Hirngesundheit auch für 100-Jährige essenziell

Auch für 100-Jährige gilt: Je mehr neuropathologische Veränderungen, umso höher ist das Demenzrisiko. Der Zusammenhang wird im hohen Alter nicht wie angenommen schwächer, sondern scheint sich sogar noch zu verstärken. Ein biblisches Alter von über 100 Jahren erreichen heute dank Wohlstand und Medizin immer mehr Menschen: Bis zum Jahr 2100 könnte deren Zahl Prognosen zufolge um das 50-Fache zunehmen, erläuterte Dr. Raumin Neuville von der Universität in Irvine in Kalifornien auf dem virtuellen Kongress der amerikanischen Neurologenvereinigung AAN. Wie viele der 100-Jährigen dann noch kognitiv gesund sind, lässt sich nur schwer sagen, heute haben aber vier von zehn in diesem Alter eine Demenz, und diese hängt auch bei den Hundertjährigen sehr stark an neuropathologischen Veränderungen. Darauf deuten Post-mortem-Analysen der Studie 90+, die Neuville auf der Tagung vorgestellt hat. Der Zusammenhang ist nicht ganz trivial: So hatten viele Untersuchungen mit zunehmendem Alter eine geringere Bedeutung neuropathologischer Befunde für das Demenzrisiko nahegelegt, schlicht, weil fast alle alten Menschen solche Veränderungen entwickeln, sie sind daher weniger prädiktiv als bei jüngeren Menschen. Allerdings wurden in solchen Studien meist Personen im Alter von unter 70─80 Jahren mit Älteren verglichen, auch haben die Pathologen oft nur nach bestimmten Veränderungen geschaut, etwa Zeichen einer Alzheimerpathologie wie Amyloidplaques und Neurofibrillen. In der Studie 90+ sind hingegen alle Teilnehmer älter als 90 Jahre. Ein Team um Neuville analysierte, ob sich hier ebenfalls der Zusammenhang zwischen Neuropathologien und Demenz mit dem Alter abschwächt. Letztlich war jedoch das Gegenteil der Fall. Kaum noch jemand ohne neuropathologische Befunde Die Forscher konnten pathologische Befunde von 388 Hochbetagten aus Kalifornien auswerten. 100 waren im Alter von 100 oder mehr Jahren gestorben – im Schnitt mit 102 Jahren, 288 im Alter von 90─99 Jahren – im Mittel mit knapp 96 Jahren. Jeweils 47% und 44% hatten zum Zeitpunkt des Todes eine Demenz. Untersucht wurden die Gehirne der Verstorbenen auf Alzheimer-typische Veränderungen, eine zerebrale Amyloidangiopathie (CAA), eine Lewy-Körperchen-Erkrankung (DLB), eine TDP-43-Pathologie, eine Sklerose der Arteriolen im Gehirn, Mikroinfarkte sowie eine Hippocampussklerose. Praktisch alle diese Veränderungen haben die Pathologen etwas häufiger bei den über als bei den unter 100-Jährigen entdeckt. So wiesen 75% der über 100-Jährigen und 71% der unter 100-Jährigen eine Alzheimerpathologie auf, eine TDP-43-Pathologie fand sich bei jeweils 69% und 55%, eine Hippocampussklerose bei 15% und 11%. Auch zeigten die über 100-Jährigen häufiger multiple Pathologien: 60% hatten drei oder mehr dieser Auffälligkeiten, aber nur 45% im Alter von unter 100 Jahren, und jeweils nur 2% und 5% der Verstorbenen wiesen überhaupt keine neuropathologischen Befunde auf. Wie erwartet, korrelierte die Zahl der Pathologien klar mit einer Demenz: Unter 100-Jährige mit drei verschiedenen Pathologien haben den Berechnungen der Forscher um Neuville zufolge ein zweieinhalbfach höheres Demenzrisiko als solche mit nur eine Pathologie, bei über 100-Jährigen ist das Risiko mit drei Pathologien jedoch verzwölffacht. Vier Pathologien gehen bei 90-plus-Personen mit einem vierfach, im Alter von 100 Jahren jedoch mit einem 64-fach erhöhten Demenzrisiko einher. Zumindest bei Hochbetagten scheint die Zahl der neuropathologischen Veränderungen noch stärker das Demenzrisiko zu bestimmen als bei weniger alten Menschen. Wie passt das ins bisherige Verständnis? Vielleicht lässt sich hier eine Art U-Kurve beschreiben: Junge Alte habe selten ausgeprägte neuropathologische Veränderungen, und falls doch, sind sie häufig Zeichen eines beschleunigten neurodegenerativen Prozesses. Im Alter von 70–80 Jahren entwickeln viele Menschen altersbedingte Demenzpathologien, aber nicht alle gleich eine Demenz – der Zusammenhang schwächt sich ab. Im hohen Alter machen sich diese Pathologien bei den Überlebenden aufgrund schwindender struktureller Reserven dann wohl verstärkt bemerkbar. Quelle: American Academy of Neurology (AAN) 2022 Annual Meeting Virtual Experience, April 24–26. S1 – Abstracts of Distinction 1. Raumin Neuville: One Hundred Centenarians: Brain Pathology and Relationship to Dementia in The 90+ Study. Empfehlung der Redaktion AAN 2022 Kongressdossier zum Annual Meeting der American Academy of Neurology Die aktuelle Berichterstattung zum 74. Annual Meeting der American Academy of Neurology (AAN) in Seattle finden Sie in unserem Kongressdossier. Darin: Neue Therapieansätze für das Rett-Syndrom, Myasthenia Gravis und MS. Und: Vier Fälle zeigen die diagnostischen Herausforderungen demenzieller Erkrankungen.

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