hin, dass informations- und kognitionsbasierte Zugänge zum Thema Klimawandel nur eine begrenzte Reichweite besitzen. Dass spezifische Aspekte des Klimawandels und dessen Auswirkungen in ganz unterschiedlicher Weise von Menschen wahrgenommen, verarbeitet und eingebettet werden, liegt also einerseits im individuellen und soziokulturellen Erfahrungshintergrund des Einzelnen sowie in der multivalenten Komplexität der einzelnen Teilaspekte der Klimaproblematik begründet. Zusätzlich führt das der Thematik innewohnende Phänomen des „vertrackten Problems“ („wicked problem“; Rittel und Webber
1973) dazu, dass wir Menschen auf die offensichtliche Bedrohung in keiner Weise adäquat reagieren. Der Aspekt der Multivalenz soll exemplarisch in Tab.
1 am Thema der „Flugzeugmobilität“ verdeutlicht werden. Die dort präsentierten unterschiedlichen Facetten der „Flugzeugmobilität“, deren Vielschichtigkeit und Ambiguität, implizieren wiederum unterschiedliche oder sich möglicherweise (z. T.) widersprechende Lösungsansätze zur Eindämmung ihrer Klimaschädlichkeit. Der Umstand, dass konkrete Lösungsansätze schwierig auszumachen sind oder lediglich Teillösungen eines Problems darstellen, aus deren Umsetzungs- und Lösungsversuchen neue Problematiken resultieren und dieselben deshalb nur bedingt auf breiter Ebene konsensfähig sind, konstituiert ein solches „vertracktes Problem“.
Tab. 1Multivalenz anhand des Beispiels des inländischen Flugverkehrs
I Bewertung und Gewichtung von Menge und Art der emittierten CO2-Äquivalente |
Von 163 Mio. t an CO2-Äquivalent Treibhausgasemissionen, die durch den Verkehr verursacht werden, gehen lediglich 2 Mio. t auf den Inlandsflugverkehr | Ein Inlandsflug von München nach Berlin beansprucht bereits ein Zehntel des Prokopfjahresbudgets an CO2-Äquivalenten |
Nur 3 % der Inlandsflüge beziehen sich auf „Ultrakurzdistanzen“ (<400 km; z. B. von Stuttgart nach Frankfurt a. M.), insgesamt ca. 500.000 Passagiere/Jahr | Eine besonders hohe Klimaschädlichkeit wird den direkt in die Atmosphäre verbrachten Kondensstreifen zugeschrieben |
II Bedeutung und Einordnung der Menge an Fluggästen |
Ein Drittel der Passagiere nutzt den Inlandsflug als Zubringer für einen Interkontinentalflug | Die Inanspruchnahme der Flugmobilität wird ausschließlich von einer „kleinen Elite“ exorbitant in Anspruch genommen, die damit nur fraglich Verantwortung für ihre Emissionen übernimmt |
III Wirtschaftliche Aspekte |
Das Klimaschutzinteresse „kollidiert“ mit Belangen von Unternehmen und Beschäftigten, wobei die positiven Klimaeffekte die negativen wirtschaftlichen Effekte nicht aufwiegen | Der Flugverkehr ist in Deutschland stark subventioniert und nützt damit einem kleinen Zirkel von viel fliegenden „ökonomischen, politischen und kulturellen Eliten“ |
Wenn keine inländischen Zubringerflüge in Anspruch genommen werden, verschieben sich Buchungen zu ausländischen Fluggesellschaften mit Umsteigeflughäfen im Ausland – so wird lediglich die Emissionsbilanz für Deutschland geschönt, und Arbeitsplätze gehen verloren | Ticketpreise von Billiganbietern decken mit den Flugtickets für Inlandflüge nicht einmal die für den Flug entstehenden Kosten |
IV Status- und Weiterentwicklungsaspekte in den verschiedenen Verkehrssektoren |
Der Umstieg vom Autoindividualverkehr auf die Bahn birgt ein höheres Einsparpotenzial an Treibhausgasemission als der Verzicht auf Kurzstreckenflüge | Auch der Inlandsflugverkehr muss drastisch reduziert werden, wenn die bundesdeutschen Klimaziele („near-zero emission“) bis 2050 erreicht werden sollen |
Die Deutsche Bahn hat zu wenig Fahrgastkapazitäten, um alle Fluggäste kompensatorisch aufzunehmen | Der jährliche Effizienzgewinn an CO2-Äquivalent von ca. 1 % kompensiert den Zuwachs an Steigerung des Fluggastaufkommens von ca. 7 % nicht |
Es muss mehr in die sinnvolle Verknüpfung unterschiedlicher Verkehrsmittel und deren Infrastruktur investiert werden | Alle Mobilitätssektoren müssen eine Reduktion im Emissionsaufkommen erwirken, sollen die Klimaschutzziele erreicht werden |
Doch nicht nur die Wahrnehmung und Bewertung des Klimawandels unterliegen kognitiven Verzerrungen, sondern auch die Handlungsmotivation und -bereitschaft werden durch kognitions- und motivationspsychologische Aspekte beeinflusst. Zum Beispiel engagieren sich Menschen bei Energiesparmaßnahmen umso mehr, je deutlicher sie sich selbsttranszendenten Werten verschrieben haben, sich selbst als umweltbewusst einschätzen, sich der Konsequenzen ihres Energiekonsums bewusst sind und sich moralisch zu einem sorgsamen Umgang verpflichtet fühlen und von ihrem Umfeld dabei unterstützt erleben (Clayton et al.
2015). Intrinsische Faktoren wie Werteorientierung, die Möglichkeit, Identität und Status Ausdruck zu verleihen, oder die Symbolik einer Handlung scheinen dabei einen weitaus größeren Einfluss zu haben als extrinsische (z. B. finanzielle) Anreize (Clayton et al.
2015).
Hinzu kommt das Phänomen, dass
bereits bestehende soziale Ungleichheiten oder begrenztere Chancen auf eine positive Veränderung der persönlichen Situation eher hingenommen werden, während Betroffene bei
vorgesehenen Einschränkungen oder einem
noch hinzunehmenden Verzicht besonders sensibel auf Aspekte der subjektiv erlebten Fairness und Gerechtigkeit reagieren (Clayton et al.
2015). Einschränkungen und Verzicht werden bei der Bewältigung der sich klar abzeichnenden Klimakrise eine Rolle spielen müssen (Paech
2018).
Klimawandel – eine konfliktdynamische Perspektive
Die Klimapsychologie beschäftigt sich mit Gefühlen, Abwehrmechanismen, kulturellen Annahmen, Dilemmata und Ressourcen in Bezug auf Klimaveränderungen (Hoggett
2019). Eine der zentralen Fragen ist, wie es uns möglich ist, die eingangs geschilderten Fakten vor uns selbst so zu behandeln, als ob diese nicht existent wären, während wir uns zeitgleich jedoch vollkommen bewusst sind, dass sie gänzlich zutreffend sind. Die Psychodynamik kann hierzu ein tiefgehenderes Verständnis für den offensichtlichen Unterschied zwischen „Wissen und Glauben“ und zwischen „Wissen und Handeln“ ermöglichen. Klassische konflikttheoretische Überlegungen postulieren, dass unbewusste, im Widerstreit stehende innere Motive, Bedürfnisse und Wünsche zu intrapsychischen Konflikten führen. Die innere (vor-) und unbewusste Beschäftigung mit dem Klimawandel sowie seinen Auswirkungen auf unser persönliches, familiäres und (globales) Sozialsystem und unsere gemeinsame Umwelt und der damit einhergehenden (indirekten und direkten) Bedrohung kann tiefgreifende Gefühle von Verlust, Schuld, Angst, Scham, Verzweiflung und Neid hervorrufen (Hoggett
2019). Aufgrund der Unerträglichkeit dieser Affekte müssen diese abgewehrt und aus dem Bewusstsein verbannt werden, denn die umfassende Realisierung des sich abzeichnenden globalen Desasters mit den leidvollen Konsequenzen für all diejenigen, die „uns lieb und wichtig sind“, und die Anerkennung unseres eigenen Beitrags zu dieser Entwicklung wären möglicherweise vernichtender und bedrohlicher für uns als die Anerkennung der Bedrohung selbst. Die Hinnahme eines drohenden „äußeren Untergangs“ gefährdet uns weniger, ist weniger beschämend für uns als der drohende „innere psychische Untergang“ (orientiert an Mentzos
2009). Im gesellschaftlichen Alltag – so die Annahme – manifestieren sich dann eben diese intrapsychischen Prozesse in Form der oben beschriebenen kognitiven Fehlwahrnehmungen und Verzerrungen an der „sozialen Oberfläche“.
Labilisieren sich oben genannte Abwehr‑, Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster, laufen wir Gefahr, in Angst, Depression und Verzweiflung zu geraten und einer Handlungsunfähigkeit im Sinne einer „environmental melancholia“ (Orange
2017) oder „eco-anxiety“ (Reser et al.
2011) ausgeliefert zu sein. – Oder aber: Wir erlangen durch die Wahrnehmung von und die Auseinandersetzung und Konfrontation mit der Realität möglicherweise Mut und Kraft zum aktiven Handeln. Es lässt sich vermuten, dass es u. a. von der Reife persönlichkeitsstruktureller Eigenschaften und von Aspekten der Bindungssicherheit abhängt (s. folgende Abschnitte), welcher dieser beiden skizzierten Wege bestritten wird und dass ihre oben skizzierte thematische Ausgestaltung durch individuelle biografische und situative Faktoren mitbedingt ist. Das eigentlich Trennende zwischen der Verleugnung und der Anerkennung des Klimawandels mag jedenfalls nicht in der Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung oder in der Analyse, Bewertung und Beurteilung notwendiger Konsequenzen in Bezug auf den Klimawandel zu sehen sein, sondern in der Art des Umgangs mit dem uns allen gemeinsamen und verbindenden innersten Wunsch: das eigene (innere) Leben, die Familie und den „eigenen Stamm“ zu schützen (Marshall
2015).
Klimawandel – eine strukturdynamische Perspektive unter Einbezug gesellschafts- und wirtschaftsdynamischer Aspekte
Die Persönlichkeitsstruktur bezeichnet in der psychodynamischen Psychotherapie „das ganzheitliche Gefüge von psychischen Dispositionen. Diese umfassen alles, was im Erleben und Verhalten des Einzelnen regelhaft, repetitiv abläuft (bewusst oder bewusstseinsfern)“. Im Vordergrund stehen psychologische Funktionen, die die Basis für einen angemessenen und flexiblen Umgang mit sich und wichtigen anderen darstellen (Arbeitskreis OPD
2006). Im Folgenden werden ausgewählte Strukturmerkmale sowohl im Hinblick auf das Individuum als auch extrapolierend im Hinblick auf die „strukturelle Reife der Gesellschaft“ beleuchtet.
Es stimmt zwar: Seit August 2018 demonstrieren freitags – inspiriert durch Greta Thunberg – weltweit bis zu 1,78 Mio. Schüler der Bewegung „Fridays for Future“ (
www.fridaysforfuture.de). Als „scientists for future“ (
www.scientists4future.org) validierten 26.802 Wissenschaftler die Berechtigung und Legitimität der Zukunftssorgen und -ängste der Schüler (Hagedorn et al.
2019). Psychotherapeuten bekennen sich als „psychotherapists for future“ (
www.psychotherapistsforfuture.org). Doch abseits kanalisierter Ströme, zwischen den Leitplanken der sozialen Toleranz und Legitimation sowie punktuell (strategisch) wohlbedacht dosierter Zustimmung anderer, herrscht im Wesentlichen eines vor: Stille. Es herrscht die kollektive soziale Norm des Schweigens: Bis vor wenigen Jahren hat lediglich ein Viertel der Menschen nie den Klimawandel mit einem Gegenüber thematisiert oder diskutiert – das einflussreichste Narrativ des Klimawandels ist und bleibt (vorerst) das „Nicht-Narrativ der kollektiven Stille“ (Marshall
2015), v. a. im Hinblick auf die resultierenden Handlungskonsequenzen.
Diese kollektive Stille, die kollektive Tabuisierung hat deutliche Ähnlichkeiten zu dem anderen großen Tabu unserer Gesellschaft: unserem Umgang mit dem Älterwerden, mit Krankheit und Tod. Die Sterbephase in Bezug auf unsere „Hitzeerkrankung“ ist am ehesten mit dem Stadium des „Nicht-wahrhaben-Wollens“ nach Kübler-Ross (
1971) treffend beschrieben. Dieser maladaptive Umgang mit der Endlichkeit des Individuums spiegelt sich in unserem gesellschaftlichen Umgang mit der Klimaproblematik.
Diese Aspekte sind eng mit der Selbstwertregulation verknüpft (Arbeitskreis OPD
2006). Die gesellschaftliche medial geprägte (Wunsch‑)Identität und die zur Regulation des Selbstwerts zur Verfügung stehenden Instrumente gründen sich auf einem forcierten Individualismus, einer Fokussierung auf die individuelle Selbstoptimierung und einem „entgrenzten“ Konsumverhalten. In dessen Zentrum stehen (Konsum‑)Produkte, die zu einem identitätsstiftenden Kommunikationsinstrument geworden sind (Paech
2018) und uns im Sinne eines „falschen Selbst“ bekleiden. In einer techniküberzeugten „narzisstischen Egozentrik“ verfügen wir über die Welt und entfremden uns zeitgleich von ihr (Le Feuvre
2012). Die Orientierung an den Werten des „Gemeinsamen, Sozialen und Kollektiven“ hat sich in Richtung der Werte des „Selbst, des Persönlichen und der Individualität“ verschoben.
Machbarkeitsüberzeugungen und Omnipotenz prägen auch die allseits prominente Überzeugung, dass ein „technical fix“ möglich sein wird, der Klimawandel also durch technische Lösungen, über Innovation und Kompetition „gelöst“ werden kann. Zwar stellen technische Innovationen eine der relevanten Säulen in der Bekämpfung des Klimawandels dar bzw. werden sie darstellen. Bei der näheren Beschäftigung z. B. mit Themen des „solar radiation management“ und der „Carbon-capture“-Verfahren zeigt sich aber, dass die globalen Nebeneffekte des „global climate engineering“, bei dem regelmäßig Millionen Tonnen von Schwefel in die Stratosphäre verbracht werden, kaum abschätzbar sind. Carbon-capture-Verfahren, die CO
2 direkt aus der Luft filtern, weisen einen extrem hohen Energiebedarf auf und sind sehr kostenintensiv. Auch um eine „Massentauglichkeit“ der Elektromobilität zu erreichen, müsste die bundesweite Netzleistung für die Breite der Bevölkerung um ein Vielfaches erhöht werden. Dies bedeutet, dass diese „idealisierten Lösungen“ z. T. mit extremen Unwägbarkeiten, massiven Problemen und assoziierten Gefahren verknüpft sind (Marshall
2015).
Das Verlangen nach sofortiger Befriedigung von Bedürfnissen und die unzureichende Kontrolle über kaptative Impulse (Arbeitskreis OPD
2006) äußern sich in einem ungezügelten, entgrenzten „Habenwollen“, sich Be- und Ermächtigen sowie Konsumieren (Orange
2017). Das Resultat ist eine verschlingende „Oralisierung der Welt“ als Produkt einer Erziehung unserer Kinder ohne angemessene Frustrationsherausforderungen, ohne Bedürfnisaufschub und mit unzureichenden wertebildenden Informationen. Unser Wohlstandsmodell hat sich in eine Wachstumsabhängigkeit manövriert, die auf ökologischer Plünderung sowie Plünderung und Versklavung von
Mitmenschen (Global Slavery Index
2018) basiert und in Deutschland 11 t CO
2/Kopf und Jahr verschlingt (WBGU Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
2009).
Der Versuch, das wirtschaftliche Wachstum durch „Effizienzsteigerung“ und „Erhöhung der Konsistenz“ von dieser Plünderung zu entkoppeln, ist laut Wirtschaftswissenschaftlern, die sich mit der „Postwachstumsökonomie“ beschäftigen mit der Schwierigkeit behaftet, dass eingesparte Ressourcen im Sinne von „Rebound-Phänomenen“ infolge meist anderen Wirtschaftsprozessen zugeführt werden und diese notwendigen Anstrengungen deshalb besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Diese Wirtschaftsexperten fordern einen Weg vom „Objekt“ zum „Subjekt“ mit einer Reduktion der industriellen Produktion sowie Wiederherstellung einer ökologischen und sozialen Stabilität. Diese umfasst die Aufhebung der räumlichen Entgrenzung von Produktionsketten, eine Ökologie der Nähe, eine Abfederung potenzieller Wachstumszwänge sowie partielle Selbstversorgung. So schwer vorstellbar, so unwahrscheinlich, so unglaublich die Realisierung – die Frage scheint nicht, ob, sondern lediglich, wie wir dorthin gelangen: „by design or by disaster“ (Paech
2018). Bewegungen wie Extinction Rebellion stellen die weithin gesellschaftlich verankerte Haltung, dass die Bedürfnisse eines Individuums über denen des „Kollektivs“ stehen, grundlegend infrage.
Die psychoanalytische Literatur hat sich ausführlich mit der Natur, den Auswirkungen des Holocaust und dem Umgang damit befasst (Passett und Modena
1987). Die heutige, aktuelle Krise besitzt im Hinblick auf das „kollektive Wegschauen“ und die Billigung der drohenden Auslöschung ganzer Völker laut einiger Autoren eine „äquivalente Dimension wie die durch das Naziregime hervorgebrachte Krise“ (Orange
2017). Die Opfer haben durch die einzigartige Dimension der Brutalität und Menschenverachtung des NS-Regimes unermessliches Leid erfahren. Auch in diesem Moment stehen wir „einer immanenten Bedrohung durch nichts weniger als der Auslöschung unserer zivilisatorischen Existenz gegenüber; […] die Ärmsten [sind] bedroht durch unseren eigenen Konsum und unsere eigene Abhängigkeit von den Vorzügen und dem Komfort, den uns die fossilen Energieträger ermöglichen“ (Orange
2017). Damit stehen wir als globale Gesellschaft auch vor der Frage, ob wir den Wert eines Menschen nur nach seinem (monetären) Besitz bemessen wollen, erneut – wie zur Zeit des Nationalsozialismus – vor der Frage „Was kann ich tun – gegen so viele?“, und – wieder – vor der Frage, ob wir zu „Rettern“ oder „Bystandern“ werden. Bleiben wir auf dem anvisierten Kurs, werden wir die „Zäune noch höher ziehen müssen“, laufen Gefahr, in einen Prozess der Degeneration hin zu einem „Krieg aller gegen alle“ einzutreten und noch mehr „Brüder und Schwestern ertrinken, verhungern und verbrennen lassen“ (Orange
2017), wie wir dies z. B. in der aktuellen Flüchtlingsdynamik ohnehin schon zu tun bereit sind (Borcsa und Nikendei
2017). Doch das CO
2 kennt keine Abschottung, es erkennt Ländergrenzen nicht an: der „Panhomizid“ wird so zum „Pansuizid“.
Klimawandel – eine psychotraumatologische Perspektive
Traumata und psychische Folgeerscheinungen von Traumatisierung können sich bei Opfern, aber auch Tätern klinisch manifestieren. Traumaereignisse können in räumlich-zeitlich fragmentierte Erinnerungen, Vermeidungsverhalten, Arousal und Dissoziation münden. Der Organismus kann mit den beschriebenen Reaktionen Kampf („fight“) und Flucht („flight“) auf eine Gefährdungs- oder Alarmreaktion regieren. Gelingt weder die Flucht noch eine Verteidigung, kann ein Erstarren („freeze“) resultieren. Auch das Klimatrauma, die Bedrohung der physischen Integrität des Selbst und von Mitmenschen durch die Auswirkungen des Klimawandels, kann paralysieren, uns als Miturheber des Klimawandels erstarren lassen. Es entmachtet unsere Anspruchsüberzeugung und raubt uns unsere Zukunftsvisionen (Orange
2017). Wir sind als Täter traumatisiert durch das, was wir der Welt, unseren Kindern, den Mittellosen, „unseren Brüdern und Schwestern“ angetan haben – eingereiht in das historische Erbe des Kolonialismus, des Nationalsozialismus, des Rassismus und der Sklaverei (Hoggett
2019). Dies mündet in die Dissoziation, die der Forschung erlaubt, Studien durch Ölfirmen finanzieren zu lassen, und Politikern erlaubt, den Klimawandel als „größte Gefahr des 21. Jahrhunderts“ zu bezeichnen und zeitgleich Ölreserven in der Arktis zu erschließen. Klimaforscher diskutieren tagsüber die „Extinktion der Schwertfische“ und essen abends Schwertfische. Die Dissoziation ermöglicht uns, unseren Fleischkonsum zu reduzieren, aber wie andere 66,2 Mio. deutsche Bundesbürger im Sommerflugplan 2018 einen internationalen Flug in Anspruch zu nehmen. Oder wie manche Opfer von Klimakatastrophen zu verharren, Zerstörtes zu rekonstruieren und einfach so weiterzumachen, in der Annahme, dass es einen „nicht nochmals erwischen wird“. Doch wenn wir Mitverursacher die Existenz und Mitbeteiligung an einem Verbrechen anerkannt haben und die Betroffenheit durch den Klimawandel auch als „Opfer“ realisieren, gibt es keine Möglichkeit mehr, ein „Bystander“ zu sein (Marshall
2015). Und wenn wir nicht gänzlich in Panik geraten, bergen die Anerkennung und das Realisieren eine Chance, dass wir in puncto Menschlichkeit eine Lektion erfahren, die uns unsere Vergangenheit reevaluieren und unsere Zukunft kritisch überdenken lässt (Orange
2017).
Klimawandel – „where to go from here?“ und die mögliche Rolle von Psychotherapeuten und Psychotherapie
Was die Menschheit erreichen muss: Wollen wir die Pariser Klimaziele erreichen, müssen wir unsere durchschnittliche CO
2-Reduktion von 11,0 t vorerst auf ca. 2,7 t/Jahr und Bundesbürger reduzieren (WBGU Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
2009). Bis zum Jahr 2050 müssen wir die CO
2-Emission weltweit auf 0 t oder sogar auf Negativemissionen reduzieren (!). Sonst werden die schmerzhaften „Widerfahrnisse“ unserer Alltagsrealität selbst unsere besten Lehrmeister, unsere „teachable moments“ werden – vom Verfügbarkeitsbias („availability bias“) vor uns selbst hergetrieben (Marshall
2015). Oder wir „entscheiden“ uns, den Herausforderungen dieser „historischen Unbewusstheit“ entgegenzutreten (Orange
2017). Hierzu bedarf es einer gelungenen, bedachten Kommunikation, einer radikalen (Gesellschafts- und Wirtschafts‑)Ethik und Psychotherapeuten, die für Opfer und Täter zur Verfügung stehen, diese in die Handlungsfähigkeit begleiten, „Farbe bekennen“ und im besten Fall mit ihrem CO
2-Abdruck (
www.eingutertag.org) „Vorbild“ sind.
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