Blutdrucksenkung: Sollte doch ein Zielwert unter 120 die Maxime sein?

Eine große Studie aus China zeigt erneut, dass eine intensive Blutdrucksenkung auf einen systolischen Zielwert unter 120 mmHg in puncto kardiovaskuläre Prävention mehr bringt als eine moderatere Reduktion auf unter 140 mmHg. Muss über eine Revision der Leitlinien nachgedacht werden? Eine Blutdrucksenkung auf einen Zielwert unter 120 mmHg reduzierte in der chinesischen ESPRIT-Studie das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse signifikant stärker als eine standardmäßige Senkung auf Werte unter 140 mmHg. Nach drei Jahren war die Rate für Ereignisse des primären Studienendpunkts (Myokardinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulär verursachter Tod) mit 3,2% versus 3,6% pro Jahr in der Gruppe mit intensiver Blutdrucksenkung relativ um 12% niedriger als in der Vergleichsgruppe (Hazard Ratio: 0.88; 95% Konfidenzintervall: 0,78-0,99). Hier geht's zum Kongressdossier Die kardiovaskuläre Mortalität (0,3% vs. 0,5% pro Jahr) wurde relativ um 39%, die Gesamtmortalität (0,9 vs. 1,1% pro Jahr) relativ um 21% reduziert – was ebenfalls signifikant war. Bei den Endpunkten Myokardinfarkt (0,5% vs. 0,5% pro Jahr) und Schlaganfall (1,5% vs. 1,7% pro Jahr) waren die Unterschiede nicht signifikant. ESPRIT auf gleicher Linie mit der berühmten SPRINT-Studie ESPRIT hat damit bei einer rein chinesischen Patientenpopulation das bestätigt, was vor Jahren schon die viel diskutierte, in den USA durchgeführte SPRINT-Studie gezeigt hat. In ESPRIT wurden durch eine intensive Blutdrucksenkung bei 1.000 Patienten mit Hypertonie über drei Jahre im Vergleich zur moderateren Standardtherapie 14 schwerwiegende vaskuläre Ereignisse und acht Todesfälle verhindert, auf Kosten von drei zusätzlichen unerwünschten Ereignissen in Form von Synkopen, bilanzierte Studienleiter Dr. Jing Li vom Fuwai Hospital in Beijing. Er hat die ESPRIT-Ergebnisse bei der Jahrestagung der American Heart Association (AHA) in Philadelphia vorgestellt. Rechnerisch mussten 74 Patienten aggressiv blutdrucksenkend behandelt werden, um ein kardiovaskuläres Ereignis zusätzlich zu verhindern (Number Needed to Treat: 74) In die Studie waren an 116 Zentren in China 11.255 Patientinnen und Patienten (mittleres Alter 65 Jahre, 41% Frauen) mit initial gemessenen systolischen Blutdruckwerten im Bereich zwischen 130 mmHg und 180 mmHg aufgenommen worden. Zusätzlich zur Hypertonie mussten sie entweder eine manifeste kardiovaskuläre Erkrankung oder mindestens zwei weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren aufweisen. Unterschied um 15 mmHg beim systolischen Blutdruck Die Teilnehmer waren per Randomisierung einer intensiven Blutdrucksenkung (Zielwert < 120 mmHg, n=5624) oder einer standardmäßigen Therapie (Zielwert < 140 mmHg, n=5631) zugeteilt worden. Bei einem mittleren systolischen Ausgangsblutdruck von 147 mmHg lagen die Werte nach einem Jahr bei 120,3 mmHg (intensive Therapie) versus 135,6 mmHg (Standardtherapie). Im Fall von SPRINT hat es bekanntlich viel Diskussion wegen der in der Studie genutzten Methode der Blutdruckmessung mit einem automatischen System gegeben. Ein in SPRINT gemessener systolischer Wert von 120 mmHg sei äquivalent zu einem Wert von 130 mmHg bei der Praxismessung, hieß es. In ESPRIT ist der Blutdruck der Teilnehmer anscheinend in ähnlicher Weise gemessen worden wie in SPRINT. Die Sicherheit der aggressiven antihypertensiven Therapie war „besser als erwartet“, so Jing Li. Die Rate an schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen war mit 42% in beiden Gruppen gleich. Synkopen traten unter intensiver Therapie häufiger auf (0,4% vs. 0,1%). Im Hinblick auf Elektrolytstörungen, sturzbedingte Verletzungen oder akute Schädigungen bzw. Funktionsstörungen der Niere bestanden dagegen keine Unterschiede. „Geändertes Therapieziel für den systolischen Blutdruck in Betracht ziehen“ Diskutant der ESPRIT-Studie bei AHA-Kongress war Prof. Paul Whelton, Tulane University in New Orleans. Er ist Präsident der World Hypertension League. Whelton wies darauf hin, dass mittlerweile vier Studien vorlägen, in denen eine aggressive Blutdrucksenkung – wenn auch nicht immer signifikante – klinische Vorteile gegenüber einer antihypertensiven Standardtherapie gezeigt hätten. Der Hypertonie-Experte nannte die ACCORD-BP-Studie (bei Patienten mit Typ-2-Diabetes), die RESPECT-Studie (bei Patienten mit Schlaganfall), die SPRINT-Studie und die ESPRIT-Studie. Angesichts von vier Studien, die inzwischen für den Nutzen einer Blutdrucksenkung auf systolisch unter 120 mmHg sprächen, sollten für die Leitlinien zuständige Gremien „ein geändertes Therapieziel für den systolischen Blutdruck in Betracht ziehen“, empfahl Whelton. Er verschwieg allerdings nicht, dass selbst bei den derzeit empfohlenen Blutdruckzielwerten eine zufriedenstellende Blutdruckeinstellung bei Hypertonie in der Praxis häufig nicht erreicht wird. Fazit für die Praxis In der chinesischen ESPRIT-Studie hatte eine aggressive Blutdrucksenkung auf systolische Werte unter 120 mmHg eine stärkere Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen zur Folge als eine antihypertensive Standardtherapie. Das Ergebnis der berühmten SPRINT-Studie ist damit bei einer asiatischen Patientenpopulation bestätigt worden. Ob es, wie von einem Experten angeregt, zu einer Änderung der empfohlenen Blutdruckzielwerte für die antihypertensive Therapie in den Leitlinien kommen wird, bleibt abzuwarten. Basierend auf: Sitzung „Late-breaking Science 2“, Scientific Sessions 2023 der American Heart Association (AHA), 11. – 13. November 2023, Philadelphia

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