Limitationen/Stärken und Schwächen
Erstmalig liegen Daten zu interprofessioneller Primärversorgung eines Pilotprojekts in Deutschland vor, in der eine gemeinsame Versorgung einer hausärztlichen Praxis mit Hebammen, Sozialberatung und psychologischer Beratung im direkten räumlichen Verbund stattfand.
Als Grundlage dieser Auswertung dienten Daten aus den verschiedenen Fachbereichen, die zur Qualitätssicherung im Nachhinein zusammengetragen worden waren. Diese waren nicht zu Forschungszwecken erhoben worden und auch nicht für die Durchführung der Versorgungsabläufe erforderlich. Einige Nutzer*innen des PVZ wurden auch ohne ausreichende Dokumentation interprofessionell versorgt; allerdings lässt sich das Ausmaß schwer quantifizieren, wodurch die Datenqualität limitiert wird. Weiterhin lassen sich so keine Aussagen über die Behandlungsqualität treffen, über Versorgungsabläufe im zeitlichen Verlauf, die Zufriedenheit der Nutzer*innen oder klinische Outcomes.
Das Angebot an interprofessioneller Versorgung wurde umfassend in Anspruch genommen und die Kapazitäten der GSB und psychologischen Beratung wurden dabei ausgeschöpft. Inwieweit sich diese Inanspruchnahme durch Schaffung einer neuen Angebotsstruktur erklären lässt und möglicherweise im Verlauf wieder zurückgehen würde, kann durch die vorliegende Untersuchung nicht gezeigt werden. Die anhaltende Auslastung psychosozialer Beratungsangebote scheint jedoch die allgemeine Unterversorgung entsprechender Beratungs- oder Versorgungsangebote nahezulegen [
18].
Die Ergebnisse sind zunächst begrenzt auf das Hamburger Stadtviertel Veddel zu interpretieren; eine vergleichbare Verdichtung psychosozialer Problemlagen in ähnlich sozial strukturierten Gegenden ist jedoch anzunehmen. Kürzlich konnte zudem gezeigt werden, dass ein interprofessionelles PVZ auch in einer ländlichen Gegend Deutschlands von der Bevölkerung in Anspruch genommen wird [
13].
Schließlich fällt der betrachtete Zeitraum in die COVID-19-Pandemie mit monatelangen Lockdowns. Sowohl die hierdurch bedingten Zugangsbarrieren als auch die besonderen psychosozialen Belastungssituationen könnten sich in der Inanspruchnahme niedergeschlagen haben und sich im weiteren zeitlichen Verlauf anders darstellen.
Inanspruchnahme und Ausgestaltung der interprofessionellen Versorgung
Die erfolgte Inanspruchnahme stützt die der Konzeption der Poliklinik zugrunde liegende Annahme, dass in einem sozial schwachen Einzugsgebiet mit einer schlechteren Bevölkerungsgesundheit ein Bedarf für interprofessionell zu versorgende komplexere Fälle in der Primärversorgung besteht. Dabei handelte es sich zumeist um Patient*innen, bei denen psychosoziale Belastungssituationen vorlagen und die unter chronischen Erkrankungen litten oder bei denen eine Chronifizierung von Gesundheitsstörungen drohte. Ein großer Teil wurde in der hausärztlichen Praxis identifiziert und die interprofessionelle Versorgung bot die Möglichkeit, Problemlagen zu adressieren, die die Möglichkeiten regulärer hausärztlicher Versorgung überstiegen, und auch über den weiteren Verlauf informiert zu bleiben. In der Folge interprofessionell versorgte Fälle machten zwar nur einen kleineren Teil der gesamten Konsultationsanlässe aus, traten aber regelmäßig auf und der limitierende Faktor zu ihrer Versorgung waren die Kapazitäten der beratenden Fachbereiche.
Um den Bedarf an interprofessioneller Versorgung genauer zu quantifizieren und das Angebot entsprechend anzupassen, würde es weiterer Analysen des Anteils dieser Fälle und ihres Anteils am gesamten Versorgungsaufwand anhand der Praxisdaten bedürfen, wie es mit der hier zugrunde liegenden Auswertung erst ansatzweise geschehen konnte. Ebenso wäre es sinnvoll, diese Informationen mit Ergebnissen lokaler Bedarfserhebungen im Einzugsgebiet abzugleichen und langfristige Trends in der Inanspruchnahme auch außerhalb von Pandemiezeiten zu bewerten.
Die wöchentlichen Teamsitzungen bedeuteten einen erheblichen zusätzlichen Aufwand ohne zusätzliche Vergütung. Der Nutzen dieses zusätzlichen Aufwands wurde aus hausärztlicher Sicht in insgesamt besser koordinierten Versorgungsabläufen, zielgerichteteren Vermittlungen in das psychosoziale Versorgungssystem und in den dadurch mitbeeinflussten stärker fundierten gemeinsamen Entscheidungsfindungen gesehen (mündliche Kommunikation).
In der internationalen Literatur werden als Vorteile interprofessioneller Versorgung ein besseres klinisches Management bei gleichzeitig bestehenden psychosozialen und gesundheitlichen Versorgungsbedarfen [
19], stärker koordinierte Versorgungsabläufe [
20], eine höhere Patient*innenzufriedenheit [
21], ein Abbau von Zugangshürden [
22] und eine gemischte aber überwiegend positive Evidenz für klinische Outcomes bei interprofessioneller Primärversorgung [
23] diskutiert, bei weiterhin bestehendem Forschungsbedarf zu den genannten Aspekten [
24].
Um auch die Effektivität für die interprofessionell versorgten Patient*innen in der Polklinik zu objektivieren, wären fundiertere Evaluationen wichtig. Diese könnten beispielsweise im zeitlichen Verlauf Versorgungsabläufe, die Zufriedenheit der Patient*innen und bestenfalls auch klinische Outcomes bewerten. Ebenso könnten damit die Effizienz der aufgewendeten zeitlichen und personellen Ressourcen in ein Verhältnis zum beobachteten Nutzen gesetzt und gegebenenfalls die interprofessionellen Versorgungsformate weiterentwickelt werden.
Die psychologische Beratung war insgesamt und als Partner mit der hausärztlichen Praxis am häufigsten an der interprofessionellen Versorgung beteiligt. Hier dürfte sich der hohe Beratungsbedarf in einer überdurchschnittlich psychisch belasteten Bevölkerung bemerkbar machen [
15], dem nicht allein durch die Versorgung in der hausärztlichen Praxis begegnet werden kann. Durch die niederschwellige Arbeitsweise der psychologischen Beratung, die eine Leerstelle zwischen psychosomatischer Grundversorgung und Psychotherapie besetzt, könnte ein entsprechender Bedarf in einem PVZ leichter gefüllt werden, als wenn auf externe Beratungsangebote verwiesen werden muss. Auch die gemeinsame Versorgung durch die GSB und die hausärztliche Praxis wurde in Anspruch genommen, während in der Regelversorgung die hausärztlichen und sozialarbeiterischen Versorgungsangebote trotz bestehender Bedarfe bei bestehenden Sektorengrenzen häufig nicht direkt miteinander zusammenarbeiten [
7]. Informationen aus der interprofessionellen Versorgung konnten zudem zur Ausrichtung der Gemeinwesenarbeit beitragen.
Für das Gelingen interprofessioneller Teamarbeit in der Primärversorgung sind ein gemeinsames Verständnis der Versorgungsziele, ein vertrauensvolles Miteinander und die Entwicklung einer gemeinsamen Teamkultur zentrale Voraussetzungen [
25]. In der Poliklinik soll dies durch eine Arbeitskultur unterstützt werden, die flache Hierarchien und Entscheidungsfreiräume fördert, zum gegenseitigen Verständnis der jeweiligen Arbeitsweisen beiträgt und verschiedene formelle (regelmäßige Teamsitzungen) und informelle Mechanismen („Tür-und-Angel-Gespräche“) beinhaltet. Schließlich kann auch das partizipative Einbinden von Patient*innen die interprofessionellen Versorgungsabläufe verbessern sowie deren Zufriedenheit und die Effizienz der Versorgungsprozesse erhöhen [
26].
Für die Etablierung von PVZ in der ambulanten Regelversorgung in Deutschland müssten die sozialgesetzbuchübergreifenden rechtlichen Rahmenbedingungen sowie bedarfsgerechte Finanzierungsmodelle noch geschaffen werden [
27]. Gleichzeitig bedarf es systematischer Begleitforschung, die die Effektivität und Effizienz interprofessioneller Versorgung bewerten sollte. Zudem stellen sich Fragen von Zuständigkeiten, Rollenbildern und der organisatorischen Weiterentwicklung von PVZ [
28]. Die Frage der Ermittlung insbesondere komplexerer Gesundheitsbedarfe für die jeweilige Bevölkerung ihres Einzugsgebiets müsste evaluiert [
29] und die Vorteile für die Bevölkerungsgesundheit sowie der Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten durch PVZ im deutschen Kontext untersucht werden.