Hintergrund
Der Hausärzt*innenmangel ist gerade in ländlichen Regionen längst Realität geworden und nimmt in Anbetracht der demographischen Struktur der Hausärzt*innenschaft tendenziell weiter zu [
1‐
3]. Von großem Interesse ist es daher, den ärztlichen Nachwuchs für die hausärztliche Versorgung in ländlichen Regionen zu gewinnen [
4,
5]. In der Literatur werden hierfür verschiedene Faktoren, die diese Entscheidung bedingen, aufgeführt und aufgezeigt, wie heterogen bzw. komplex die Motivlagen zur Entscheidung für eine hausärztliche Tätigkeit sind [
6‐
10]. Neben der Einführung der Landarztquote (LAQ) wurden in Bayern zahlreiche Förderprogramme, wie das Projekt „LandArztMacher“ [
11], die „Beste Landpartie Allgemeinmedizin“ (BeLA) [
12‐
14] oder auch dessen Vorgängerprojekt „Ausbildungskonzept Allgemeinmedizin Dillingen“ (AKADemie Dillingen), umgesetzt [
15,
16]. Im Rahmen der Evaluation der verschiedenen Projekte konnte gezeigt werden, dass es gelingt, junge Medizinstudierende für eine allgemeinmedizinische Tätigkeit in ländlichen Regionen zu motivieren bzw. interessieren. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Reichweite der Programme beschränkt scheint und diese oftmals lediglich für spezifische Personengruppen mit einer Tendenz zur Allgemeinmedizin und einem zumeist persönlichen Bezug zu ländlichen Regionen attraktiv zu sein scheinen [
13,
14,
16]. Zentral für die Bewertung dieser Förderprogramme wie auch für deren gesundheitspolitische Ausrichtung ist aber gerade die Evaluation der Langzeiteffekte dieser Programme. Letztlich muss evaluiert werden, ob die Teilnehmenden der Förderprogramme sich für eine Facharztweiterbildung in der Allgemeinmedizin entscheiden und ob sie als Hausärzt*innen in der Region tätig bleiben und sich ggf. niederlassen.
Im Rahmen dieser qualitativen Studie wurden ehemalige Teilnehmende des Modellprojekts AKADemie Dillingen (AKADemie), dem Vorläufermodell des BeLA-Programms, befragt. Die AKADemie wurde vom Institut für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung (IfAV) der Technischen Universität München, der Kreisklinik Dillingen und Hausärzt*innen der Region entwickelt und ab Januar 2013 umgesetzt [
15,
16], mit Übergang in das BeLA-Programm ab 2018 [
12]. Im Rahmen eines integrierten praktischen Jahrs (PJ) mit den Fächern Innere Medizin, Chirurgie und Allgemeinmedizin sollten die Teilnehmenden über die longitudinale Verschränkung der didaktischen Inhalte sowie der Kooperationen mit dem Praxisnetzwerk der Hausärzt*innen zu einem Verbleib in der Kreisklinik oder der hausärztlichen Versorgung in Dillingen bewegt werden [
12,
15]. Die AKADemie umfasste eine kontinuierliche didaktische Begleitung, eine organisatorische Rahmung (Unterkunft, monatliche Vergütung etc.) in Form eines „PJ all inclusive“ sowie ein „Train-the-trainer-Konzept“ zur Umsetzung einer einheitlichen und strukturierten Ausbildungsmethodik. Zudem gab es ein Mentorenprogramm, in dem die Studierenden von einem hausärztlich tätigen Mentor begleitet wurden, sich regelmäßig trafen und gemeinsam Lernziele vereinbarten. Das ausführliche didaktische Konzept wurde bereits zum damaligen Zeitpunkt veröffentlicht [
15].
Bis zum Jahr 2019 haben insgesamt 24 Studierende das PJ vollständig mit allen Tertialen in Dillingen absolviert [
12]. Zusätzlich gab es externe Studierende von anderen Universitäten, die teilweise nur einzelne Tertiale absolviert haben. Für die hier vorliegende Follow-up-Erhebung wurden ehemalige PJ-Studierende aus Dillingen interviewt, die sich für eine Facharztweiterbildung, Niederlassung mit einem eigenen KV-Sitz oder für ein Angestelltenverhältnis in einer Hausarztpraxis in der Region entschieden haben. Ziel dieses Beitrags ist es, die Langzeiteffekte des Modellprojekts AKADemie aufzuzeigen sowie die Motive zum Verbleib in der Region darzustellen.
Methoden
Zwischen Juni 2023 und November 2023 wurden insgesamt 10 leitfadengestützte narrative Interviews geführt. Die Teilnehmenden dieser qualitativen Studie wurden über die durch das Modellprojekt entstandene Vernetzung der ehemaligen Teilnehmenden mittels Schneeballprinzip sowie über die Vernetzung mit dem IfAV (AS) und dem damaligen Kooperationspartner der Inneren Medizin an der Kreisklinik St. Elisabeth in Dillingen an der Donau (UB) angesprochen. Die Teilnehmenden wurden durch einen Mitarbeiter des IfAV (JG) kontaktiert und zur Interviewteilnahme eingeladen. Im Vorfeld des Interviews wurde die Studieninformation sowie die Einwilligungserklärung übersandt. Es wurden 11 Personen kontaktiert, wovon schlussendlich 10 Personen interviewt werden konnten. Der vorliegende Bericht über die Studie orientiert sich an einer Checkliste gemäß Consolidated Criteria for Reporting Qualitative Research (COREQ; [
17]).
Narrative Interviews zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf die Ausgestaltung biographischer Erzählungen fokussieren und hierbei den Interviewten Freiraum für die eigenen Ausführungen und die Setzung eigener Relevanzen geben [
18,
19]. Der Leitfaden wurde von JG, SG und AS erstellt und findet sich im Zusatzmaterial online (Tabelle Interviewleitfaden). Der Leitfaden enthielt einen offenen Erzählstimulus. Dieser gibt den Teilnehmenden die Möglichkeit, selbst zu wählen, wie sie ihre Erzählung beginnen und ausgestalten möchten [
19,
20]. Dieser Stimulus fokussiert zum einen die Entscheidung zur (haus-)ärztlichen Tätigkeit in der Region sowie auch die Rolle des Modellprojekts für die ärztliche Ausbildung- und Weiterbildung. Der Stegreiferzählung im Zuge des Erzählstimulus folgte der sog. Nachfrageteil, in dem sowohl immanente Fragen – also Fragen, die sich auf das unmittelbar von den Teilnehmenden Gesagte – wie auch exmanente Fragen – also Fragen, die sich auf die Forschungsfrage beziehen – gestellt wurden. Die exmanenten Fragen wurden ebenfalls erzählgenerierend formuliert und zielten primär darauf ab, das im Zuge der Stegreiferzählung Gesagte zu bilanzieren und zu werten sowie einen Ausblick zu ermöglichen. Adressiert wurden die Effekte von Förderprogrammen wie der AKADemie, die Attraktivität und die Anforderungen hausärztlicher Tätigkeit gerade in ländlichen Regionen sowie Vorstellungen der Interviewten von ihrer künftigen Tätigkeit. Das Interesse lag somit auf den Aspekten, die die Inhalte und Ausrichtung des Programms auf der einen und jeweils individuelle biographische Entscheidungen auf der anderen Seite berührten. Damit ging es auch um die Frage, wie das Projekt retrospektiv in die eigene Erzählung des ärztlichen Werdegangs und die Entscheidung zur Facharztwahl eingebettet wird.
Die Interviews wurden telefonisch durchgeführt, aufgenommen und im Nachgang transkribiert und pseudonymisiert. Um mit der Offenheit der narrativen Interviews umzugehen, wurden im Nachgang kurze Feldnotizen erstellt, die aber nicht vertiefend in die Analyse eingeschlossen wurden. Die Interviews dauerten zwischen 31 und 58 min. Zur Auswertung wurde die Software MAXQDA (VERBI Software GmbH, Berlin, Deutschland) genutzt. Die Auswertung erfolgte gemäß der Inhaltsanalyse nach Mayring [
21,
22]. Dieses Vorgehen ermöglicht ein Verfahren der regelgeleiteten Textanalyse, das sowohl auf die konkreten Fragestellungen konzentriert ist, als auch Offenheit gegenüber dem Material gewährleistet. Die Auswertung fokussiert hierbei nicht auf die einzelnen narrativen Fallgeschichten der interviewten Personen, sondern hatte das Ziel, die Erzählungen der Teilnehmenden zu strukturieren, um so einen Querschnitt durch diese zu ermöglichen. Die Kodierung erfolgte zunächst deduktiv mittels eines vorab definierten Kategoriensystems, das auf Basis der Themen des Leitfadens entwickelt wurde. Weiterhin erfolgte die Kodierung induktiv, um die gesamte Breite der Interviews auszuschöpfen und neue (Unter‑)Kategorien zu entwickeln. Die Kategorien wurden mit Ankerbeispielen versehen, die für die jeweilige Kategorie charakteristisch waren und damit auch Abgrenzungen innerhalb und zwischen den Kategorien ermöglichen. Die codierten Stellen wurden im Anschluss paraphrasiert. Ziel dieser strukturierenden Inhaltsanalyse war es, eine Struktur aus dem Material hervorzubringen, die die verschiedenen Aspekte der Forschungsfrage umfasst [
23]. Die Kategorien wurden im Anschluss verglichen, kontrastiert und gewichtet. Für die Darstellung der Ergebnisse wurden zentrale Zitate aus dem Material ausgewählt.
Diskussion
Ersichtlich wird ein Komplex aus fachlichen Gründen für eine hausärztliche Tätigkeit in Kombination mit unterschiedlichen Motiven für einen Verbleib in der Region Dillingen, wobei der Aspekt der Vernetzung zentral war. Von wesentlicher Bedeutung für einen Verbleib erscheint eine gute Vernetzung zwischen den Praxen, der Klinik sowie der universitären Struktur, die auch perspektivisch über die Ausbildungszeit hinaus einen Beitrag für die Teilnehmenden leistet.
Auch wenn sich unsere Ergebnisse mit bisherigen Studien decken, dass Förderprogramme, wie die AKADemie oder BeLA, vorrangig Studierende ansprechen, die bereits eine Tendenz zu einer allgemeinmedizinischen Tätigkeit oder eine eigene ländliche Herkunft haben [
9], konnte im Rahmen dieser Studie gezeigt werden, dass auch Unentschlossene für einen Verbleib gewonnen werden können.
Weiterhin lässt sich aber auch betonen, dass sich im Rahmen dieser Studie gezeigt hat, wie essentiell es ist, gerade auch diejenigen zu binden, die entweder die klare Tendenz zur Allgemeinmedizin im ländlichen Raum haben oder gar selbst aus der Region kommen. Wie es in einem der dargestellten Zitate illustrativ ausgedrückt wurde, ist „auch viel gewonnen“ (Interview_tn_03, P. 53), wenn es gelingt, den Teilnehmenden eine attraktive und langfristige Perspektive aufzuzeigen. Dies scheint zu gelingen, denn es werden davon sowohl die in der Literatur oft beschriebene Gruppe der Studierenden, die schon vor der Teilnahme an solchen Förderprogrammen von einer ländlichen Tätigkeit überzeugt sind, wie auch die Unentschlossenen, die noch keine klare Tendenz hatten, angesprochen [
10,
13,
14]. Die Entscheidungsfindung zum Schritt in die ländliche Region und die nach und nach wachsenden Motive zum Verbleib, die die Teilnehmenden geschildert haben, zeigen auf, wie es gelingen kann, junge Medizinstudierende für einen Verbleib im ländlichen Raum zu motivieren, und wie wichtig eine langfristige Begleitung hierfür ist [
15,
24]. Eine solche Begleitung sollte mittels einer frühzeitigen Ansprache in Kombination mit einer langfristigen Betreuung, die sowohl fachliche als auch vernetzende Faktoren liefert, umgesetzt werden. Auch mit Blick auf die Merkmale der verbliebenen Teilnehmenden (Tab.
1) zeigt sich, dass es nicht nur Personen aus ländlichen Regionen sind, die sich für einen Verbleib entschlossen haben, sondern auch diejenigen aus Mittel- bis Großstädten, die auch in ihrer subjektiven Wahrnehmung keine ländliche Herkunft aufweisen. Dieser Aspekt erscheint uns in Anbetracht bisheriger Studien zum Zusammenhang zwischen Wohn- bzw. Studienort und persönlicher Herkunft und der Wahl Allgemeinmedizin als erkenntnisreich [
9]. So konnten nicht nur Teilnehmende aus der Region, sondern auch Personen von außen für einen Verbleib motiviert werden. Im Rahmen dieser Studie konnte darüber hinaus zumindest akzentuiert dargestellt werden, wie auch tendenziell Unentschlossene (die eine unklare bis vage Tendenz zur Allgemeinmedizin als Option neben anderen haben) für das Programm gewonnen werden konnten und tatsächlich auf lange Sicht für die Region gewonnen werden können – was in Anbetracht anderer Studien, die oftmals auf die „Überzeugungstäter“ verweisen, ein wichtiges Ergebnis darstellt [
14,
16].
So zeigen sich gerade auch die in der Literatur diskutierten „Klebeeffekte“ [
11,
13], wonach junge angehende Ärzt*innen, wenn sie im Rahmen eines strukturierten didaktischen Rahmens mit einer ländlichen Regionen in Kontakt kommen, durchaus verbleiben, wenn die Voraussetzungen und die Erwartungen an die eigene ärztliche Tätigkeit gefördert und dann auch eingelöst werden können [
25]. Für BeLA konnten bereits weitere – dem hier vorgestellten Aspekt der Netzwerkbildung ähnliche – synergetische und prospektive Effekte (wie beispielsweise die gewinnbringende Vernetzung mit den Ärzt*innen und Kliniken der Regionen, konkrete Anschlussmöglichkeiten nach der Ausbildung wie auch eine hohe Identifikation mit der ländlichen Tätigkeit in der Region) gezeigt werden, die solche Förderprogramme für die Teilnehmenden attraktiv machen [
13]. So wurde von allen Teilnehmenden dieser Studie hervorgehoben, wie zentral diese Förderprogramme dafür sind, junge Medizinstudierende zum einen an ländliche Regionen zu binden und zum anderen auch überhaupt in diese Regionen zu bringen. Die Teilnehmenden hoben ebenso hervor, wie durch die Vermittlung des ärztlichen Nachwuchses über die AKADemie die Gesundheitsversorgung der Region gestärkt werden konnte und auch potenziell langfristig davon profitieren wird. Dies ist auch dann der Fall, wenn sich Studierende der Förderprogramme auch gegen die Allgemeinmedizin und für einen anderen Fachbereich entscheiden, aber dennoch in der Region verbleiben.
Eine Limitation dieser Studie ist es, dass die exakte Anzahl der Grundgesamtheit der Studierenden nicht ermittelt werden kann, da neben den TU-Studierenden auch Externe das PJ in dem ländlichen Krankenhaus Dillingen absolviert haben. Dennoch scheint ein langfristiger Verbleib von 11 Ärzt*innen in der Region für eine hohe Effektivität des AKADemie-Projekts zu sprechen. Abschließend muss hervorgehoben werden, dass es sich bei der Gruppe der Befragten um ein spezifisches Sample handelt. Es wurden lediglich diejenigen Teilnehmenden interviewt, die sich für eine ärztliche Tätigkeit in der Region entschieden haben. Von großem Interesse wären in der Gegenüberstellung gerade diejenigen, die sich gegen die Allgemeinmedizin bzw. gegen einen Verbleib in der Region entschieden haben. Weiterhin impliziert die Methodenwahl mit narrativen Interviews einige Herausforderungen. Narrative Interviews zielen auf offene Erzählungen der Befragten und deren eigener Relevanzen in ihrer Selbstdarstellung ab [
19]. In dieser rekonstruierenden Perspektive geht es somit um die Darstellung und Präsentation der eigenen Biographie sowie der damit einhergehenden Entscheidungen und Handlungsabläufe, die den Teilnehmenden dafür relevant erscheint. Im Rahmen dieser offenen Interviewführung sehen sich die Teilnehmenden gerade aufgrund der Offenheit der Methode damit konfrontiert, die eigene Biographie kohärent erzählen zu müssen und konkrete Motive benennen zu müssen. Diese „Medialität“ von Interviews, also die Tatsache, dass das Setting des Interviews „Räume für bestimmte Erzählbarkeiten“ [
26] produziert und Motive erst im Erzählen (bzw. durch die Frage nach diesen) entstehen und darauf begrenzt sind, schränkt den Möglichkeitsraum der Interviews ein [
26]. Brüche, Inkohärenzen oder gar eigene Widersprüche in den Erzählungen der Teilnehmenden werden in dem hier vorliegenden Fall somit unter Umständen weniger ersichtlich. So wäre es in dieser Hinsicht eine vielversprechende Perspektive gewesen, bereits während der damaligen Programmteilnahme Interviews mit dem gleichen Ziel zu führen. Eine solche qualitative Längsschnittstudie würde eine spannende Erweiterung dieser Studie darstellen, wie Motive entstehen, sich ändern und wie diese schlussendlich die Entscheidungen zur Facharztwahl und die Wahl des Arbeitsorts bedingen.
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