Polioverwandtschaft schlägt immer häufiger zu

Alle zwei Jahre werden zum Herbstbeginn in den USA und Europa vermehrt Polio-ähnliche Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Die Zahl der Betroffenen scheint mit jeder Welle zu steigen. Das Poliovirus ist zwar weitgehend ausgerottet, dennoch wird seit fünf Jahren wieder eine Art Kinderlähmung in westlichen Industrieländern beobachtet. Hatten Ärzte in den USA im Jahr 2014 noch 120 solcher Erkrankungen in 34 US-Staaten registriert, waren es 2016 bereits 149 und 2018 insgesamt 228 Fälle in 43 US-Staaten, berichtete Dr. Teri Schreiner von der Kinderklinik in Aurora auf dem Kongress der American Academy of Neurology (AAN) in Philadelphia. In ungeraden Jahren werden dagegen kaum Fälle der als „akute schlaffe Myelitis“ (acute flaccid myelitis, AFL) bezeichneten Erkrankung beobachtet. Enterovirus D 68 in der Nase nachgewiesen Charakteristisch für AFL ist eine fokale asymmetrische Muskelschwäche oder Lähmung, die sich über Stunden bis Tage hinweg entwickelt. Meist sind die oberen proximalen Extremitäten betroffen, Reflexe verschwinden, die Sensorik bleibt aber intakt, transient können auch Schmerzen und Blasenprobleme auftreten, selten eine Enzephalopathie, erläuterte Schreiner. Typischerweise geht den Beschwerden eine fiebrige Atemwegs- oder Magendarminfektion voraus; die Betroffenen sind primär Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Die Neurologin nannte auf dem Kongress als Beispiel einen 18-jährigen Fußballspieler, der fünf Tage nach einem fiebrigen Atemwegsinfekt plötzlich eine Dysphagie sowie eine Dysphonie entwickelte und über Rückenschmerzen klagte. Die Ärzte fanden eine niedrig hängende Uvula und behandelten mit oralen Steroiden. Schließlich wachte der Mann zehn Tage nach der Infektion mit einer schwachen Halsmuskulatur sowie einer Schwäche im linken Arm auf. Die Stimme war hypophon, der Gaumen ebenfalls geschwächt. Die Ärzte entschieden sich für eine umfangreiche Serum-, Liquor- und MRT-Untersuchung, wobei sie im Liquor nur eine etwas erhöhte Lymphozytenzahl detektierten, jedoch keine typischen ZNS-Erreger oder oligoklonale Banden. Im Serum entdeckten sie lediglich EBV-Antikörper, aber keine Erreger, welche die Symptome erklären konnten. Das MRT zeigte hingegen ausgeprägte Läsionen in der grauen Substanz vom thorakalen Rückenmark bis zur Pons. Stuhlproben und rektale Abstriche waren ebenfalls unauffällig, fündig wurden die Ärzte schließlich in der Nase: Hier konnten sie per PCR ein Befall mit Enterovirus D68 (EV68) nachweisen. AFL-Erkrankungen mit Enteroviren auch in Deutschland EV68 gehört zu einer Gruppe von einzelsträngigen RNA-Viren, die auch das Poliovirus einschließt. Das Enterovirus wurde in den 1960er-Jahren entdeckt und führt weltweit gelegentlich zu lokal begrenzten Ausbrüchen von Atemwegsinfekten und AFL. Beim Ausbruch 2014 sind in den USA mehr als 700 Personen aufgrund einer EV68-Infektion stationär aufgenommen worden, fünf starben. Während der Saison im Jahr 2016 wurden in Deutschland 16 Fälle von AFL dem Robert-Koch-Institut gemeldet, bei rund der Hälfte konnten Enteroviren nachgewiesen werden. Die AFL-Dunkelziffer könnte jedoch deutlich höher sein, da viele Erkrankungen nicht gemeldet oder korrekt diagnostiziert werden. Neben dem Enterovirusnachweis kann die Bildgebung deutliche Hinweise auf eine AFL geben, erläuterte Schreiner. Typisch, so die Neurologin, sind ausgedehnte longitudinale T2/FLAIR-Hyperintensitäten, die sich über das gesamte Rückenmark bis in den Hirnstamm erstrecken können und zumeist den Bereich C2–C8 umfassen. Das MRT-Signal kann sich im Laufe von Tagen bis Wochen auf die Vorderhornzellen und Nervenwurzeln verlagern, nach einigen Monaten verschwinden die Läsionen mitunter wieder. Eine wirksame Therapie sei bislang nicht verfügbar, so Schreiner. Intravenöse Immunglobuline hätten sich in einem Mausmodell als hilfreich erwiesen, Steroide eher als schädlich. Ärzten bleibe daher bislang oft nur eine supportive Behandlung und die Reha nach überstandener Infektion. Letztere wird jedoch nicht immer von Erfolgen gekrönt. Bei dem Fußballspieler blieb eine ausgeprägte linksseitige Motoneuropathie zurück, was zu einer starken Atrophie der linken Oberarmmuskulatur führte. 13.05.2019 | AAN-Jahrestagung 2019 | Nachrichten Polioverwandtschaft schlägt immer häufiger zu 31.05.2019 | AAN-Jahrestagung 2019 | Nachrichten Diagnose- und Prognosehelfer der Zukunft? 29.05.2019 | AAN-Jahrestagung 2019 | Nachrichten Multiple Sklerose: Viel versprechende Pipeline 15.05.2019 | AAN-Jahrestagung 2019 | Nachrichten Multiple Sklerose: Eintritt in die Progression verhindern? 13.05.2019 | AAN-Jahrestagung 2019 | Nachrichten Erfolge mit Antikörpertherapien bei NMO Quelle: American Academy of Neurology, Annual Meeting 2019, May 4-10, Philadelphia. Contemporary Clinical Issues Plenary Session, May 6th 2019.

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