Videobrille für Op.-Patienten: Lokale Betäubung statt Vollnarkose

Eine ungewohnte Umgebung, Aufregung und Lärm machen eine Op. für Patienten oft zu einer Stresssituation. Eine Videobrille bietet eine audiovisuelle Stimulation zur Ablenkung und Entspannung – und reduziert damit auch die Medikamentengabe. Ein Interview mit dem Anästhesisten Prof. Dr. med. Henrik Rüffert. Eine Naturdokumentation, ein Konzert oder ein Komödie – dies ist nur eine Auswahl an Genres, die Patienten nun während einer Op. schauen können. Die audiovisuelle Entkopplung durch die Videobrille (d.h. über Kopfhörer und Brille, s. Abb.) ist dabei im gesamten perioperativen Umfang anwendbar. Akkurat Identity, HappyMed GmbH (Symbolbild mit Fotomodellen) × Im Einsatz ist die Videobrille zum Beispiel schon an der Helios Klinik Schkeuditz. Im Interview sprach Prof. Dr. med. Henrik Rüffert, Chefarzt der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie. Die Videobrille hat er bereits seit Anfang 2017 in Gebrauch. Herr Prof. Rüffert, wie sind Sie auf die Videobrille aufmerksam geworden? Prof. Rüffert: Bei einer Anästhesie-Fachgruppentagung unseres Krankenhausträgers wurde unter anderem über alternative Möglichkeiten der Angstreduktion und Stressabschirmung vor und während der Operation diskutiert. Dabei gab es eine offizielle Präsentation der Videobrille. Das Ziel ist die Reduktion oder der Verzicht der medikamentösen Stressabschirmung, klassischerweise mit Benzodiazepinen. Deren Anwendung ist bekanntermaßen gerade bei älteren Patienten häufiger mit postoperativen Verwirrtheitszuständen oder Konzentrationsstörungen verbunden – dem sogenannten „postoperativen kognitiven Defizit“. Wie kommt der Patient dazu, sich für die Videobrille zu entscheiden? Wir nutzen die Prämedikationsvisite als Möglichkeit, dem Patienten diese „Beruhigungsoption“ näher zu bringen. Zusätzlich zum direkten Gespräch kommen auch noch Broschüren zum Einsatz. Zum Teil hat es sich bei den Patienten aber bereits herumgesprochen, dass wir diese „Brillen“ im Haus nutzen. Sozusagen „mal etwas anderes…“. Wann und wo setzen Sie die Brille ein? Grundsätzlich ist dies bei jeder Form der Anästhesie möglich. Insbesondere in der Vorbereitung, d.h. in der unmittelbaren präoperativen Phase, in der Überwachung und Infusion angelegt werden und der Patient auf den Beginn seiner Anästhesie (entweder Regionalverfahren oder Narkose) wartet. Intraoperativ sind natürlich alle Regionalanästhesieverfahren der eigentliche Einsatzgrund, um den Patienten von für ihn ungewohnten visuellen oder akustischen Reizen abzulenken. Im Einzelfall setzen wir die Videobrille auch im Aufwachraum ein. Wird bei Patienten mit Videobrille häufiger eine Regionalanästhesie angewendet? Gefühlt ja. Grundsätzlich werden dem Patienten ja präoperativ sämtliche geeignete Alternativverfahren einer Anästhesie mit Vor- und Nachteilen vorgestellt. Viele Patienten entscheiden sich für eine Narkose, weil sie von der Operation und dem ganzen Drumherum nichts mitbekommen möchten. Mit der Videobrille kann ihnen eine audiovisuelle Möglichkeit geboten werden, die diesem Wunsch auch ohne Narkose weitestgehend nachzukommt. Letztlich erleichtert die Brille dem Patienten die Entscheidung für ein Regionalanästhesieverfahren. Wie wirkt sich der Einsatz der Videobrille auf die Medikamentengabe rund um eine Op. aus? Wenn die Patienten das Angebot der Videobrille annehmen, wird in der Regel die Gabe von medikamentösen Beruhigungsmitteln zweitrangig oder meist gänzlich überflüssig. Selbst ängstlichen Patienten raten wir zunächst zum Ausprobieren der Videobrille – verbunden mit der Option, notfalls doch medikamentös „nachzuhelfen“, wenn die Brille nicht ausreichen sollte. Tatsächlich kann dann in den meisten Fällen auf zusätzliche Sedativa verzichtet werden und falls diese doch gewünscht werden, ist üblicherweise eine geringere Dosis zur Überbrückung ausreichend. Sehen Sie Nachteile oder Schwachstellen bei der Videobrille? Was würden Sie sich in Zukunft noch wünschen? Die Brille kann gegenwärtig nur bei kooperativen Patienten eingesetzt werden. Außerdem würde ich mir ein wenig mehr Individualität wünschen. Stellen Sie sich einen dementen Patient vor, der bei einer Operation Angst vor der neuen Umgebung und Situation hat. Er könnte über diese Brille sowohl die ihm bekannten Gesichter als auch die Stimmen seiner Familienangehörigen wahrnehmen, welche diese über ein Smartphone vorher aufgenommen haben. Und natürlich müsste die Brille für unkooperative Patienten robuster gestaltet werden, da es aktuell teuer wird, wenn sie kaputt geht. Kinder sind vor einer Op. sehr angespannt. Haben Sie die Brille auch schon einmal bei Kindern im Einsatz gehabt? Da wir im Haus keine Kinderchirurgie betreiben, haben wir die Brillen entsprechend auch nicht bei Kindern eingesetzt. Grundsätzlich sind Kinder aber durchaus offen für solche „elektronischen Dinge“ und lassen sich damit zum Teil besser als Erwachsene ablenken. Sie müssen nur einmal Kinder beobachten, wie vertieft sie sich den Smartphones ihrer Eltern widmen, sofern sie diese zum „Spielen“ bekommen. Wenngleich Letzteres pädagogisch natürlich wenig wertvoll ist, kann dieser Effekt perioperativ durchaus sehr hilfreich sein. Zu guter Letzt: Gibt es denn Vorlieben bei der Videoauswahl Ihrer Patienten? Die meisten entscheiden sich für Natur- oder Tierweltthemen; aber ich habe noch niemanden wahrgenommen, dem das Gesamtrepertoire nicht zusagt oder der etwas völlig anderes sehen wollte. Es gibt auch Patienten, die die Brille aus vielerlei anderen Gründen absolut nicht nutzen möchten – auch das muss man akzeptieren. Herr Prof. Rüffert, vielen Dank für das Gespräch! Zur Person Prof. Dr. med. Henrik Rüffert Chefarzt für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie an der Helios Klinik Schkeuditz. Prof. Rüffert ist Gastwissenschaftler an der Universität Leipzig. Zudem ist er Mitglied des Executive Committe der European Malignant Hyperthermia Group, des Scientific Subcommittee der European Society of Anaestesiology und der Prüfungskommission für Anästhesie, Anästhesiologische Intensivmedizin und Notfallmedizin bei der Sächsischen Landesärztekammer. Des Weiteren ist er Vorstandsmitglied der AG Sächsische Notärzte. Henrik Rüffert ×

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