Hintergrund
Medizinischer Fortschritt, demografischer Wandel und Fachkräfteengpässe machen neue Konzepte für die Primärversorgung dringend erforderlich [
1]. Diese Konzepte müssen einerseits den spezifischen regionalen Versorgungsbedarf berücksichtigen, andererseits auch auf die Bedürfnisse der Akteure abgestimmt sein, wie z. B. auf den Wunsch nach mehr Teamarbeit sowie flexiblen Arbeitsmodellen [
2]. Hierbei stehen insbesondere strukturschwache Regionen vor der Herausforderung, mit möglichst innovativen Konzepten Fachkräfte für die Region zu gewinnen und zu binden [
3]. International erprobte Modelle wurden bereits vom Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege in den Gutachten 2014 [
1] und 2018 [
4] als eine sinnvolle Option zur Verbesserung der Primärversorgung in Deutschland empfohlen. Die Robert Bosch Stiftung griff solche Konzepte für die von ihnen geförderten „regionalen Gesundheitszentren zur Primär- und Langzeitversorgung – PORT“ auf [
5].
In Baden-Württemberg ging 2019 mit Förderung u. a. der Robert Bosch Stiftung ein solches Zentrum modellhaft an den Start („
PORT Gesundheitszentrum Schwäbische Alb Hohenstein“ [GZH]). Das Konzept der PORT-Zentren orientiert sich wesentlich am Primary Health Care Konzept der WHO (Deklaration von Alma-Ata) und der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Ein interprofessioneller Ansatz sowohl in der Patientenversorgung als auch beim Lernen und Lehren dient dabei als Leitgedanke [
6]. Zur verbesserten Abstimmung unter den Berufsgruppen und Unterstützung des Patienten bei komplexen Patient:innen bzw. Situationen sollen Fallkonferenzen [
7,
8] und Case- und Care-Managementansätze dienen [
9,
10].
Konkrete Kriterien des PORT-Konzepts sind [
5]:
-
Abstimmung auf den regionalen Bedarf;
-
patientenzentrierte, koordinierte, kontinuierliche Versorgung;
-
Unterstützung des Patienten im Umgang mit seiner Erkrankung;
-
multiprofessionelle Teams aus Gesundheits‑, Sozial- und anderen Berufen auf Augenhöhe;
-
Nutzung von eHealth;
-
Integration von Prävention und Gesundheitsförderung;
-
kommunale Anbindung.
Kooperative Arbeitsstrukturen entsprechen den Präferenzen der nachrückenden Fachkräfte, weshalb die Erwartung besteht, dass über so gestaltete Zentren Personal für die ländlichen Regionen gewonnen werden kann [
11,
12].
Im Rahmen einer begleitenden Evaluation war es Ziel, die Implementierung dieses innovativen Versorgungsmodells hinsichtlich der PORT-Kriterien zu begleiten und entsprechende Empfehlungen für die weitere konzeptionelle Entwicklung zu geben.
Methoden
Es handelt sich um eine gemischtmethodische (formative) Begleitevaluation. Im vorliegenden Artikel werden folgende Evaluationselemente dargestellt:
1.
Die Implementierung der Strukturen und Angebote (Fachkräfte, Praxen, Sprechstunden etc.) wurden retrospektiv rekonstruiert und deskriptiv dargestellt.
2.
Im Zeitraum Januar 2022 bis März 2023 wurden von den Versorgern wöchentlich auf Basis einer vorgegebenen strukturierten Dokumentation Informationen zur interprofessionellen Zusammenarbeit (IPZ) angefordert. Dabei wurde zwischen einfachem „Verweis ohne Rücksprache“ (= Lenken von Patient:innen ohne Kontaktaufnahme eines anderen Versorgers im Zentrum), „Zusammenarbeit/Austausch“ (= kurze Telefonate oder Gespräche mit anderem Versorger im Zentrum) sowie „intensiver Zusammenarbeit“ (mehrmals längerer Austausch) unterschieden. Die Rückmeldungen wurden über den Zeitraum zusammengefasst und als wöchentlicher Durchschnitt dargestellt.
Zusätzlich wurde die IPZ über die durchgeführten Fallkonferenzen auf Basis der angefertigten Protokolle sowie durch eine jeweils durchgeführte strukturierte Abfrage in Nachbesprechungen mit den Teilnehmenden (zu Lernmomenten, subjektiv empfundenem Mehrwert sowie Herausforderungen) qualitativ angelehnt an strukturierte Inhaltsanalyse ausgewertet [
13]. Ziel der Fallkonferenzen, die mit allen Versorgern und den Betroffenen durchgeführt wurden, war es, konkrete Lösungen für und mit den Patient:innen zu erarbeiten.
3.
Um die Tätigkeit der Lotsin im Team zu beschreiben, wurde zusätzlich zur o. g. Dokumentation ein Experteninterview mit der Lotsin geführt mit Fokus auf ihre Arbeit.
4.
Zufriedenheit und Erfahrungen mit der neuen Versorgungsform aus Nutzerperspektive wurden durch eine schriftliche querschnittliche Befragung in 3 unabhängigen Stichproben (2020–2022) erfasst. Die Erhebung fand jeweils im Zeitraum einer Woche im Oktober eines jeden Jahrs in den Wartebereichen des PORT-Zentrums statt. Alle Patient:innen bzw. Angehörigen, die das GZH in diesem Zeitraum besuchten, wurden zur Teilnahme aktiv eingeladen. Aufgrund der großen kinderärztlichen Praxis wurde jeweils eine Version für Erwachsene und eine angepasste Version für Begleitpersonen mit Kindern erstellt. Der schriftliche Fragebogen wurde soweit möglich auf etablierte Instrumente aufgebaut. Abgefragt wurden soziodemografische Daten, Erkrankungen, Lebensqualität (EQ5D-5L; [
14]), die Nutzung des Zentrums sowie die Zufriedenheit damit (ZUF‑8; [
15]), die Patientenaktivierung (PAM-13; [
16]), die Morbidität (SCQ‑D; [
17]) sowie die wahrgenommene Kooperation am Zentrum. Neben (meist 5‑stufigen) Likert-Skalen waren auch Freitextantworten möglich. Es erfolgte ein Prätest mittels „
Think-aloud-Methode“ [
18] mit Menschen verschiedener Altersgruppen und Herkunft.
Zusätzlich zur deskriptiven quantitativen Auswertung zur Darstellung soziodemografischer Merkmale der Population sowie Berechnung der instrumentalen Kenngrößen (EQ5D-5L, ZUF‑8, PAM-13, SCQ-D) aus den Rohdaten wurden die Freitextantworten nach inhaltsanalytischem Vorbild kategorisiert und ausgewertet [
13]. Beim ZUF wurden je Erhebung Mittelwerte der Angaben gebildet [
19].
Ergebnisse
Strukturen und Angebote im PORT-Zentrum
Seit Beginn 2019 befinden sich am Standort „unter einem Dach“ eine jeweils unabhängige Praxis (mit den entsprechenden KV-Sitzen) für Allgemeinmedizin (Teilzeit), Pädiatrie (Vollzeit) und Physiotherapie (Vollzeit) sowie der gesetzlich finanzierte Pflegestützpunkt (2 halbe Wochentage) und die ebenfalls finanzierte interdisziplinäre Frühförderstelle. Seit 2020 wurde dieses Angebot an 3 Tagen durch eine Patientenlotsin (Pflegefachkraft) ergänzt (Förderung durch die Robert Bosch Stiftung im Rahmen der PORT-Initiative), die Nutzer:innen bei allgemeinen Fragen zur Versorgung, zu individuellen Versorgungsbedarfen, aber auch bei Problemen allgemeiner Lebensumstände berät. Das örtliche Gesundheitsamt organisiert außerdem Veranstaltungen zur Gesundheitsförderung und Prävention (trotz Pandemiebedingungen ca. 17 pro Jahr). Im Verlauf kam eine Satellitensprechstunde durch das Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg (ein Vormittag) und eine selbständige Hebammenpraxis (Sprechzeit nach telefonischer Vereinbarung) hinzu. Eine orthopädisch-chirurgische Zweigpraxis (4 Tage) wurde 2022 integriert, die zusätzlich die arbeitsmedizinische Betreuung des großen Betriebs vor Ort übernimmt. Fallkonferenzen (s. unten) finden seit 2020 statt. Diese konnten allerdings während der Coronapandemie nicht oder nur online stattfinden. Die Besetzung der Praxen und Räumlichkeiten erfolgte vor allem pragmatisch und war stark von persönlichen und lokalen Verfügbarkeiten abhängig, auch wenn Präferenzen von Bürger:innen (aus den u.g. Befragungen und im Vorfeld durchgeführten Bürgerdialogen, z. B. psycho- und physiotherapeutische Angebote) – wo möglich – in den Entscheidungsprozess aufgenommen wurden.
Interprofessionelle Kooperation und Lotsin
Die Gesundheitslotsin unterstützte die Kommunikationen zwischen den Versorger:innen innerhalb des Zentrums sowie mit externen Praxen. Die Dokumentation der Fallzahlen der Lotsin über den Zeitraum Januar 2022 bis Mai 2023 ergaben insgesamt 791 zentrumsinterne telefonische und persönliche Kontakte. Demnach hatte die Gesundheitslotsin durchschnittlich 61 Klientenkontakte innerhalb einer Kalenderwoche. Davon entfielen 2 % (n = 17) auf die Kategorie „intensive Zusammenarbeit“ und 132 Fälle (17 %) auf die Kategorie „Zusammenarbeit/Austausch“. Weitere 81 % (n = 642) wurden als „Verweise“ zurückgemeldet. Bei den 132 Fällen von „Zusammenarbeit/Austausch“ waren in knapp 21 % der Fälle der Pflegestützpunkt (n = 28), in 27,% (n = 36) die Kinderarztpraxis, in 17 % (n = 22) die Physiotherapie und in 8 % (n = 12) die Allgemeinmedizin beteiligt.
Der schematische Ablauf einer Fallarbeit wurde von der Lotsin im Rahmen des Experteninterviews wie folgt beschrieben:
1.
Die Kontaktaufnahme erfolgt persönlich, telefonisch oder digital von Seiten der Klient:innen, wobei diese über Mund-zu-Mund-Propaganda oder die Homepage von ihrer Tätigkeit erfahren.
2.
Im nächsten Schritt erfolgt ein Anruf der Lotsin zur Bestandsaufnahme der Problematik.
3.
Je nach Problem werden Hilfestellungen durch die Lotsin angeboten, z. B.-
Verweis an eine interne und/oder externe Praxis;
-
Vor-Ort-Besuche zur erweiterten Bestandsaufnahme mit Blick auf das häusliche Umfeld und notwendigen Unterstützungsbedarf (Vernetzung mit bestehenden Alltagsbegleitern);
-
Lotsin sucht selbständig nach Lösungsansätzen und Informationsquellen bzw. bietet selbst Unterstützung an.
4.
Zusätzlich wurden Vorträge zu Erkrankungen und organisatorischen Aspekten (z. B. Umgang mit elektronischer Terminvergabe) angeboten.
Die Gesundheitslotsin beschreibt, dass ihre Tätigkeit die ganzheitliche Betrachtung der Klient:innen sei, und somit auch eine Ergänzung des Pflegestützpunktes mit Sozialberatung im Fokus stehe.
Fallkonferenzen
Im Jahr 2020 fanden 12 Fallkonferenzen mit einer Dauer von durchschnittlich 2 h statt (pandemiebedingt fanden 2021 und 2022 keine Fallkonferenzen statt). Teilnehmende waren neben den Patient:innen bzw. Angehörige die Hausärztin, der Kinderarzt, Physiotherapeut:innen, die Lotsin sowie Mitarbeitende aus der Pflege, den Praxen bzw. der Administration und des Gesundheitsamts (Gesundheitsförderung und Prävention sowie kommunale Gesundheitskonferenz Reutlingen).
Durchschnittlich waren die Patient:innen, die in diesen 12 Fallkonferenzen besprochen wurden, 55 Jahre alt und litten an multiplen chronischen Krankheiten wie Diabetes mellitus, Depression, COPD, Schlafstörungen und Krebserkrankungen. Die besprochenen Themen bzw. Ziele reichten von dem Wunsch der Verbesserung der Lebensqualität, Gewichtsreduktion über Bewegungsförderung bis hin zur Sicherstellung einer Unterstützung in Pflegesituationen. Konkrete Lösungsansätze waren z. B. die gemeinsame Entscheidungsfindung, welche spezialisierte weiterführende Diagnostik sinnvoll ist oder welche Entlastungsangebote für Angehörige hilfreich sind.
In der strukturierten Nachbesprechung wurde der Vorteil thematisiert, durch die Konferenz die eigene Sichtweise spiegeln und durch die Interprofessionalität erweitern zu können. Dadurch hätten ganzheitliche Lösungen erarbeitet und die eigenen Grenzen erkannt werden können, was zur persönlichen Entlastung geführt habe. Weiterhin bestehe „…in der Beteiligung der Patient:innen an der Fallkonferenz […] ein guter Weg, Selbstbestimmtheit und Verantwortung der Patienten zu fördern und zu ermöglichen“ (FK 12.11.20). Die Teilnahme der Patient:innen wurde auch für die Therapeuten-Patienten-Beziehung als bereichernd und zielführend i. S. einer patientenorientierten Gesundheitsversorgung wahrgenommen. So würde beispielsweise ein Bewusstsein für die Rolle der Physiotherapie als Mittler zwischen Patient:in und Arzt:in gestärkt (FK 24.6.20). Positiv wurde auch gesehen, mehr (geschützte) Zeit zum Eruieren der Probleme zu haben, die im Alltag fehle. Aus ärztlicher Sicht war wichtig, dass durch die FK die eigene Patientin besser kennengelernt werde und dies beim Finden einer therapeutischen Struktur (z. B. weitere Hilfsangebote) und bei komplexen Erkrankungsbildern hilfreich sei (FK 03.08.20). Andererseits war die Dauer der Konferenzen selbst auch eine Herausforderung, weshalb eine Flexibilisierung des Settings vorgeschlagen wurde.
Nutzer:innen und deren Sicht auf das Zentrum (Patientenbefragung)
Charakteristika der Nutzer:innen
Die im Zuge der 3 Stichproben erreichten Nutzer:innen des PORT-Zentrums entsprechen einer mittleren Altersgruppe und waren meist verheiratet und berufstätig (Tab.
1). Im 1. Jahr der Befragung (2020) waren Männer, im 2. und 3. Jahr Frauen stärker vertreten. Die Mehrheit verfügte jeweils über ein monatliches Haushaltseinkommen von unter 3000 €. Der Anteil der Patient:innen, die von außerhalb Hohensteins anreisten, stieg über den 3‑Jahres-Zeitraum leicht an.
Tab. 1
Soziodemografische Charakteristik der Stichprobe
– | n | % | n | % | n | % |
Geschlecht | 109 | – | 125 | – | 112 | – |
Männlich | 84 | 22,9 | 19 | 15,2 | 23 | 20,5 |
Weiblich | 25 | 77,1 | 105 | 84,0 | 88 | 78,6 |
Divers* | n. a. | n. a. | 1 | 0,8 | 1 | 0,9 |
Alter | 109 | – | 121 | – | 109 | – |
29 und weniger | 7 | 6,4 | 19 | 15,7 | 15 | 13,8 |
30–39 | 28 | 25,7 | 39 | 32,2 | 35 | 32,1 |
40–49 | 22 | 20,2 | 20 | 16,5 | 19 | 17,4 |
50–59 | 12 | 11,0 | 12 | 9,9 | 16 | 14,7 |
60–69 | 17 | 15,6 | 21 | 17,4 | 16 | 14,7 |
70 und höher | 23 | 21,1 | 10 | 8,3 | 8 | 7,3 |
Familienstand | 111 | – | 126 | – | 112 | – |
Ledig | 8 | 7,2 | 9 | 7,1 | 12 | 10,7 |
Verheiratet/mit Partner lebend | 86 | 77,5 | 109 | 86,5 | 89 | 79,5 |
Geschieden/getrennt lebend | 7 | 6,3 | 7 | 5,6 | 9 | 8,0 |
Verwitwet | 10 | 9,0 | 1 | 0,8 | 2 | 1,8 |
Gemeinde | 107 | – | 122 | – | 109 | – |
Hohenstein | 46 | 43,0 | 46 | 37,7 | 36 | 33,0 |
Andere | 61 | 57,0 | 76 | 62,3 | 73 | 67,0 |
Muttersprache | 108 | – | 125 | – | 112 | – |
Deutsch | 104 | 96,3 | 119 | 95,2 | 104 | 92,3 |
Andere | 4 | 3,7 | 6 | 4,8 | 8 | 7,7 |
Erwerbstätig | 110 | – | 124 | – | 110 | – |
Erwerbstätig bzw. berufstätig | 53 | 48,2 | 72 | 58,1 | 76 | 69,1 |
Schüler/-in, Student/-in, Bufdid | 3 | 2,7 | 3 | 2,4 | 2 | 1,8 |
Hausfrau/-mann | 14 | 12,7 | 21 | 16,9 | 9 | 8,2 |
Rentner/-in, Pensionär/-in | 37 | 33,6 | 21 | 16,9 | 15 | 13,6 |
Arbeitslos | 1 | 0,9 | 1 | 0,8 | 3 | 2,7 |
Sonstiges | 2 | 1,8 | 6 | 4,8 | 5 | 4,6 |
Monatliches Haushaltseinkommen | 91 | – | 113 | – | 98 | – |
<3000 € | 49 | 53,9 | 62 | 54,9 | 57 | 58,2 |
>3000 € | 42 | 46,2 | 51 | 45,1 | 41 | 41,8 |
Gesundheitsbezogene Messinstrumente | n | M ± SD | n | M ± SD | n | M ± SD |
Morbiditäta | 69 | 4,61 ± 3,58 | 56 | 5,20 ± 5,05 | 63 | 60,49 ± 5,81 |
Lebensqualitätb | 65 | 0,75 ± 0,28 | 56 | 0,80 ± 0,24 | 63 | 00,70 ± 0,26 |
Patientenaktivierungc | 54 | 43,46 ± 6,61 | 48 | 43,27 ± 6,60 | 49 | 42,24 ± 6,60 |
ZUF‑8e | 99 | 30,1 ± 2,3 | 116 | 29,6 ± 2,7 | 109 | 29,6 ± 2,97 |
Die krankheitsbezogenen, validierten Messinstrumente (Tab.
1) zeigten in allen 3 Stichproben eine eher niedrige Morbidität von 4,6–6,5 auf (SCQ‑D, Skala von 0–42) und eine überwiegend gute Lebensqualität zwischen 0,70 und 0,80 (EQ5D-5L; Skala von −0,661 bis 1,0). Die Abfrage zum Umgang mit gesundheitlichen Belangen, die sog. Patientenaktivierung (PAM-13), lag konstant bei einem recht hohen Mittelwert von 43 (PAM-13 D; Skala von 13 bis 52; [
20]).
Patientenzufriedenheit und Interprofessionalität
Diskussion
Der hier dargestellte Teil der Begleitevaluation des PORT-Zentrums fokussiert insbesondere auf der Entwicklung der etablierten Strukturen und Prozesse und auf der Bewertung aus Nutzerperspektive.
Der Aufbau und die kontinuierliche Entwicklung des Zentrums musste sich zwar an vorhandenen Personalressourcen und Gegebenheiten orientieren, jedoch gelang es durch die konzertierte Unterstützung der Gemeinde, des Landkreises und der Akteure vor Ort, ein medizinisches Grundversorgungsangebot zu etablieren, das nach und nach erweitert werden konnte. Bereits früh konnten eine Lotsin sowie weitere Beratungs- und Therapieangebote in diesem ländlichen Zentrum unter einem Dach angeboten werden, womit zentrale Port-Kriterien erfüllt waren [
5].
Von Patient:innen kritisch bewertet wurden der wiederholte Personalwechsel und die ungenügende Präsenz der Allgemeinmedizin. Dies wirkte sich auch auf die Strukturen aus, da weder eine allgemeinmedizinische Weiterbildungsbefugnis beantragt noch eine universitäre allgemeinmedizinische Lehrpraxis eingeführt werden konnte, was ursprünglich ein Planungsziel war [
21]. Beides wären für die Nachwuchsgewinnung wichtige Meilensteine. Jedoch ist eine Fluktuation in den Praxen im Kontext eines Pilotprojekts, das sowohl wirtschaftliche als auch arbeitsbezogene Unsicherheiten mit sich bringt, interpretierbar [
22]. Die Tatsache, dass das Zentrum erweitert und weitere Praxen und damit Angebote trotz der Pandemie mit guter Akzeptanz über die Zeit integriert werden konnten, weist darauf hin, dass insgesamt attraktive Arbeitsplätze für Fachpersonal geschaffen werden konnten [
23].
Die im Kontext der PORT-Kriterien empfohlene Orientierung an den regionalen Bedarfen konnte mittels einer Bürgerbefragung in Hohenstein 2016 sowie den 3 Patientenbefragungen (2020, 2021, 2022) umgesetzt werden. Die Nutzer:innen zeigten neben einer hohen Zufriedenheit mit dem baulichen und strukturellen Angebot eine generelle Zufriedenheit über dieses neue Angebot in ihrer Nähe. Im Vergleich zu anderen Studien aus Deutschland lag die Zufriedenheit gemessen mit dem ZUF-8-Score in allen 3 Stichproben etwas höher [
24,
25]. Der wachsende Anteil an Nutzer:innen aus der weiteren Umgebung legt zudem nahe, dass das Zentrum eine gewisse „Strahlkraft“ zu haben scheint. Die Ergänzung der orthopädisch-chirurgischen Praxis oder der psychiatrischen Satellitensprechstunde kam dem formulierten Bedarf der Befragten entgegen. Die hohe Frequentierung der Kinderarztpraxis kann darauf hinweisen, dass hier ein hoher Bedarf durch das Zentrum gedeckt wurde.
Darüber hinaus konnten erste Schritte hin zu einer interprofessionellen Zusammenarbeit ermöglicht werden. In der begleitenden Evaluation wurde sowohl aus Patientensicht als auch aus Sicht der Versorgenden darin ein Mehrwert gesehen. Ein Mehrwert scheint allein durch die kurzen Wege und die persönlichen Kontakte im Zentrum zu entstehen: Man kann schnell und informell Unterstützung bzw. Zweitmeinungen einholen. Dies wurde durch die Wahrnehmung der Patient:innen in unserer Befragung bestätigt und unterstreicht einen Mehrwert von Zentrumsstrukturen. Die Einschätzung der Lotsin zeigt, dass eine intensive, gemeinsame Besprechung einzelner Fälle außerhalb von Fallkonferenzen eher selten zustande kam, auch wenn in der Literatur teilweise Vorteile einer weitergehenden Kooperation konstatiert werden [
26]. Dies mag daran liegen, dass es dafür derzeit keine vergütete Zeit gibt. Das Instrument der Fallkonferenzen, das zur Erarbeitung patienten- und zielorientierter Lösungsvorschläge auf den verschiedenen Behandlungsebenen erfolgreich eingesetzt wird [
7,
8], ermöglichte eine formale interprofessionelle Kooperation. Auch in unserem Fall – unter Einbeziehung von Patient:innen, einer festen Methodik und Moderation [
27,
28] – war der Ansatz vielversprechend. Die Betroffenen selbst empfanden die persönliche Teilnahme an den Fallkonferenzen bereichernd und zielführend, was sich so auch in vorangegangenen Studien zeigte. [
29,
30]. Refallkonferenzen im Sinne eines Follow-ups fanden bisher nicht statt, könnten aber zur Evaluation einer erfolgreichen Umsetzung bzw. Nachbesserung der erarbeiteten Lösungen und Probleme u. a. auch mit dem Ziel der langfristigen Änderung von Strukturen und Verhalten vergleichbar den M&M-Konferenzen diskutiert werden [
31].
Wie häufig in Versorgungsforschungsprojekten war es aus wissenschaftlicher Perspektive sehr herausfordernd bei sich ständig verändernden Rahmenbedingungen (wie die Coronapandemie) und viel Wechsel der handelnden Personen in einem begrenzten Pilotprojekt eine Evaluation, die kontrollierten Bedingungen folgt, zu planen und durchzuführen [
32]. Durch unsere Patientenbefragungen wurden zufällige Nutzer:innen des Zentrums in einem definierten Zeitraum erfasst. Somit kann ein Selektionsbias nicht ausgeschlossen werden. Die vorliegende Evaluation kann daher nur einen groben Einblick in die Implementierungsphase eines PORT-Zentrums geben. In einem nächsten Schritt sollten nun Evaluationen folgen, die Qualität und Effizienz der Versorgung im Zentrum im Vergleich zur Regelversorgung quantifizieren. Wünschenswert für die Zukunft wären auch projektübergreifende Evaluationen, die den Vergleich verschiedener innovativer Versorgungsmodelle ermöglichen würden.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass mit politischer und regionaler Unterstützung, finanzieller Anschubfinanzierung sowie engagierten Akteuren ein Primärversorgungszentrum auch unter schwierigen Rahmenbedingungen gewinnbringend für Versorgende und Patient:innen etabliert werden kann. Die Herausforderung besteht nun darin, eine nachhaltige Finanzierung der zusätzlichen innovativen Elemente (z. B. Lotsin) sowie der Zentrumskoordination zu erreichen. Die aktuellen Reformbestrebungen, z. B. im Rahmen der Versorgungsgesetze, sind in dieser Hinsicht vielversprechend.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Die gesamte Evaluation des GZH Hohenstein hat ein positives Ethikvotum der Universität Tübingen erhalten (August 2020 Zeichen 405/2020BO).
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