Gute Verschreibungspraxis braucht offenbar Zeit

In der Kürze liegt die Würze? Anderswo mag das gelten, aber nicht unbedingt im ärztlichen Sprechzimmer. Wie eine Studie zeigt, korreliert die Dauer des Patientenkontakts mit der Güte der ausgestellten Rezepte. Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Dem Leitlinien-konformen Handeln von Ärztinnen und Ärzten in der Primärversorgung steht ein schwer zu überwindendendes Hindernis im Weg: Der Tag hat nur 24 Stunden. Dabei müsste der ärztliche Arbeitstag in einer durchschnittlich frequentierten Praxis laut einer kürzlich publizierten Berechnung eigentlich 26,7 Stunden haben – 14,1 Stunden für Präventionsmaßnahmen, 7,2 Stunden für die Therapie von chronisch Kranken, 2,2 Stunden für die Akutversorgung und 3,2 Stunden für die Bürokratie (Porter J et al. J Gen Intern Med 2022;38(1):147–55). Zeit ist also knapp in den Praxen, und das hat immer wieder Bedenken wachgerufen, die Sprechzeit für die einzelnen Patienten könnte nicht selten zu kurz bemessen sein. Ob sich dies allerdings in einer schlechteren Qualität der Versorgung abbildet, ist nicht ausgemacht. Zwar geht die Furcht um, Ärzte könnten rasch ausgestellte Rezepte als wohlfeiles Mittel ansehen, sich Diskussionen über Alternativen zu ersparen und Zeit zu gewinnen. Die Befunde hierzu sind aber nicht eindeutig. Ein von Hannah T. Neprash, Spezialistin für Öffentliche Gesundheit der University of Minnesota in Minneapolis, geführtes Team ist dem Zusammenhang zwischen der Dauer von Patientenkontakten und der Angemessenheit der ausgestellten Rezepte in einer Querschnittstudie nachgegangen. Daten aus elektronischen Patientenakten von mehr als acht Millionen Arztbesuchen in knapp 8100 Allgemeinarztpraxen wurden analysiert. Im Mittel verbrachten Ärzte und Patienten knapp 19 Minuten miteinander. Unangemessene Rezepte für Antibiotika wurden bei 55,7% der Arztbesuche aufgrund von Infekten der oberen Atemwege ausgestellt. 3,4% der Patienten, die wegen Schmerzen in die Praxis gekommen waren, bekamen Opioide plus Benzodiazepine verordnet; auch dies wurde als nicht angemessen betrachtet. Und 1,1% der Patienten im Alter ab 65 erhielten Medikamente, die gemäß der Beers-Liste als kontraindiziert anzusehen waren. Dauer des Kontakts wirkt sich nicht einheitlich aus Die Verweildauer im Sprechzimmer spielte dabei durchaus eine Rolle – meist in dem Sinne, dass eine längere Dauer die Wahrscheinlichkeit für angemessene Rezepturen erhöhte. So sank die Wahrscheinlichkeit für unangemessene Antibiotikaverschreibungen je zusätzlicher Minute Sprechzeit um 0,11 Prozentpunkte. Für die gleichzeitige Verordnung von Opioiden und Benzodiazepinen betrug die Minderung 0,1 Prozentpunkte. Eine Ausnahme gab es freilich: Verstöße gegen die Beers-Liste traten mit jeder zusätzliche Minute, die der Arztkontakt währte, um 0,004 Prozentpunkte häufiger auf. Generell waren die Arztvisiten von Patienten mit komplexerem Krankheitsbild länger. Hiernach abgeglichen, waren die Arztkontakte von jüngeren Patienten, Nicht-Privatpatienten und Patienten mit nicht weißer Ethnie kürzer. Kausale Schlüsse lässt das Studiendesign zwar nicht zu. Allerdings war es dem Forschungsteam in dieser Studie möglich, nicht nur Differenzen zwischen den beteiligten Ärzten, sondern auch die (beträchtlichen) individuellen Unterschiede in der Dauer der Kontakte und den damit verbundenen Verschreibungen der einzelnen Ärzte selbst zu analysieren. Für Deutschland hat eine internationale Vergleichsstudie eine durchschnittliche Dauer der Arztbesuche von 7,6 Minuten ergeben (Irving G et al. BMJ Open 2017;7:e017902). An der Spitze steht hiernach Schweden mit einer mittleren Dauer von 22,5 Minuten. Das Schlusslicht bildet Bangladesch, wo die Sprechzeit im Schnitt nur 48 Sekunden beträgt. Das Wichtigste in Kürze Frage: Wie hängt die Dauer von Arztvisiten bei Allgemeinärzten mit der Qualität der ausgestellten Rezepte zusammen? Antwort: Kürzere Patienten-Arzt-Kontakte schlagen sich in einer höheren Wahrscheinlichkeit von unangemessenen Antibiotikarezepten bei Infekten der oberen Atemwege und kombinierten Verschreibungen von Opioiden und Benzodiazepinen für Schmerzpatienten nieder. Hingegen steigt die Wahrscheinlichkeit für unangemessene Rezepte für Senioren, wenn mehr Zeit im Sprechzimmer vergeht. Bedeutung: Die Dauer der Arztvisite wirkt sich nicht einheitlich auf die Güte der ausgestellten Rezepte aus. Einschränkung: Die Studienresultate sollten nicht kausal interpretiert werden.

Springer Medizin

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