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Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 5/2014

01.09.2014 | Leitthema

Ableitung von Grenzwerten auf der Grundlage von epidemiologischen Studien

verfasst von: Prof. Dr. A. Seidler, M.P.H.

Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie | Ausgabe 5/2014

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Zusammenfassung

Die arbeitsmedizinische Epidemiologie leistet einen wichtigen Beitrag zur Ableitung präventiver Arbeitsplatzgrenzwerte wie auch zur Ableitung von Grenzwerten für die Anerkennung und Kompensation von Berufskrankheiten. Die Ableitung präventiver Arbeitsplatzgrenzwerte (Risikoakzeptanzkonzept, auch Ampelkonzept genannt) durch den Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) basiert wesentlich auf absoluten Risiken. Eine Erhöhung des absoluten Erkrankungsrisikos um derzeit weniger als 4 pro 10.000 Personen wird als akzeptabel angesehen (grüne Ampel), eine Erhöhung des absoluten Erkrankungsrisikos um mehr als 4 pro 1000 Personen als nicht mehr tolerabel (rote Ampel). Demgegenüber kommt für die Ableitung von Grenzwerten im Berufskrankheitenrecht dem relativen Risikobegriff eine zentrale Bedeutung zu. Dies trifft insbesondere auf das Verdopplungsrisiko zu, das der Abschätzung einer Verursachungswahrscheinlichkeit von 50 % zugrunde liegt. Im Folgenden werden grundsätzliche Probleme der Grenzwertableitung betrachtet und konkrete Lösungsansätze zur Diskussion gestellt.
1.
Das Ampelprinzip stellt eine Abkehr vom Zero-risk-Konzept dar. Hier wird für einen offenen Diskurs des Themas präventive Schutzbedarfe plädiert.
 
2.
Die abgeleiteten Ampelwerte sind kontextabhängig. Beispielsweise kann eine definierte Gefahrstoffkonzentration am Arbeitsplatz in einer überwiegenden „Nichtraucherpopulation“ akzeptabel oder zumindest tolerabel sein, in einer überwiegenden Raucherpopulation hingegen intolerabel. Eine grundsätzliche methodische Diskussion des Risikoakzeptanzkonzepts erscheint erforderlich.
 
3.
Präventive Grenzwerte, die auf der Grundlage des absoluten Risikos ermittelt wurden, sind teilweise nicht kompatibel mit den aus relativen Risiken berechneten und für die Anerkennung von Berufskrankheiten bedeutsamen Grenzwerten. Bei seltenen Krebserkrankungen toleriert das Risikoakzeptanzkonzept Arbeitsplatzkonzentrationen, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich für eine Krebserkrankung waren. Vorgeschlagen wird eine Ergänzung des Risikoakzeptanzkonzepts, die keine Toleranzkonzentrationen mit Überschreitung der Verdopplungsdosis zulässt.
 
4.
Bei chronischen Erkrankungen mit deutlichem Altersgang ist von einer Unterschätzung der beruflichen Verursachungswahrscheinlichkeit auf der Grundlage epidemiologischer Risikoschätzer auszugehen. Es empfiehlt sich eine pragmatische Lösung (Risikoabschläge) im Sinn von gesellschaftlichen Konventionen.
 
5.
In Zeiten sinkender beruflicher Expositionen geht das Berufskrankheitengeschehen notwendigerweise irgendwann gegen Null, auch wenn es weiterhin einen beträchtlichen Anteil beruflich verursachter Erkrankungen in der Bevölkerung gibt. Hier bedarf es einer offenen Diskussion der gesellschaftlichen Kompensationsbedarfe.
 
Fußnoten
1
Als intolerabel (rote Ampel) werden Arbeitsplatzkonzentrationen angesehen, die zu mehr als 4 zusätzlichen Krebsfällen bei 1000 Beschäftigten führen.
 
Literatur
1.
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Metadaten
Titel
Ableitung von Grenzwerten auf der Grundlage von epidemiologischen Studien
verfasst von
Prof. Dr. A. Seidler, M.P.H.
Publikationsdatum
01.09.2014
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie / Ausgabe 5/2014
Print ISSN: 0944-2502
Elektronische ISSN: 2198-0713
DOI
https://doi.org/10.1007/s40664-014-0051-3

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