Hintergrund
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der allgemeinen Arbeitswelt bleiben ein häufig gesellschaftlich diskutiertes Thema, wie die Diskussion um den Gender-Pay-Gap kürzlich zeigte [
1]. Im Jahr 2018 betrug der Anteil der mit Frauen besetzten Führungspositionen global 24 % [
2]. Dieses Ungleichgewicht der Geschlechter ist zuletzt auch in akademischen und beruflichen Bereichen der Medizin immer stärker ins Bewusstsein geraten [
3‐
5]. Trotz einem zunehmend steigenden Anteil an Absolventinnen im Fachgebiet der Humanmedizin in Deutschland (61,3 % Frauen im Jahr 2018) [
6], lag der prozentuale Anteil von Ärztinnen in einer Führungsposition an universitären Kliniken in Deutschland im Jahr 2016 bei 10 % [
3]. In chirurgischen Fachgebieten scheint dieses Ungleichgewicht am stärksten ausgeprägt zu sein [
3]. Weltweite Daten konnten zeigen, dass im Fachbereich Orthopädie und Unfallchirurgie (O&U) bis heute eine starke Differenz vorliegt: Die Zahlen von orthopädisch-unfallchirurgisch tätigen Ärztinnen variieren weltweit von 3 % in England, 5 % in Australien, 5,1 % in Neuseeland, 5,9 % in der Schweiz, 6 % in den USA, 10,7 % in Österreich und 11,2 % in Kanada [
4,
7‐
10]. Im Assistenzarztbereich liegt der Anteil an weiblichen Ärztinnen in englischsprachigen Ländern (14 % in den USA, 19 % in Kanada, 19 % in Neuseeland) etwas höher, ist aber geringer als in anderen chirurgischen Fachgebieten [
9,
11‐
13]. Einige Ursachen für die anhaltenden geschlechtsspezifischen Unterschiede in der O&U wurden in der aktuellen Literatur bereits beschrieben. Hierzu zählen vor allem: wenig Kontakt zum Fach während des Medizinstudiums, das Fehlen von Mentorinnen, Vorurteile hinsichtlich des Geschlechts und Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf den Lebensstil sowie fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf [
10,
11,
14]. Gedanken wie „Orthopädie und Unfallchirurgie ist nichts für Frauen“ scheinen durch das Fehlen von weiblichen Vorbildern verstärkt zu werden [
8]. Der „Glass-ceiling“-Effekt, der eine unsichtbare Grenze für Frauen beschreibt, eine führende Rolle zu erreichen, besteht heutzutage im Fachbereich O&U weiterhin.
Ziel dieser Arbeit ist es, die geschlechtsspezifische Entwicklung im Fachbereich O&U in Deutschland in den letzten 15 Jahren zu analysieren und einen aktuellen Status quo zu erheben. Hierzu erfolgte eine Analyse der Entwicklung von Absolventinnen des Humanmedizinstudiums, des Frauenanteils in der vertragsärztlichen und klinischen Versorgung sowie die geschlechtsspezifische Auswertung des Erwerbs einer orthopädisch/unfallchirurgischen Zusatzbezeichnung. Darüber hinaus wurden im wissenschaftlichen Bereich orthopädische und/oder unfallchirurgische Fachgesellschaften in Deutschland, der größte deutsche Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) und Habilitationszahlen im Fachbereich Orthopädie hinsichtlich der Geschlechterverteilung ausgewertet.
Die Hypothese der vorliegenden Arbeit war, dass die Anzahl von Ärztinnen im Bereich der O&U steigt, sich aber weiterhin ein deutliches Ungleichgewicht in der Geschlechterverteilung darstellt.
Diskussion
In der vorliegenden Arbeit konnte gezeigt werden, dass der Anteil an Ärztinnen im Fachbereich Orthopädie und Unfallchirurgie in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat. Der Frauenanteil in Führungspositionen hat sich seit dem Jahr 2005 verdoppelt und lag im Jahr 2017 bei 4,8 %. 6–27 % der Mitglieder in den einzelnen Fachgesellschaften sind weiblich. In diesem Bereich konnte in den letzten Jahren ein leichter Anstieg verzeichnet werden. Demgegenüber zeigt sich im Bereich der studentischen Mitglieder das Verhältnis von Frauen zu Männern seit Jahren als ausgeglichen. Im Vorstand der entsprechenden Gesellschaften liegt weiterhin eine seltene Vertretung des weiblichen Geschlechts vor.
Auch im akademischen Bereich (DKOU 2019 [
19], Habilitationen) konnte ein deutliches Ungleichgewicht der Geschlechter dargestellt werden.
Trotz einer stetig steigenden Anzahl an Hochschulabsolventinnen stellen Ärztinnen im Fachbereich O&U in Deutschland nach wie vor eine Minderheit dar. Auch in anderen Ländern liegen entsprechende Daten vor, die das bestätigen [
4,
7‐
9]. Mögliche Hürden auf dem Weg zur orthopädisch-unfallchirurgischen Chirurgin und einer akademischen Karriere wurden in verschiedenen Veröffentlichungen wie folgt beschrieben: fehlender Kontakt zu dem Fachgebiet O&U und muskuloskelettalen Themen während des Studiums [
11,
13,
14,
21,
22], negativer Bias gegenüber Frauen [
5] und das Fehlen von weiblichen Vorbildern [
5,
13,
23]. Es konnte bereits gezeigt werden, dass ein früher Kontakt mit dem Fachgebiet O&U während des Studiums dazu führt, dass mehr weibliche Ärztinnen dieses Fachgebiet als Spezialisierung wählen [
21,
23]. Weiterhin scheint jedoch die Annahme zu kursieren, dass eine hohe körperliche Kraft für die Durchführung von operativen Eingriffen in der O&U erforderlich sei [
8]. Eine ungünstige Work-Life-Balance und eine schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf könnten laut der aktuellen Literatur weitere Gründe für die Minderheit der Frauen in diesem Bereich sein [
8,
24]. Generell lassen die Ergebnisse dieser Studie aber vermuten, dass das Interesse bei Studentinnen für das Fachgebiet mindestens so ausgeprägt ist wie bei Studenten. Die Anzahl der Assistenzärztinnen im Fachbereich O&U ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und mit der Anzahl an Assistenzärztinnen in Kanada vergleichbar [
8]. Trotzdem finden sich in Führungspositionen nach wie vor nur wenig Frauen. Erklären lässt sich dies am ehesten dadurch, dass Frauen in der Regel am Ende der Assistenzarztzeit oder mit Erwerb des Facharzttitels Kinder bekommen. Genau dieser Zeitraum gilt jedoch als wegweisend für eine Karriere, sei es auf klinischer Ebene (Erwerb einer Zusatzbezeichnung, Aufstieg zur Oberärztin), auf wissenschaftlicher Ebene (Habilitation, aktive Kongressgestaltung) oder in Fachgesellschaften (Positionen in Komitees oder Vorständen). Nach einem Wiedereinstieg arbeiten Ärztinnen oft in Teilzeit, was sich häufig nur schwer mit dem weiteren Ausbau der eigenen Karriere vereinbaren lässt [
25]. Der Anteil an Frauen in Führungspositionen steigt zwar an, ein ausgeglichenes Verhältnis von Ärzten und Ärztinnen in Führungspositionen in Deutschland im Fachbereich O&U ist aber nicht erreicht. Mögliche Hindernisse neben der Familienplanung könnten laut der Literatur ein traditionelles Rollenbild, männlich dominierte hierarchische Strukturen in den Kliniken und ein fehlendes Netzwerk sein. Als weitere Ursachen werden eine unzureichende Karriereplanung und eine Fehleinschätzung der Karrieremöglichkeiten durch Ärztinnen aufgeführt [
25]. Da speziell eine Karriere an einer Universität abhängig von Forschungstätigkeiten ist, spielen auch Hürden im Bereich der medizinischen Wissenschaft eine Rolle: Artikel werden seltener publiziert [
26], Forscherinnen werden teilweise schlechter bezahlt [
27], erhalten weniger Fördergelder [
28] und seltener Auszeichnungen [
29]. Derzeit gibt es einige gute Ansätze zur Verbesserung dieser Defizite. Dazu zählen zum Beispiel Mentoring-Programme, spezielle Förderprogramme im Wissenschaftsbereich und die Gründung von Netzwerken, wie zum Beispiel „Die Orthopädinnen e. V.“ und der „Deutsche Ärztinnenbund e. V.“. Ärztinnen bekommen dadurch die Möglichkeit, die eigene Karriere voranzutreiben. Ein weiterer wichtiger Punkt, um die Geschlechterunterschiede im akademischen Bereich zu minimieren, stellt die Verbesserung des Arbeitsumfeldes dar. So zeigten Umfragen, dass 76 % aller Frauen und 62 % der Männer von Diskriminierung am Arbeitsplatz im Bereich der akademischen Medizin in Deutschland berichten [
30].
In den Bereichen Kinderorthopädie, Handchirurgie und Fuß‑/Sprunggelenkchirurgie ist der Anteil an Ärztinnen höher als in den anderen Subspezialisierungen. Dies legt nahe, dass diese Subspezialisierungen attraktiver für Frauen zu sein scheinen. Ursächlich hierfür könnte die Annahme sein, dass unter anderem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in einem Arbeitsumfeld mit guten Optionen zur elektiven, operativen Tätigkeit besser gelingt.
Die Analyse konnte zeigen, dass auf dem DKOU 2019 bis zu 26,4 % der wissenschaftlichen Vorträge durch Ärztinnen oder Wissenschaftlerinnen präsentiert wurden. Dies weist auf ein reges Interesse und eine gute Teilnehmerinnenquote hin, wenn man die generellen Zahlen von Ärztinnen in dem Fachbereich betrachtet.
Im internationalen Vergleich wurden allerdings nur wenige Spezialistinnen auf dem Gebiet der O&U eingeladen, um einen Expertenvortrag zu halten [
8]. Gründe hierfür könnten zum einen der geringere Anteil an Frauen im akademischen Bereich, zum anderen die schon existierende Theorie sein, dass Männer zu einem größeren Teil Männer förderten [
31]. Auch Vorsitzende auf dem DKOU waren überwiegend männlich. Eine Untersuchung aus dem Fachbereich der Mikrobiologie hat gezeigt, dass gemischte Vorsitze auf Kongressen dazu führen, dass sowohl im Auditorium als auch im Bereich der Vortragenden eine verbesserte Geschlechtsbalance erreicht werden kann [
32]. Grundsätzlich besteht hier eine weitere Möglichkeit der Verringerung der geschlechterspezifischen Unterschiede.
Basierend auf den Daten dieser Studie kann festgestellt werden, dass der Anteil an Frauen im Assistenzarztbereich zunimmt, jedoch in höheren Positionen wieder abnimmt. Bereits bestehende Netzwerke und Förderprogramme sollten weiter ausgebaut und eine Inanspruchnahme ermöglicht werden. Das Ziel sollte die Annäherung an ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis im Fachbereich O&U sein. Nachweislich bietet Diversität die Möglichkeit innovativer Ansätze, qualitativ besserer Entscheidungen, erhöhter Produktivität und von lösungsorientierterem Handeln [
33]. Speziell im Gesundheitsbereich konnte außerdem gezeigt werden, dass eine ausgeglichene Geschlechtsverteilung zu einer hochwertigeren Patientenversorgung sowie zu einem besseren Verständnis von zu behandelnden Patientinnen und Patienten führen kann [
8]. Die vorliegende Arbeit soll als Grundlage für weitere Untersuchungen dienen.
Als Limitation dieser Studie kann genannt werden, dass Personen, die sich nicht als Frau oder Mann identifizieren, in dieser Studie nicht berücksichtigt wurden, da keine Daten zur Verfügung standen. Vergleichbare Daten aus anderen Ländern sind mangelhaft und nur aus Kanada und Neuseeland aktuell. Da es sich um eine deskriptive Datenanalyse handelte und die Daten von externen Organisationen zur Verfügung gestellt wurden, kann als weitere Limitation genannt werden, dass nicht alle Daten auf dem aktuellen Stand (2020) präsentiert werden konnten. Retrospektiv konnten wir, bezogen auf den DKOU 2019, nicht feststellen, wie hoch der Anteil an Frauen war, die einen Abstract für den Kongress eingereicht haben und ob hier ein Selektionsbias vorlag.
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