Am Rande des Chaos

Psychedelika treiben das Bewusstsein an den Rand des Chaos. Für Depressive mit festgefahrenen negativen Gedanken und Selbsteinschätzungen ist dies ein Segen: Werden alte Denkmuster kurzfristig pulverisiert, eröffnen sich neue Perspektiven. Es gibt eine simple pharmakologische Erklärung für die Wirkweise von Psychedelika: Sie stimulieren alle den Serotonin-2A-Rezeptor im Gehirn, und der ist daran beteiligt, wie wir etwas wahrnehmen und welche Bedeutung dies für uns hat. Doch die einzelnen Psychedelika wirken sehr unterschiedlich, und weshalb sie bei einigen Menschen nach einer einmaligen Einnahme zu tiefgreifenden und anhaltenden Veränderungen der Wahrnehmung oder vielmehr der Bedeutungszumessung führen, lässt sich nicht so einfach erklären. So ist trotz jahrzehntelanger Forschung noch weitgehend unklar, was genau im Gehirn unter Einfluss von Serotonin-2A-Agonisten passiert. Es gibt noch eine andere, eher systemtheoretische Erklärung, die sich ebenfalls recht einfach zusammenfassen lässt: Psychedelika treiben das Wachbewusstsein an den Rand des Chaos: Plötzlich etablieren sich ungewöhnliche Netzwerke, festgefahrene Gedanken lösen sich, neue Ansichten und Perspektiven kommen zum Vorschein. Befand sich das Bewusstsein zuvor in einem destruktiven Status, macht die Auflösung der alten Ordnung den Weg frei für einen Neustart. Doch das ist zunächst nur eine Theorie. Zu verstehen, wie Psychedelika tatsächlich unser Bewusstsein verändern, ist letztlich alles andere als simpel. Die Entropie nimmt zu – vor allem unter Psychedelika Neue Impulse zur Psychedelikaforschung kommen primär aus der funktionellen Bildgebung, und da sich hier viel um Netzwerke und deren Interaktion dreht, landet man schnell bei Begriffen, die der Beschreibung komplexer nichtlinearer Systeme dienen, zu denen das menschliche Gehirn ohne Zweifel zählt: Hier geht es um Chaos, Entropie oder kritische Systemzustände. Professor Robin Carhart-Harris vom Imperial College in London, eine der Ikonen der modernen Psychedelikaforschung, hat passend dazu anhand von Experimenten mit Psilocybin und ähnlichen Drogen die Hirn-Entropie-Hypothese (entropic brain model) entwickelt. Entropie als Maß für die Unordnung oder Chaos wird hier auf Bewusstseinszustände und die spontane Hirnaktivität bezogen. Carhart-Harris geht davon aus, dass das Bewusstsein einen Zustand zwischen absoluter Ordnung und reiner Zufallsaktivität annimmt. Konkret heißt das: Unsere Gehirne sind geordnet genug, um Gewohnheiten zu entwickeln, mit denen wir ohne großen Aufwand Standardsituationen meistern, gleichzeitig aber flexibel genug, um Neues zu testen und auf ungewohnte Situationen zu reagieren. Starre und geordnete Bewusstseinszustände dominieren bei konditioniertem und gewohnheitsmäßigem Handeln – hier ist die funktionelle Vernetzung zwischen bewusstseinsrelevanten Kortexarealen und kortikalen Netzwerken gering, die Entropie niedrig. Solche niedrig-entropischen Zustände mit geringer funktioneller Konnektivität werden unter anderem bei Depressionen, Zwangsstörungen und festgefahrenen Verhaltensmustern beobachtet. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen hochentropische Zustände mit hoher Konnektivität wie REM-Schlaf oder akute Psychosen. Nach diesem Modell tendieren Schizophreniekranke eher zu beruhigenden und Entropie-senkenden Substanzen wie Alkohol und Nikotin, auf der anderen Seite profitieren Menschen mit Depressionen, Anorexie, körperdysmorphen Störungen, übertriebenen Ängsten oder Suchterkrankungen von Entropie-steigernden Wirkstoffen wie Psychedelika, was inzwischen eine ganze Reihe von Studien von Carhart-Harris und anderen zeigen. Ein gesunder Bewusstseinszustand liegt danach irgendwo zwischen übertriebener Ordnung und völligem Chaos. Fenster für mehr Plastizität Doch was genau passiert mit den Netzwerken, wenn etwa unter dem Einfluss von Psychedelika die Entropie zunimmt? „Solche Substanzen öffnen vermutlich ein Fenster für mehr Plastizität, also die Fähigkeit des Gehirns, geformt und gestaltet zu werden“, erläuterte Carhart-Harris auf der Jahrestagung der Amerikanischen Neurologengesellschaft AAN in Denver. Dieses Fenster, diese Gestaltungsbereitschaft, lasse sich durch eine psychotherapeutische Begleitung nutzen, um schädliche Denk- und Verhaltensmuster offen- und abzulegen. Die Entropie von Bewusstseinszuständen selbst ist jedoch keine Hypothese, sondern ein per fMRT messbarer Faktor, der eine Desintegration, Desegregation und Desynchronisation höherer kortikaler Netzwerke markiert: Steigt die Entropie, nimmt einerseits die spontane Hirnaktivität zu, anderseits bilden sich multiple neue Verknüpfungen. Die einzelnen Hirnareale scheinen wild und ungeordnet miteinander zu kommunizieren, was mit einem recht komplexen Bewusstseinserleben einhergeht. Solche Effekte lassen sich unter Psychedelika in der fMRT gut darstellen. Dabei kollabiert vor allem das Ruhezustandsnetzwerk (Default Mode Network, DMN), welches nicht zuletzt für die Etablierung eines kohärenten Selbstgefühls nötig ist. Das erkläre die „Ich-Auflösung“ und das Gefühl, mit dem Universum eins zu sein, erläuterte Carhart-Harris. Räumlich korrelieren solche Phänomene gut mit der Verteilung der Serotonin-2A-Rezeptoren im Gehirn. So lässt sich unter LSD und Psilocybin in der fMRT vor allem dort eine Entropiezunahme nachweisen, wo auch die Dichte dieser Rezeptoren hoch ist. Befreiung der Hirndynamik Interessant ist, so der Neurowissenschaftler, dass sich eine gewisse Desegregation von Netzwerken auch noch drei Wochen nach einer Psychedelikabehandlung, nicht aber während einer Escitalopram-Therapie nachweisen lässt. Die messbare Abnahme der Segregation bzw. Modularität von Netzwerken ging in Studien mit einer besseren antidepressiven Wirkung und bei gesunden Probanden mit einem stärkeren psychischen Wohlbefinden einher. Carhart-Harris interpretiert dies als eine Art Rekalibrierung von Netzwerken: Eine Psychedelikatherapie hebt den einseitigen Fokus des depressiven Gehirns auf zwanghafte negative Gedanken kurzzeitig auf – die entsprechenden Netzwerke brechen mit zunehmender Entropie zusammen, was andere Gedanken und Einsichten zulässt, danach formieren sie sich neu. „Die gefesselte Hirndynamik wird wieder befreit“, so der Experte, die Betroffenen können anschließend leichter zwischen verschiedenen Gedanken und Einsichten wechseln. Dabei zeigt sich ein weiterer Zusammenhang: Je stärker die Entropie der spontanen Hirnaktivität unter Psychedelika zunimmt, umso schwächer sind Wochen später negative Selbsteinschätzungen wie „ich kann nichts“ oder „ich bin ein Versager“. Die Entropie wäre somit auch ein Biomarker für die Therapieresponse, oder, wie es Carhart-Harris ausdrückt, einen entspannteren Umgang mit dem eigenen Ego. Quelle: 76th Annual Meeting of the American Academy of Neurology, Denver, April 13-18, 2024. PL6 – Frontiers in Neuroscience Plenary Session. Robin Carhart-Harris: Psychedelics in Clinical Neurology.

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