Guter Schlaf durch schnell freisetzendes Melatonin

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) sind sehr häufig mit Schlafproblemen, insbesondere Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnie), assoziiert. Zu den Ursachen gehören begleitende Ängste und Depressionen oder eine Verschiebung des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus. Kinder und Jugendliche mit ADHS-assoziierten Schlafstörungen stehen häufig unter einem hohen Leidensdruck. Reichen schlafhygienische Maßnahmen nicht aus, ist schnell freisetzendes Melatonin indiziert. Schlaf dient vielen körperlichen und psychischen Funktionen, z. B. der körperlichen Regeneration, der Gedächtniskonsolidierung, der emotionalen Verarbeitung und der Emotionsregulation. Schlafstörungen können sich daher vielfältig auswirken. Wie Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, LWL-Klinik Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ruhr-Universität Bochum, erläuterte, beeinträchtigen Schlafstörungen die Konzentration, die schulischen Leistungen und das soziale Funktionsniveau. Langfristig können Schlafstörungen den Weg für spätere Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Veränderungen und Übergewicht bahnen, vor allem aber für psychische Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen [1]. ADHS eng assoziiert mit Schlafstörungen Schlafstörungen erhöhten nicht nur das Risiko, sie seien auch ein Symptom vieler psychischer Erkrankungen, sagte Holtmann. Beispielsweise leiden bis zu 55% der Kinder und Jugendlichen mit einer ADHS unter Schlafproblemen, meist Insomnie [2]. Oft sind diese auf Komorbiditäten zurückzuführen, insbesondere auf Angststörungen oder Depression. Eine wichtige Ursache der Schlafprobleme bei einer ADHS ist die Verschiebung des endogenen zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus, z. B. aufgrund eines „späten“ Chronotyps [3]. Welchem Chronotyp Menschen eher entsprechen, dem „Morgentyp“ (Lerche) oder dem „Abendtyp“ (Eule), sei stark erblich determiniert, so Holtmann. ADHS-Patientinnen und -Patienten gehören jedoch sehr viel häufiger dem „Abendtyp“ als dem „Morgentyp“ an. Auf der biologischen Ebene entspricht der Störung des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus eine Störung der tageszeitabhängigen Melatonin-Ausschüttung [4]. Während gesunde Menschen einen deutlichen Anstieg der Melatonin-Ausschüttung in den Abendstunden und einen Melatonin-Peak in der Nacht aufwiesen, der bis zum Morgen in einen tiefen Talspiegel übergeht, sei die zirkadiane Rhythmik bei einer ADHS deutlich verzögert und geschwächt, erläuterte Holtmann. Aus der Verschiebung des Schlaf-Wach-Zyklus resultiere ein „sozialer Jetlag“: „Kinder mit einer ADHS kommen morgens nicht aus dem Bett, sitzen gähnend und wie gerädert in der Schule, und abends um 8 Uhr steckt die Mutter das hellwache Kind ins Bett.“ Die Neigung zum intensiven Medienkonsum erhöht das Risiko von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit einer ADHS zusätzlich. In der Pandemie hat sich der Schlafmangel bei Kindern und Jugendlichen nach Einschätzung Holtmanns durch vermehrte Nutzung digitaler Spiele und sozialer Medien erheblich verstärkt [5]. Unerwünschte Wirkungen der ADHS-Medikation können ebenfalls für Einschlafstörungen verantwortlich sein. Andererseits, so Holtmann, kann die ADHS-Medikation Schlafstörungen auch mindern. Nichtpharmakologische Behandlungsoptionen Am Anfang der Behandlung stehen immer die Psychoedukation der Eltern und Kinder sowie eine gute Schlafhygiene (Kasten). Wichtig ist laut Holtmann die Synchronisation der inneren Uhr. Dafür werden Zeit- bzw. Impulsgeber benötigt. Geeignet sind Rituale, körperliche Aktivität und Licht, insbesondere Morgenlicht als stärkster äußerlicher Impulsgeber. Eine digitale Anwendung für Schlafhygiene, Abendroutine und Schlaf-Psychoedukation (hiPanya) kann Eltern von Kindern mit Schlafstörungen darin unterstützen, entspannende Abendroutinen einzuhalten und das Einschlafen durch Einschlafrituale zu fördern. So kann die App nach Einschätzung von Dr. Alfred Wiater, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Schlafmedizin, Bad Wiessee, zu einem erholsamen Schlaf für Kinder und Eltern beitragen. Das Vorgehen ist interaktiv: Eltern und Kinder gestalten gemeinsam die einzelnen Schritte der Abendroutine inklusive eines Zeitplans. Hierbei werden Punkte zur Motivation des Kindes vergeben und bei Erreichen einer definierten Punktzahl kann eine Belohnung vereinbart werden (Punkteplan). Weiterhin vermittelt die App Wissenswertes zum Thema Schlaf, und es besteht die Möglichkeit, mittels Schlaftagebuch den Kinderschlaf zu analysieren. Allgemeine Schlafhygieneregeln geregelter Tagesablauf entspannendes Einschlafritual (z. B. lesen oder warmes Bad nehmen) regelmäßige Zubettgeh- und Aufstehzeiten tagsüber körperliche Aktivität vor dem Zubettgehen anstrengende Aktivitäten vermeiden Abendessen nicht direkt vor dem Schlafengehen einnehmen Schlafphasen am Tag maximal 20 Minuten – nicht zu nahe am Nachtschlaf ruhige, abgedunkelte, angenehm temperierte Schlafumgebung Das Bett ist nur zum Schlafen da (kein Handy, Fernsehen, Lesen, Hausaufgaben machen etc.). Bei Kindern nicht auf Wünsche eingehen, die nur der Verzögerung des Schlafens dienen. Pharmakologische Behandlungsoptionen Bringen schlafhygienische Maßnahmen alleine nicht den gewünschten Erfolg, ist zusätzlich eine medikamentöse Behandlung mit schnell freisetzendem Melatonin indiziert. Wie Dr. Dirk Heinicke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Neuropädiatrie in Kreischa, erläuterte, bestehen die Ziele in einer verkürzten Einschlaflatenz sowie in der Vorverlegung des DLMO (Dim Light Melatonin Onset). Der DLMO ist der Zeitpunkt, an dem der Anstieg des Melatonin-Spiegels einsetzt, um den Körperzellen den Eintritt von Dunkelheit zu signalisieren, sodass Organsysteme auf den Nachtrhythmus umgestellt werden können. Schnell freisetzendes Melatonin-Präparat In Deutschland ist seit dem 17. April 2024 ein Melatonin-Präparat (Mellozzan®) zur Behandlung von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit einer ADHS im Alter von 6–17 Jahren verfügbar, bei denen sich Schlafhygienemaßnahmen als unzureichend erwiesen haben. Außerdem kann das Präparat zur Kurzzeitbehandlung von Jetlag bei Erwachsenen angewendet werden. Laut Heinicke handelt es sich um schnell freisetzendes Melatonin, das ein schnelles Einschlafen ermöglicht. „Der Spiegel steigt rasch an und sinkt innerhalb von 3–4 Stunden wieder ab.“ Dies sei das Profil, das bei einer ADHS benötigt werde. Individuelle Anwendung Verfügbar sind Tabletten in drei Wirkstärken – 2mg, 3mg und 5mg – die eine individuelle, flexible Dosierung und Dosistitration erlauben. Alle drei Wirkstärken sind vollständig erstattbar. Das schnell freisetzende Melatonin-Präparat sollte 30–60 Minuten vor dem Zubettgehen eingenommen werden. Als Anfangsdosierung empfahl Heinicke 0,5–2mg Melatonin. Danach lasse sich die Dosierung je nach Bedarf um 1mg pro Woche bis auf maximal 5mg pro Tag steigern. Da der therapeutische Effekt oft verzögert eintritt, sei es sinnvoll, eine Einstellung mindestens vier Wochen auszuprobieren. Die Tabletten sind frei von Laktose, Gluten sowie künstlichen Farbstoffen und können sowohl im Ganzen geschluckt als auch zerkleinert in Wasser suspendiert eingenommen werden. Eine Nahrungsaufnahme kann den Melatonin-Spiegel im Plasma nahezu verdoppeln. Zudem kann Melatonin bei Aufnahme kohlenhydratreicher Nahrung den Blutzuckerspiegel steigern und die Blutzuckerkontrolle für mehrere Stunden beeinträchtigen. Bei deutlich eingeschränkter Glukosetoleranz oder Diabetes mellitus sollte daher zwei Stunden vor und zwei Stunden nach der Einnahme eine Nahrungsaufnahme vermieden werden. Da das Melatonin-Präparat nach den GMP (Good Manufacturing Practice)-Standards hergestellt wird, seien gleichbleibende Sicherheit und Produktqualität gewährleistet, sagte Heinicke. Bei den Melatonin-enthaltenden Nahrungsergänzungsmitteln kann der Melatonin-Gehalt dagegen erheblich schwanken [6]. Toxische Effekte sind nicht zu erwarten: Melatonin gilt bei erkrankten Kindern als sichere Therapie; Nebenwirkungen wurden selten beschrieben [7]. Melatonin mit sofortiger versus verzögerter Freisetzung Melatonin ist bei Insomnie oder zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen im Kindes- und Jugendalter die medikamentöse Therapie der Wahl [4]. Zu differenzieren sind laut Prof Dr. Carmen M. Schröder, Abteilung für Kindes- und Jugendpsychiatrie und Schlafmedizin, Universitätsklinik Straßburg, Frankreich, Melatonin-Formulierungen mit sofortiger (immediate release, IR) und verzögerter (extended release, ER) Freisetzung (Abb. 1), die sich in Pharmakokinetik, Wirkweise und Indikation unterscheiden [8]. Melatonin steuert über Melatonin-1- bzw. Melatonin-2 (MT1 bzw. MT2)-Rezeptoren im Nucleus suprachiasmaticus, dem Hauptsitz der biologischen Uhr, den zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus. Wie Schröder ausführte, inhibiert die Bindung an MT1-Rezeptoren das Wachsignal, sodass ein schlafanstoßender Effekt eintritt. Die Bindung an MT2-Rezeptoren stimuliert dagegen die zeitliche Programmierung des Schlaf-Wach-Rhythmus und kann daher therapeutisch (z. B. bei einer ADHS) zur Vorverlegung der Schlafphase genutzt werden [9]. Das Ausmaß der Schlafphasen-Vorverschiebung wird vom Zeitpunkt bestimmt, an dem IR-Melatonin eingenommen wird. Aufgrund der chronobiotischen und schlafinduzierenden Wirkung eignet es sich besser für den Einsatz bei Kindern mit einer ADHS. ER-Melatonin wird in der Regel als Substitutionstherapie bei unzureichender endogener Melatonin-Sekretion eingesetzt. In dieser Situation ist die Verfügbarkeit von Melatonin in der ganzen Nacht erwünscht. Schröder zufolge verkürzt die Substitution die Einschlafzeit und verlängert die Schlafzeit, induziert aber keine Schlafphasen-Vorverschiebung. ER-Melatonin kommt für Kinder mit dem Smith-Magenis-Syndrom oder Autismus-Spektrum-Erkrankungen infrage. Beim Smith-Magenis-Syndrom erfolgt die Melatonin-Sekretion tagsüber, während in der Nacht ein Defizit besteht. Autismus-Spektrum-Störungen beruhen überwiegend auf einer unzureichenden Enzymaktivität der Melatoninproduktion. Abb. 1 Melatonin-Plasmaspiegel in Abhängigkeit von den Formulierungen (modifiziert nach [8]) Springer Medizin Verlag GmbH Literatur Shanahan PJ et al., BJPsych Advances 2021, 27:320–332 Stein MA et al., Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 2022, 31:499–514 Bjilenga D et al., Atten Defic Hyperact Disord 2019, 11:5–19 Mantle D et al., Sleep Med X 2020, 2:100022 https://www.dak.de/presse/bundesthemen/kinder-jugendgesundheit/dak-studie-in-pandemie-hat-sich-mediensucht-verdoppelt_48672 (letzter Zugriff: 15.04.2024) Erland LA, Saxena PK, J Clin Sleep Med 2017, 13:275–281 Rzepka-Migut B, Paprocka J, Brain Sci 2020, 10:219 Rolling J et al., Nat Sci Sleep 2022, 14:1927–1944 Mundey K et al., Sleep 2005, 28:1271–1278 Impressum „Schlaf gut auch mit ADHS“, Online-Launch-Pressekonferenz, 20. März 2024 Bericht: Dr. Günter Springer, Darmstadt Artikel gedruckt in: Somnologie 2/24 Mit freundlicher Unterstützung der Medice Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG, Iserlohn Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Friederike Holthausen Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: ADHS und Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen - Guter Schlaf durch schnell freisetzendes Melatonin

Springer Medizin

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten

Weiterführende Themen