Immuntherapie bei ALL mit relevantem Überlebensvorteil

Während die Therapie der akuten lymphatischen Leukämie (ALL) im Kindesalter enorme Fortschritte gemacht hat, ist die Prognose bei Erwachsenen mit ALL noch deutlich schlechter. Das Antikörperkonstrukt Blinatumomab, das die auf die Leukämiezellen gerichtete T-Zell-Aktivität verstärkt, kann die Prognose deutlich verbessern, wie die auf dem Kongress der European Hematology Association in Kopenhagen vorgestellte Interimsanalyse der Phase-III-Studie TOWER zeigt. Prof. Dr. Max S. Topp Topp × Die TOWER-Studie wurde vorzeitig abgebrochen, warum? Topp: Die TOWER-Studie untersuchte, ob mit Blinatumomab ein verlängertes Überleben bei einer rezidivierten oder refraktären ALL erreicht werden kann. Der Vergleichsarm war eine Standardchemotherapie. Die Studie wurde abgebrochen, weil in der vordefinierten Interimsanalyse ein klares Signal gesehen worden ist, dass in der Kohorte Blinatumomab in Bezug auf das Gesamtüberleben der Standardchemotherapie überlegen ist. War das ein relevanter Überlebensvorteil? Topp: Für Patienten, die ein Rezidiv einer ALL haben, liegt das mediane Überleben in der Literatur bei knapp vier Monaten. Das wurde auch in dieser Studie bestätigt: Im Chemotherapie-Arm überlebten sie im Median etwa 4 Monate. Bei mit Blinatumomab behandelten Patienten wurde das Überleben fast verdoppelt auf 7,7 Monate. Das ist wirklich relevant für diese Patienten! Demnach war die Vergleichstherapie in die Studie also adäquat? Topp: Bei der adulten ALL ist die Rezidivtherapie nicht genau festgelegt. Es ist klar, dass man bei jüngeren Patienten eine intensivere Chemotherapie wählen sollte, aber welche der vier Chemotherapie-Regime zu bevorzugen ist, ist nicht ganz klar. In Deutschland ist FLAG-Ida* das bevorzugte Regime. Das war auch in der Studie so: 50 % der Patienten im Kontrollarm erhielten FLAG-Ida. Aber egal welches Vergleichsregime man analysiert, es gibt keins, das auch nur annähernd an die Wirksamkeit von Blinatumomab heranreicht. Immer liegt das Gesamtüberleben bei Salvage-Chemotherapie um die 4 Monate herum. Wie sicher ist die Therapie mit Blinatumomab? Topp: In der Studie war bei Therapie mit Blinatumomab eine Reduktion der für Patienten relevanten Grad-3/4-Ereignisse bezüglich der infektiösen Komplikationen und der schweren Hämatotoxizitäten gegenüber der Chemotherapie zu sehen. Das führte in der Regel dazu, dass wir die Patienten frühzeitig aus dem Krankenhaus entlassen konnten. Überraschend war, dass die vorher für Blinatumomab beschriebene Neurotoxizität, die in der Phase-IIb-Studie noch bei 14–15 % in einem Grad 3 oder 4 auftrat, in der Tower-Studie nur bei 8 % beobachtet wurde. Das liegt wahrscheinlich daran, dass man mehr Erfahrung gesammelt hat, wie man damit umgehen kann. Aber überraschend war für mich auch, dass die Standardtherapie ebenfalls 9 % Neurotoxizität des Grads 3 oder 4 auslösen kann. Das war ein Signal, dass selbst eine Nebenwirkung, die man Blinatumomab zuschreibt, gar nicht häufiger ist als bei der Vergleichstherapie. Blinatumomab kann außerdem ein Zytokin-Release-Syndrom auslösen. Die Rate schwerer Zytokin-Release-Syndrome liegt erfreulicherweise deutlich unter 10 %, wir reden jetzt über 2 bis 3 %. Das ist sehr gut beherrschbar, weil ein Zytokin-Release-Syndrom berechenbar in den ersten zwei bis drei Tagen der Therapie auftritt und weil Blinatumomab eine kurze Halbwertszeit hat und man die Pumpe einfach abschalten kann, wenn es auftritt. Welchen Einfluss haben diese Ergebnisse für die Therapie im Rezidiv der ALL in der Praxis? Topp: Für mich persönlich bedeutet ein so deutlicher Überlebensvorteil in einer randomisierte Phase-III-Studie, dass Blinatumomab meines Erachtens die Standardtherapie darstellt für Patienten im ersten Rezidiv bei einer ALL. Das gilt vor allem deswegen, weil die Studie besonders schwer behandelbare Patienten ausgewählt hat, Patienten, die nach Stammzelltransplantation ein Rezidiv erlitten hatten, oder Patienten, die refraktär auf eine Chemotherapie waren. Es ist anzunehmen, dass Blinatumomab, wenn man diese Therapie grundsätzlich für die Rezidivtherapie der ALL erwägen sollte, zu noch besseren Ergebnisse führen könnte, vor allem auch beim späten Rezidiv. Für welche Patienten mit ALL ist die Therapie mit Blinatumomab nach dieser Studie geeignet? Topp: Grundsätzlich ist Blinatumomab für alle Patienten, die ein Rezidiv einer ALL erlitten haben, geeignet. Alle Subgruppen in TOWER haben vergleichbar gut angesprochen. Was ist das Besondere am Therapiemanagement von Blinatumomab? Topp: Es ist das erste Medikament in der Malignomtherapie mit einer über 28 Tage langen Dauerinfusion. Die einleitende Therapie muss wegen der möglichen Nebenwirkungen über 9 Tage im Krankenhaus durchgeführt werden. Spricht der Patient gut an, kann die Therapie danach komplett ambulant erfolgen. Normalerweise ist eine effektive Leukämietherapie sonst nicht ambulant durchführbar. Kann die Therapie mit Blinatumomab Patienten eine Stammzelltransplantation ersparen? Topp: Die TOWER-Studie ist definitiv nicht dafür gepowert, um diese Frage zu beantworten. Es gibt aber erste Hinweise, dass man bei diesen Patienten differenziert entscheiden muss, ob man eine Stammzelltransplantation durchführen muss. Eine besondere Situation ist der Einsatz von Blinatumomab bei einer molekularen Resterkrankung (MRD). Die Patienten mit ALL und MRD haben ein extrem hohes Risiko zu rezidivieren. Das tun sie innerhalb von drei bis vier Monaten, während Patienten mit einer ALL, die MRD-negativ sind, eine sehr gute Prognose haben. Bisher wurde Patienten, die nach Induktion MRD-positiv blieben oder wieder MRD-positiv wurden, nach Möglichkeit eine Stammzelltransplantation angeboten. Das führte bei 50% der Patienten zu einer Heilung. Es gibt jetzt erste Signale aus der Phase-II-Studie BLAST, dass MRD-positive Patienten mit ALL, die im ersten Rezidiv nur Blinatumomab erhalten haben und nicht transplantiert worden sind, eine Überlebensrate von 70% haben. Das sind nur erste Ergebnisse mit ganz kleinen Fallzahlen. Sie weisen aber darauf hin, dass eine Stammzelltransplantation in dieser speziellen Situation vielleicht nicht mehr nötig ist. Das muss in einer kontrollierten Studie überprüft werden. Könnte es Sinn machen, bei manchen Patienten vor der Therapie mit Blinatumomab ein Priming durchzuführen? Topp: Die Immuntherapie basiert darauf, dass ein kompetentes Immunsystem vorhanden ist. Das ist nicht bei jedem Patienten so. Beispielsweise bedarf es bei Patienten, die eine allogene Stammzelltransplantation hinter sich haben, Monate, bis sich das Immunsystem wieder aufrichtet. Es passiert aber häufiger, dass ein Patient bereits sehr früh rezidiviert, bevor es zu einer Immunrekonstruktion gekommen ist. In dieser Situation fehlt der Effektorarm dieser Therapie. Entsprechen kann man über eine Donorlymphozyteninfusion nachdenken, bevor man Patienten mit Blinatumomab behandelt. Außerdem haben wir eine Korrelation gesehen zwischen der Tumormasse und dem Ansprechen: Patienten, die eine hohe Tumorlast haben, sprechen nicht so gut an wie Patienten, die eine geringe Tumorlast haben. Da ist eine Fragestellung, ob man vorab ein Regime wählt, das zu einer gewissen Reduktion der Tumorlast führt, sei es eine Chemotherapie oder Steroide, ohne das Immunsystem zu schädigen. Die optimale Sequenz muss man besser ausarbeiten. Kann man diese Immuntherapie auch mit einer anderen, z.B. mit einer Checkpointblockade, kombinieren? Topp: Intellektuell macht das natürlich absolut Sinn. Es gibt einzelne Daten, dass das System der Checkpointhemmung auch bei der ALL relevant sein könnte. Man muss aber erst einmal grundsätzlich die Frage stellen, ob es bei den Patienten, die nicht ansprechen, zu einer Hochregulation oder Expression von entsprechenden Molekülen kommt. Wenn das der Fall sein sollte, dann ist natürlich auch klar, dass man in solchen Situationen Checkpointinhibitoren einsetzen könnte, um die Effektivität zu steigern. Gibt es da aktuell bereits Bemühungen? Topp: Ja, wir bei uns in Würzburg versuchen das. Wir haben einen prädiktiven Marker identifiziert: Patienten mit einer hohen Anzahl von regulatorischen T-Zellen sprechen nicht besonders gut auf Blinatumomab an. Da kann man z.B. überlegen, ob man Checkpointinhibitoren einsetzt. Wir untersuchen in unseren Patientenkollektiven auch die Frage der Hochregulation von entsprechenden Molekülen und im Labor, ob der Einsatz von Checkpointinhibitoren eine Erhöhung der Effektivität erreichen kann. *Fludarabin, Cytarabin-Arabinosid, Granulozyten-Kolonie stimulierende Faktor (G-CSF) und Idarubicin

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