Die meisten Studien zur „Polypill“ untersuchen in erster Linie deren Effektivität bezüglich der Therapieadhärenz sowie hinsichtlich der Kontrolle von Risikofaktoren wie systolischem bzw. diastolischem Blutdruck (SBD, DBD) und Blutfetten (insbesondere LDL-Cholesterin). In einer 2021 veröffentlichten Metaanalyse von 44 Studien bei Patienten mit Hypertonie wurde ein signifikanter Vorteil der Fixkombination hinsichtlich der Therapieadhärenz im Vergleich zur losen Kombination beobachtet [
11]. Darüber hinaus waren sowohl der SBD als auch der DBD nach 12 Wochen unter Fixkombination signifikant verbessert. Eine Fixkombination aus Telmisartan (20 mg), Amlodipin (2,5 mg) und Chlortalidon (12,5 mg) im Vergleich zur Standardbehandlung wurde 2018 in einem randomisierten Open-label-Design an 700 Patienten mit Hypertonie (Blutdruck > 140 mm Hg/> 90 mm Hg), Diabetes oder chronischer Nierenerkrankung untersucht. Nach einem 6‑monatigen Follow-up waren 70 % der Polypill-Patienten auf den Zielwert eingestellt gegenüber 55 % bei Standardbehandlung (RR 1,23; 95 %-Konfidenzintervall [KI] 1,09–1,39;
p < 0,001). Der Blutdruck lag nach 6 Monaten im Mittel bei 125/76 mm Hg bei der „Polypill“ vs. 134/81 mm Hg bei Standardbehandlung (adjustierter Unterschied: SBD −9,8 mm Hg; 95 %-KI −7,9–11,6 mm Hg; DBD −5,0 mm Hg; 95 %-KI −3,9–6,1 mm Hg;
p < 0,001; [
12]). Die Kombination von 4 niedrig dosierten Wirkstoffen (Irbesartan 37,5 mg, Amlodipin 1,25 mg, Indapamid 0,625 mg, Bisoprolol 2,5 mg) im Vergleich zur initialen Monotherapie in der Standarddosis (Irbesartan 150 mg) wurde in der QUARTET-Studie untersucht [
13]. In dieser klinischen Studie konnten eine signifikante Verbesserung des SBD um 6,9 mm Hg (95 %-KI 4,9–8,9 mm Hg;
p < 0,001) und eine signifikant verbesserte Blutdruckkontrolle der Teilnehmer unter „Polypill“ festgestellt werden (76 % vs. 58 %; RR 1,30; 95 %-KI 1,15–1,47;
p < 0,001). Auch war in der Fixkombinationsgruppe seltener als in der Kontrollgruppe eine Dosissteigerung der Medikamente erforderlich (
p < 0,001). Dieser Effekt war nach 52 Wochen noch ausgeprägter (SBD-Reduktion: 7,7 mm Hg; 95 %-KI 5,2–10,3 mm Hg; Kontrollrate: 81 % vs. 62 %; RR 1,32; 95 %-KI 1,16–1,50) bei gleicher Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen in den beiden Behandlungsarmen.
Die Überlegenheit der „Polypill“ hinsichtlich der Kontrolle von Risikofaktoren ist recht eindeutig
Studien zur Primärprävention
Die erste groß angelegte Studie, die das Konzept der „Polypill“ auf harte klinische Endpunkte untersucht hat, war die 2019 erschienene PolyIran-Studie [
16]. In dieser clusterrandomisierten Kohortenstudie wurden 6838 Teilnehmer zwischen 40 und 75 Jahren 1:1 in Gruppen mit Polypill-Therapie (Enalapril 5 mg, ASS 81 mg, Hydrochlorothiazid 12,5 mg und Atorvastatin 20 mg) oder „minimal care“ randomisiert und verglichen. Bei Auftreten eines Enalapril-spezifischen Hustens konnte in der Polypill-Gruppe auf eine andere „Polypill“ mit Valsartan (40 mg) umgestellt werden. Die Minimal-care-Gruppe wurde mit nichtmedikamentösen Präventionsmaßnahmen betreut, vor allem mittels Aufklärung über eine gesunde Lebensweise. In der 60-monatigen Nachverfolgung erlitten den primären Endpunkt (kardiovaskuläre Ereignisse: Hospitalisierung wegen eines akuten Koronarsyndroms, tödlicher Herzinfarkt, plötzlicher Herztod, Herzinsuffizienz, Revaskularisierung sowie tödlicher und nichttödlicher Schlaganfall) 8,8 % der Patienten in der Minimal-care-Gruppe gegenüber 5,9 % der Polypill-Gruppe (Hazard Ratio [HR] 0,61; 95 %-KI 0,49–0,75), entsprechend einer relativen Risikoreduktion (RRR) von 39 % zugunsten der „Polypill“. Der größte Einfluss konnte beim sekundären Endpunkt des tödlichen Schlaganfalls festgestellt werden, hier betrug die RRR 62 % (adjustierte HR 0,38; 95 %-KI 0,18–0,82;
p = 0,013). Die Gesamtmortalität wies eine nichtsignifikante Reduktion von 7 % zugunsten der „Polypill“ auf (adjustierte HR 0,93; 95 %-KI 0,77–1,11;
p = 0,43). Bei alleiniger Betrachtung jener Teilnehmer der Polypill-Gruppe, die eine hohe Adhärenz aufwiesen, fiel die Reduktion der „major adverse cardiovascular events“ (MACE) im Vergleich zur Minimal-care Gruppe mit einer RRR von 57 % noch deutlicher aus (adjustierte HR 0,43; 95 %-KI 0,33–0,55). Aus ihren Ergebnissen schlossen die Autoren, dass die Polypill-Strategie effektiv in der Prävention kardiovaskulärer Ereignisse ist und besonders in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen eine zusätzliche effektive Strategie zur Verhinderung von schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignissen sein kann.
In einer weiteren groß angelegten RCT wurde der Einfluss einer „Polypill“ mit oder ohne ASS bei Personen ohne vorherige kardiovaskuläre Vorerkrankung, aber mit erhöhtem kardiovaskulärem Risikoprofil (gemäß INTERHEART Risk Score) untersucht [
17]. In der TIPS-3-Studie wurden in einem randomisieren Design 5713 Patienten über einen mittleren Verlauf von 4,6 Jahren beobachtet. Verglichen wurden eine „Polypill“, die Simvastatin (40 mg), Atenolol (25 mg), Hydrochlorothiazid (25 mg) und Ramipril (10 mg) enthielt, mit Placebo sowie „Polypill“ + ASS (75 mg) mit Doppelplacebo. Als primärer Endpunkt wurde ein Komposit bestehend aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall, Reanimation, Herzinsuffizienz oder Revaskularisierung gewählt, zusätzlich wurden Blutdruck und Cholesterin untersucht. Auch hier konnte für die „Polypill“ eine signifikante Verbesserung im Vergleich zu Placebo festgestellt werden. Noch deutlicher fiel die Risikoreduktion aus, wenn zusätzlich zur „Polypill“ ASS gegeben wurde.
Studien zur Sekundärprävention
All den vorher genannten Studien ist gemein, dass sie im Wesentlichen in der Primärprävention angesiedelt sind. Auch die eigentlich in einem gemischten Setting aus Primär- und Sekundärprävention angesiedelte PolyIran-Studie kann lediglich eine Quote von 10,8 % Probanden mit vorherigem kardiovaskulärem Ereignis aufweisen [
18]. In einer systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse aus dem Jahr 2022 untersuchten Rao et al. [
19] bis einschließlich Februar 2021 veröffentlichte RCT zum Thema „Polypill“. In der Gesamtanalyse konnte für die „Polypill“ eine signifikante Reduktion der Gesamtmortalität (RR 0,90; 95 %-KI 0,81–1,00) sowie eine nichtsignifikante Reduktion bezüglich der MACE (RR 0,85; 95 %-KI 0,70–1,02) festgestellt werden. Bei einer Unterteilung in Studien zur Primärprävention und Studien zur Sekundärprävention zeigte sich dieser Therapieeffekt für die Reduktion der MACE nur bei Studien der Primärprävention (RR 0,70; 95 %-KI 0,62–0,79), jedoch nicht bei solchen der Sekundärprävention (RR 1,10; 95 %-KI 0,82–1,47). Für die Daten der Gesamtmortalität konnte keine solche Differenzierung vorgenommen werden. Die Frage nach einem Nutzen der „Polypill“ in der Sekundärprävention konnte dementsprechend nicht beantwortet werden.
Die SECURE-Studie schließt die Evidenzlücke zum Nutzen der „Polypill“ in der Sekundärprävention
Durch die beim Kongress der European Society of Cardiology (ESC) im August 2022 vorgestellte SECURE-Studie (Secondary Prevention of Cardiovascular Disease in the Elderly) kann diese Evidenzlücke nun erfolgreich geschlossen werden [
20]. SECURE ist die erste prospektive, randomisierte Phase-III-Studie, die den klinischen Nutzen einer „Polypill“ in der Sekundärprävention bei Patienten nach einem Herzinfarkt aufzeigt und hinsichtlich harter klinischer Endpunkte untersucht. Die vom Förderprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union unterstützte Studie wurde in insgesamt 7 europäischen Ländern (Tschechische Republik, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Spanien, Polen) durchgeführt. Patienten über 65 Jahre mit einem Herzinfarkt, der maximal 6 Monate zurücklag, mussten mindestens einen weiteren Risikofaktor aufweisen: Diabetes mellitus, Nierenfunktionsstörung, vorheriger Schlaganfall, Herzinfarkt oder koronare Revaskularisierung. Die Patienten wurden in Gruppen mit Polypill-Therapie (
n = 1237; ASS 100 mg, Ramipril 2,5 mg, 5 mg oder 10 mg und Atorvastatin 20 mg oder 40 mg) oder Standardtherapie (
n = 1229) randomisiert. Standardtherapie war definiert als die Behandlung, die gemäß den aktuellen ESC-Leitlinien und nach ärztlichem Ermessen in den jeweiligen Ländern die gängige Behandlungspraxis für Patienten nach Infarkt war. Das durchschnittliche Alter der Patienten lag bei 76,0 Jahren, der Frauenanteil lag bei 31 %.
Zu betonen ist, dass in der Studie keine fixierte Polypill-Dosierung verwendet wurde, sondern eine Anpassung der Dosis von Ramipril und Atorvastatin entsprechend den klinischen Werten von Blutdruck und Cholesterin während der Studie möglich war. Der überwiegende Teil der Patienten in der Polypill-Gruppe erhielt die 40 mg-Dosierung von Atorvastatin, während 40,4 % der Patienten der Standardtherapiegruppe eine potentere Statindosis erhielten. Als primärer Endpunkt wurde ein Komposit aus kardiovaskulärem Tod, nichttödlichem Herzinfarkt, nichttödlichem Schlaganfall und akuter Revaskularisierung gewählt. Der sekundäre Endpunkt war ein Komposit aus kardiovaskulärem Tod, nichttödlichem Herzinfarkt und nichttödlichem Schlaganfall. Die Therapieadhärenz wurde nach 6 und 24 Monaten mithilfe der Morisky Medication Adherence Scale (MMAS) abgefragt. Laborparameter wurden nach 6, 12 und 24 Monaten erhoben.
Nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 3 Jahren konnte ein Ereignis des primären Endpunkts bei 118/1237 (9,5 %) Patienten der Polypill-Gruppe und bei 156/1229 (12,7 %) Patienten der Standardbehandlungsgruppe festgestellt werden. Dies entspricht einer RRR von 24 % (HR 0,76; 95 %-KI 0,60–0,96; p < 0,001 für Nichtunterlegenheit; p = 0,02 für Überlegenheit). Für den sekundären Endpunkt konnte eine Risikoreduktion von 30 % („Polypill“ 8,2 % vs. Kontrollgruppe 11,7 %; HR 0,70; 95 %-KI 0,54–0,90; p = 0,005) beobachtet werden. Bei der Betrachtung der Einzelkomponenten des kombinierten Endpunkts zeigte sich, dass alle Komponenten zum Behandlungseffekt beitrugen. Bei Auswertung der a priori definierten Subgruppen (Alter, Geschlecht, Land, Diabetes, Nierenfunktionsstörung, vorheriges vaskuläres Ereignis) zeigte sich eine beeindruckende Konsistenz des Behandlungseffekts durch die „Polypill“ über nahezu alle Subgruppen hinweg. Damit ist SECURE die erste Studie, die in einem Setting der Sekundärprävention einen klinischen Nutzen der Polypill-Therapie nachgewiesen hat.
Die Adhärenz zeigte sich ebenfalls signifikant verbessert, sowohl nach 6 Monaten (RR 1,13; 95 %-KI 1,06–1,20) als auch nach 24 Monaten (RR 1,17; 95 %-KI 1,10–1,25). Bezüglich der erhobenen Zielwerte für Blutdruck und Cholesterin konnten keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen festgestellt werden. Die Autoren führen als Erklärung die relativ geringen Ausgangswerte bei Studienbeginn an und verweisen auf die pleiotropen Effekte der Statine und ACE-Hemmer über den eigentlichen Effekt der LDL-Senkung bzw. Blutdrucksenkung hinaus. Zusätzlich dazu hat ASS keinen Effekt auf die Zielwerte, sehr wohl jedoch einen nachgewiesenen Effekt bei der Verhinderung kardiovaskulärer Ereignisse, insbesondere in der Sekundärprävention.
Eine zuvor publizierte retrospektive Studie, die ebenfalls eine „Polypill“ mit ASS, Ramipril und Atorvastatin in gleichen Dosierungen untersuchte, konnte neben einer Verringerung der Rate an schwerwiegenden Ereignissen auch eine signifikant verbesserte Zielwerterreichung (LDL-Cholesterin, SBD, DBD) feststellen im Vergleich mit der substanzgleichen losen Kombination mit äquipotenten Substanzen sowie mit der Standardbehandlung [
21].