In Traumatherapie begeben sich Klient_innen, die aufgrund bestimmter Erfahrungen immer wieder von Gefühlen, Bildern und Körpererinnerungen überflutet werden und daher ein oft komplexes System an Vermeidung und Dissoziation aufgebaut haben. Das Vertrauen in die Welt und in sich selbst ist massiv verunsichert. Die Wahrnehmung und das Erleben der Gegenwart werden durch die traumatischen Erfahrungen und die daraus entstandenen Konzepte über sich und die Welt überlagert. Der chronisch erhöhte Stresslevel und andere unkontrollierbare Körpersensationen können erschöpfend und beängstigend sein. Daher haben sich in der Traumatherapie Methoden etabliert, die je nach Traumatyp, Ich-Stärke und PTBS-Symptomen darauf ausgerichtet sind, innere Stabilität und Ressourcen zu stärken und Fähigkeiten zu trainieren, die mehr Affektregulation ermöglichen und dadurch eine Traumaverarbeitung erlauben.
Im nächsten Abschnitt werden einige Interventionen und Teilziele der Stabilisierungsphase dahingehend untersucht, inwieweit diese der Definition von Achtsamkeit entsprechen und wo achtsame Interventionen noch stärker eingesetzt werden könnten.
Achtsamkeit in der Stabilisierungsphase
Die Stabilisierungsphase ist ein zentraler Bestandteil jeder Traumatherapie. Je komplexer, je länger und je früher sich die Traumatisierungen lebenszeitlich ereignet haben, umso länger und wichtiger ist diese Phase, bevor mit Traumakonfrontation begonnen werden kann. Generell geht es hier um die Stärkung oder Etablierung eines Erwachsenen-Ichs, die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen und positive Ressourcen auszubauen und nutzbar zu machen (vgl. Purtscher und Sack
2016).
Ein zentraler Aspekt von Achtsamkeit ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu fokussieren und diese Fokussierung auch aktiv steuern zu können. Das bedarf innerer Beobachter_innen, die bemerken, wo unsere Aufmerksamkeit gerade verweilt und was dort zu bemerken ist. Diese innere Instanz macht es erst möglich, innere Prozesse zu beschreiben und den inneren Strudel von Emotion und Reaktion zu verlangsamen und zu beeinflussen (Weiss und Harrer
2010). Diese inneren Beobachter_innen sind immer auch mit einer Aktivierung im präfrontalen Cortex verbunden (Roediger
2011) und stärken somit das erwachsene gegenwärtige Denkvermögen.
Zuerst gilt es, die Entwicklung der inneren Beobachter_innen im Bereich positiver Erfahrungen und Gefühle zu unterstützen (vgl. Reddemann
2011b). Hierbei werden die Klient_innen eingeladen zu erforschen, welche angenehmen Erfahrungen mit dem eigenen Körper gemacht werden können. Was lösen Hören, Spüren, Schmecken in den Klient_innen aus, wie drückt sich Freude und Entspannung in ihrem Körper aus? Diese Achtsamkeitsübungen lehren das Erkennen der vorhandenen Fähigkeit, Freude empfinden zu können, ohne das Negative zu verdrängen oder zu ignorieren. Gerade bei komplex Traumatisierten ist bei der Wahrnehmung des Körpers immer die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie dadurch getriggert werden oder große Teile ihres Körpers gar nicht wahrnehmen können. Hier braucht es ein offenes, neugieriges und vor allem gemeinsames Suchen nach neutralen oder positiven Körperstellen, auf die der Fokus gelenkt werden kann. Eine andere Möglichkeit bietet die Übung, die Klient_innen den Kontakt des Körpers mit dem Boden oder dem Stuhl spüren zu lassen. Das unterstützt sie darin, sich stabiler zu fühlen, das Hier und Jetzt besser wahrzunehmen, und dies wirkt beruhigend. Diese Erfahrung können sie in den Alltag mitnehmen und wiederholen.
Die nicht bewertende und offene Haltung haben die Therapeut_innen vorzuleben, ohne die meist ambivalenten Gefühle der Klient_innen dem eigenen Körper gegenüber zu ignorieren, sondern sie in die Achtsamkeitsübungen zu integrieren (vgl. Ebner und Rost
2008; Weiss und Harrer
2010).
Bei genügend Sicherheit kann die Achtsamkeit auf den Atem gelenkt werden, sie hat eine stärker beruhigende Wirkung. Reddemann (
2011a) empfiehlt beispielsweise, dass es hier vorerst genügt, die Atembewegungen des Körpers wahrzunehmen. Die Klient_innen können dazu die Hand auf den Bauch oder Brustkorb legen und so die Atembewegungen spüren. Als zusätzliche Konzentrationshilfe können die Atemzüge gezählt werden. Selbstberuhigung ist ein wichtiges Ergebnis achtsamkeitsbasierter Übungen. Dabei müssen sich die Klient_innen immer sicher fühlen und die Gewissheit haben, diesen Prozess selbst kontrollieren zu können. Dazu wiederum braucht es die inneren Beobachter_innen, die in der Lage sind zu bemerken, ob durch die Übung körperliche Entspannung einsetzt oder negative Empfindungen wie Angst wieder stärker werden.
Als eine weitere Ressourcenübung hat sich die achtsame Wahrnehmung über die Sinnesorgane etabliert, z. B. auf Objekte mit bestimmten Farben, auf Geräusche, Gerüche oder sensorische Empfindungen zu achten und diese mit Wörtern zu beschreiben. Wahrzunehmen, was im Hier und Jetzt ist, entspricht genau der Definition von Achtsamkeitstraining.
Eine weitere Stärke der oben beschriebenen inneren Beobachter_innen ist deren Unterstützung, sich nicht mit allen Empfindungen zu identifizieren. Diese Haltung gegenüber Gefühlen und Körpersensationen ist ein wichtiger Teil jeder Achtsamkeitspraxis und enorm hilfreich im Umgang mit Flashbacks und Ego-States. Hier werden die Klient_innen eingeladen, ihre Gefühle aus der Ferne zu betrachten, Distanz zu halten und sie zu beschreiben. Damit machen sie die Erfahrung, dass sie schwierige Gefühle aus der Distanz ertragen lernen können und dabei handlungsfähig bleiben. Sie lernen, dass sie mehr sind als ein sie ganz überflutendes unangenehmen Gefühl (Reddemann
2011a). Dadurch eröffnet sich eine Wahlmöglichkeit, wie sie darauf reagieren möchten. So können die Klient_innen langsam beginnen, basierend auf dem Wissen, dass sie zu freudvoller Erfahrung fähig sind, bewusst zwischen schwierigen und positiven Empfindungen hin und her zu pendeln. Diese Kompetenz, eine hilfreiche Distanz zu den Gefühlen zu halten, ist auch für die Traumakonfrontation von zentraler Bedeutung.
Ein weiteres wichtiges Merkmal von Achtsamkeit ist die Fähigkeit, mit der Aufmerksamkeit immer wieder in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren. Menschen mit PTBS werden oft von Erinnerungen oder Zukunftsängsten überflutet. Flashbacks und dissoziative Symptome lassen sie den Bezug zur Gegenwart verlieren. Durch das Üben, immer wieder die gegenwärtigen Empfindungen aus der Perspektive der inneren Beobachter_innen wahrzunehmen und von den inneren Bewertungen und Interpretationen zu trennen, lernen Klient_innen, sich in der Gegenwart zu verankern, auch wenn starke Gefühle in ihnen toben. Dies wird möglich, da Achtsamkeitsübungen die inneren Prozesse verlangsamen. Durch diese stärkere Gegenwärtigkeit können Klient_innen zunehmend lernen, die alten oft destruktiven Schutzreaktionen in den Anfängen zu erkennen und in Richtung heilsamerer Reaktionen zu beeinflussen. Es ist sehr herausfordernd, die eigene Innenwelt immer deutlicher wahrzunehmen, die Klient_ innen sind dabei oft mit Scham und ihrer eigenen Verachtung konfrontiert. Daher ist es Aufgabe der Therapeut_innen, darauf zu achten, dass die Schritte verdaubar klein sind (vgl. Reddemann
2011a, S. 107).
Ein Teil der Wirksamkeit all dieser Übungen hängt auch von der inneren Haltung ab, die die Klient_innen zu sich haben. Offenheit, Freundlichkeit und nicht bewertendes Anerkennen aller Empfindungen und Gefühle beschreiben diese Grundhaltung, die es mit einzuüben gilt. Viele traumatisierte Klient_innen sind in ihrem Selbstwert, ihrem Vertrauen zu sich und der Welt erschüttert, Mitgefühl oder Freundlichkeit sich selbst gegenüber zu empfinden, ist kaum möglich. Es ist schon ein Erfolg, wenn die Klient_innen „zähneknirschend“ einem Gefühl der Verletzlichkeit oder einem inneren Kindanteil erlauben können, kurz da zu sein. Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln, für die verletzten wie auch für die wütenden Anteile, ist für viele traumatisierte Klient_innen ein sehr schwieriges Unterfangen. Daher ist bei jeder Achtsamkeitsübung darauf zu achten, dass Freundlichkeit und Selbstmitgefühl mit eingeübt wird. Freundliche Körpergesten können hier unterstützen. Hilfreich ist für viele, die Hand auf die schmerzende Körperstelle oder die Stelle zu legen, wo das schmerzliche Gefühl am direktesten zu spüren ist, und die Wärme der Hand auf das Gefühl zu visualisieren. Für einige fühlt sich diese Geste aber nicht richtig an. Als Alternative können sich die Klient_innen z. B. selbst am Handgelenk halten. Diese Gesten des Trostes erhöhen wieder das Gefühl der Selbstwirksamkeit im Sinne „Ich kann etwas für mich tun“.
Gleichzeitig können die Klient_innen spüren, dass ihr Mitgefühl mit sich selbst ihr Leiden mindert (Grossman und Reddemann
2016, S. 227). Diese Erfahrung, dass es wohltuend sein kann, einem schmerzlichen Gefühl oder inneren Anteil mitfühlend zu begegnen und in einer freundlichen Aufmerksamkeit zu halten, macht Klient_innen viel Mut. Aufbauend auf die geübten Fähigkeiten können mit der Zeit auch schwierigere Gefühle in dieser kontrollierten und heilsamen Form gespürt und damit verdaut werden.
Zu jeder Achtsamkeitsübung gehören auch das Loslassen und das Anerkennen, das die Gefühle sich ständig verändern. Zum Abschluss jeder achtsamkeitsbasierten Übung empfiehlt es sich daher, mit den Klient_ innen einen Schritt zum bewussten (Los‑)Lassen der Empfindung zu finden. Dies kann passieren, indem die Klient_innen die Veränderung der Empfindung bemerken oder indem sie z. B. dem Gefühl erlauben, an einem passenden inneren Ort zu bleiben. Manchmal kann dieses (Los‑)Lassen auch durch das Verschieben des Fokus der Aufmerksamkeit auf eine vorher positiv/neutral etablierte Körperstelle ermöglicht werden oder durch Übungen, die das kognitive Denkvermögen ansprechen.
Die Achtsamkeitsübungen zum Ziele der Stabilisierung sollen nach Möglichkeit auch außerhalb der Therapiestunde geübt werden, dazu braucht es eine klar definierte Aufgabenstellung. Ein häufiges Problem besteht darin, dass diese häufig vergessen werden, daher ist es sinnvoll, dass die Klient_innen sie für sich selbst auf einem Blatt Papier notieren. Man kann mit Übungen beginnen, die mit dem Alltag der Klient_innen verknüpft sind, z. B. achtsames Abwaschen, achtsames Hören auf dem Weg zur Arbeit, Spüren des Körpers beim Atmen, während des Teetrinkens in der Pause oder Achtsamkeit für den Geschmack des Essens. Wichtig ist hier, dass die Klient_innen sich entscheiden, wo Achtsamkeit für sie am leichtesten möglich ist.
Indem sie durch das stetige Üben zum gegenwärtigen Erleben zurückkommen, können die Klient_innen eher erkennen, wann ihr innerer Autopilot sich einschaltet oder sie sich durch Dissoziation abtrennen. Je öfter sie dies bemerken, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich erinnern, welche Reaktion hier hilfreich ist und welche nicht. Sich an Hilfreiches zu erinnern, ist ein wichtiger Effekt von Achtsamkeitstraining und eine Voraussetzung dafür, früh eingelerntes Vermeidungsverhalten zu verändern (Rytz und Wiesmann
2016).
In den Interventionen der Phase der Stabilisierung und des Ressourcenaufbaus finden sich bereits alle Aspekte von Achtsamkeit integriert bzw. sind explizit bereits als Achtsamkeitsübungen tituliert. Diese erlauben den Klient_innen in kleinen Schritten, sich den gegenwärtigen und den als traumatisch gespeicherten Erinnerungen zu nähern und damit Vermeidungsverhalten zu reduzieren. Die Übungen stärken das Erwachsenen-Ich und fungieren als hilfreiche Tools zur Selbstberuhigung.
Es stellt sich die Frage, inwieweit die Effekte von Achtsamkeitsübungen auch in der Traumakonfrontation zu finden sind.
Achtsamkeit in der Traumakonfrontation
Das Heilsame in all diesen Methoden der Konfrontation – ob Screentechnik, Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) oder auch bei Constant Installation of Present Orientation and Safety (CIPOS) und Affektkette (Huber
2011) – ist die Fähigkeit der Klient_innen, ihre Emotionen, Körpersensationen und sensorischen Erinnerungen bei gleichzeitiger Verankerung im Hier und Jetzt halten und anerkennen zu können (Münker-Kramer
2015). Eine sehr ähnliche Beschreibung, die auch an den Prozess einer EMDR-Sitzung erinnert, findet sich in der folgenden Definition von Achtsamkeitsübungen durch Briere (
2014), für den Achtsamkeit darin besteht, „sich auf einen einzigen Prozess zu konzentrieren …, aufmerksam beim gegenwärtigen Moment zu bleiben und Gefühle und Gedanken kommen und gehen zu lassen, ohne sie festzuhalten. Zu den Dingen, die man so aufsteigen und wegfallen lässt, gehören Wertungen und Urteile über sich selbst und innere Erfahrungen“ (S. 438). Diese Fähigkeit, das gegenwärtige Erleben in eben dieser besonderen Art von Aufmerksamkeit halten und auch loslassen zu können, ist ein zentraler Moment, damit traumatische Erfahrungen verarbeitet werden können.
Für diese Verarbeitung, vor allem bei Bindungstraumata, ist es zusätzlich wichtig, dass die Klient_innen ein gewisses Maß an Selbstmitgefühl für sich entwickeln können. Immer wieder zeigt sich, dass das Stocken im Prozess des Durcharbeitens durch eine innere Weigerung, Selbstmitgefühl zu empfinden, ausgelöst wird. Beim EMDR wird z. B. mit der Frage „Was würdest du zu dem verletzten Kind sagen, wenn du als Erwachsene in das Bild hineingehen könntest“ versucht, eine mitfühlende Instanz in den Prozess zu integrieren. So kann z. B. bei einem/einer Klientin ein positives Introjekt einer früheren Bezugsperson diese Rolle des Mitgefühls und der Fürsorge für das verletzte innere Kind übernommen haben.
Dieses Mitgefühl wird auch in der Bildschirmtechnik (Screen-Technik) eingeladen. Der Erzählfluss wird immer wieder gestoppt, sodass die Klient_innen ihrem Empfinden im Hier und Jetzt nachspüren können und sich erlauben, diese Gefühle ganz bewusst wahrzunehmen. Der Aspekt des Mitgefühls kann z. B. durch die Frage „Was empfindest du jetzt, wenn du dieses Kind so auf der Leinwand siehst?“ eingeflochten werden.
An diesen Beispielen ist zu erkennen, dass die Erfahrungen mit achtsamkeitsbasierten Interventionen in der Stabilisierungsphase auch für die Konfrontationsphase enorm hilfreich sind. Den Bezugspunkt innerer Beobachter_innen halten und die Fähigkeit zwischen schwierigen und positiven Emotionen hin und her pendeln zu können, sind gute Voraussetzungen. Gemeinsam mit dem Vertrauen, dass Gefühle sich verändern können und durch Selbstmitgefühl beruhigen lassen, entstehen ein stabiler Boden und gute innere Fertigkeiten für die Konfrontation und Verarbeitung traumatischer Erfahrungen.