Die Bedingungen für allgemeinmedizinische Versorgungsforschung im Strafvollzug unterscheiden sich von denen im öffentlichen Gesundheitssystem. Zur Erleichterung von Versorgungsforschung im Strafvollzug werden in diesem Beitrag Herausforderungen und Lösungen für deren Umsetzung aufgezeigt.
Hintergrund
Menschen in Haft bilden eine vulnerable Gruppe, da sie durch kritische Lebensverläufe und aktuelle Probleme, die durch die Umstände in den Anstalten hervorgerufen werden, stark belastet sind. Die Freiheitsstrafe schränkt ihre Grundrechte massiv ein und verursacht Abhängigkeitsverhältnisse zu Dritten [
1,
2]. Aus der Vulnerabilität von Inhaftierten ergeben sich spezifische Herausforderungen für die Forschung: Zur Verhinderung von Missbrauch von Menschen in Unfreiheit zu Forschungszwecken (wie z. B. in Experimenten in der NS-Zeit oder in Studien mit Inhaftierten in den USA bis in die 1970er-Jahre [
3]) wird Forschung im Strafvollzug gegenwärtig durch international anerkannte Richtlinien (z. B. der UN und des Europarats) reguliert [
3,
4]. Diese Richtlinien geben Hinweise darauf, wie eine Forschungsstrategie inhaltlich ausgerichtet sein und auf welche Weise mit Inhaftierten geforscht werden sollte. Hervorgehoben wird, dass die Inhalte von Forschung mit Inhaftierten einen direkten Nutzen für diese haben müssen. Nur unter gewissen Umständen können Studien durchgeführt werden, durch die Inhaftierte (nur) einen indirekten Nutzen haben [
3].
Zum Umgang mit Inhaftierten im Rahmen von Forschung ist u. a. die Freiwilligkeit der Teilnahme an Studien ein zentrales Thema. Hierbei spielen nicht nur die Abhängigkeit der Inhaftierten im institutionellen Kontext und eine potenziell daraus resultierende (gefühlte oder unter Umständen tatsächliche) Verpflichtung zur Teilnahme eine Rolle [
5,
6], sondern auch Unfreiwilligkeit, die entstehen kann, wenn Inhaftierte z. B. bei Versorgungsforschung medizinische Leistungen in Studien erhalten, zu denen sie sonst keinen Zugang haben [
3].
Gemäß der genannten Richtlinien werden Forschungsvorhaben in Deutschland von Kriminologischen Diensten auf wissenschaftliche Qualität, ethische und datenschutzrechtliche Aspekte, den organisatorischen Aufwand sowie Anwendungsbezug und Nutzen der geplanten Projekte geprüft [
7‐
10].
Die Richtlinien zur Forschung im Strafvollzug sollen Inhaftierte schützen – gleichzeitig ist aber auch denkbar, dass sie Forschung erschweren bzw. verhindern können, sodass Projektideen nicht umgesetzt und Inhaftierte systematisch aus Versorgungsforschung ausgeschlossen werden [
5,
11]. Um im Rahmen der Versorgungsforschung im Strafvollzug im Sinne der Richtlinien zu agieren und sich im Forschungsprozess in institutionellen Vorgaben des Strafvollzugs zu orientieren, bedarf es pragmatischer Handlungsempfehlungen zum Forschen im Strafvollzug.
Im deutschen Kontext wurden bisher vorrangig abstraktere Überlegungen, z. B. zu ethischen Prinzipien [
3], zur Praxisorientierung der Forschung im Strafvollzug [
10] oder zur Funktion der Kriminologischen Dienste [
12,
13] publiziert. International wurden einige praxisnähere Studien zur Umsetzung von Versorgungsforschung im Strafvollzug durchgeführt [
14‐
16]. Allerdings sind diese nur eingeschränkt auf den deutschen Kontext übertragbar, da sich die gesetzlichen Regeln der Sicherheit und Ordnung in den Anstalten international unterscheiden und da die gesundheitliche Versorgung im Strafvollzug unterschiedlich organisiert ist.
Fragestellung
Ziel dieser Arbeit ist es, die Fragen zu beantworten,
1.
wo die konkreten praktischen Herausforderungen für Versorgungsforschung im Strafvollzug in Deutschland liegen und
2.
wie Probleme in der Umsetzung von Versorgungsforschung im Strafvollzug gelöst werden können.
Methoden
Studiendesign
Durchgeführt wurde ein digitales Fokusgruppeninterview, um ein multiperspektivisches Bild auf die Herausforderungen der Versorgungsforschung im Strafvollzug und praktische Hinweise zur Umsetzung zu erfassen [
17,
18].
Teilnehmende der Fokusgruppe
An dem Fokusgruppeninterview nahmen 5 Expert:innen mit Erfahrung in der Versorgungsforschung im Strafvollzug teil (n = 4 weiblich; n = 1 männlich). Diese stammten sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Praxis des Strafvollzugs, wodurch die Thematik nicht nur aus der Perspektive der Forschenden, sondern auch der zu Beforschenden beleuchtet werden konnte. Die Wissenschaftler:innen ordneten sich den Fachrichtungen Soziologie, Medizinethik, Psychologie und Kriminologie zu und hatten bereits zu unterschiedlichen Themen mit Bezug zur Versorgung im Strafvollzug geforscht. Eine der Praktiker:innen war aktuell als Beamtin in einem Justizvollzugskrankenhaus tätig und eine arbeitete ehemals in einem ärztlichen Dienst einer Justizvollzugsanstalt. Beide Praktiker:innen verfügten in ihrem jeweiligen Bereich über mindestens 15 Jahre Berufserfahrung, in denen sie auch Erfahrung im Kontakt mit externen Forschenden sammelten. Die Teilnehmenden wurden im September und Oktober 2023 in einem „purposive sampling“ rekrutiert.
Durchführung des Interviews
Die Teilnehmenden erhielten vor Beginn des Interviews eine Studieninformation mit ergänzenden Informationen gemäß der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung und erklärten schriftlich ihr Einverständnis zur Studienteilnahme. Außerdem füllten sie einen kurzen Fragebogen zu ihren soziodemografischen Daten aus.
Das Fokusgruppeninterview fand im November 2023 digital statt und dauerte 99 min. Hierfür wurde ein Leitfaden entwickelt. Den Teilnehmenden wurde ein praktisches Fallbeispiel als Grundreiz gegeben, anhand dessen Herausforderungen der Versorgung, Konsequenzen für die Forschung und schließlich Herausforderungen und Lösungen für die Praxis der Versorgungsforschung diskutiert wurden. Fragen zu den einzelnen Themenblöcken wurden offen formuliert, sodass die Teilnehmenden weitgehend frei antworten konnten. Im Folgenden wurden immanente Nachfragen zu dem im Interview Gesagten gestellt. Exmanente Nachfragen wurden vereinzelt ergänzt.
Die Tonspur wurde digital aufgezeichnet. Für ihre Teilnahme an dem Interview wurde keine Aufwandsentschädigung bezahlt.
Datenaufbereitung und Analyse
Das Fokusgruppeninterview wurde mithilfe der Software f4 inhaltlich-semantisch transkribiert [
19] und anschließend durch die Letztautorin des Artikels mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [
20] zusammenfassend in MAXQDA ausgewertet. Hierfür wurde der Interviewtext zunächst in einem ersten Durchgang induktiv codiert. Das Kategoriensystem wurde schließlich im Rahmen der thematischen Sortierung der Codes in Anlehnung an die Fragestellung der Studie nach potenziellen Herausforderungen und Lösungsansätzen für die Forschungspraxis im Strafvollzug erstellt. Dabei wurden 2 der 4 Hauptkategorien aus den Themen der exmanenten Fragen des Leitfadens aufgegriffen („Teilnahmequote“ und „Übertragbarkeit von Ergebnissen zwischen den Bundesländern“). Unabhängig vom Leitfaden wurden aus dem Material heraus 2 weitere Hauptkategorien entwickelt („Feldzugang“ und „Datenschutz/sensible Forschung“).
Ethik und Datenschutz
Der Antrag zu dieser Studie vom 09.11.2023 wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover unter der Nummer 10765_BO_K_2023 genehmigt. Es gab keine datenschutzrechtlichen Einwände.
Ergebnisse
Im Rahmen der Analyse ergaben sich 4 thematische Felder. Die Expert:innen sahen die wesentlichen Herausforderungen der Versorgungsforschung im Strafvollzug im Feldzugang, in der Übertragbarkeit von Ergebnissen zwischen den Bundesländern, im Datenschutz und in der Teilnahmequote an Forschungsprojekten.
Feldzugang
Wie die Teilnehmenden der Fokusgruppe berichten, ist der Aufwand, der für Versorgungsforschung im Strafvollzug vor Beginn einer Untersuchung betrieben werden muss, relativ groß. Der Zugang zum Feld muss nicht nur durch die Anstaltsleitungen selbst, sondern auch durch die Kriminologischen Dienste der jeweiligen Bundesländer genehmigt werden, was Aufwand für die Forschenden mit sich bringt und zudem Wartezeiten bei der Vorbereitung von Projekten erfordert.
„Grundsätzlich gilt für Forschung im Vollzug, dass es sehr aufwendig ist, die Feldzugänge zu kriegen, dadurch, dass es Ländersache ist. […] [Man braucht] für 16 Bundesländer 16 Genehmigungen und das wird sehr unterschiedlich gehandhabt und ich erlebe die Kriminologischen Dienste als wirklich sehr unterschiedlich unterstützend.“ (W 864 ff.)
„Dass das über die Kriminologischen Dienste läuft, das ist sicherlich eine Hürde und dann muss man ja noch sozusagen auf den Goodwill von den einzelnen Justizvollzugsanstalten dann setzen, dass sie diese Forschung eben auch erlauben.“ (W 890 ff.)
Gerade auch aufgrund des großen Interesses externer Forschender an dem Feld des Strafvollzugs (und dem damit verbundenen hohen Arbeitsaufkommen in den Kriminologischen Diensten) können die Genehmigungsprozesse laut den Expert:innen unter Umständen langwierig sein.
„Der Vollzug ist aber auch ein sehr beliebtes Forschungsthema von ganz unterschiedlichen Disziplinen. Und ich kenne die Zahl der Anfragen über Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Doktorarbeiten, die an die Vollzüge gerichtet werden; bzw. an die Vollzugsverwaltung gerichtet werden.“ (W 961 ff.)
„In vielen […] Bundesländern erleb ich eigentlich die Kriminologischen Dienste als sehr forschungsoffen. Aber die werden auch wie gesagt, erschlagen von Anfragen.“ (W 978 ff.)
Lösung
Die Teilnehmenden der Fokusgruppe empfehlen, bei Vorhaben der Versorgungsforschung im Strafvollzug ausreichend Vorlaufzeit einzuplanen. Generell raten sie dazu, frühzeitig und offen in Kontakt mit den jeweiligen Kriminologischen Diensten zu treten und deren Einschätzungen bereits in einer frühen Phase der Projektplanung zu berücksichtigen.
„Unsere Erfahrung ist, sehr frühzeitig das Gespräch mit dem Kriminologischen Dienst zu suchen.“ (W 965 f.)
Übertragbarkeit von Ergebnissen zwischen den Bundesländern
Die medizinische Versorgung im Strafvollzug ist in Deutschland föderal geregelt – das heißt, es gelten dafür von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Gesetze. Nach Erfahrung der Teilnehmenden der Fokusgruppe sind Unterschiede zwischen den Bundesländern auch deutlich in der Realität der Versorgung erkennbar. Gleichzeitig nehmen sie aber auch eine große Binnendifferenzierung innerhalb einzelner Länder wahr. Ergebnisse von Versorgungsforschung aus einem Bundesland (oder gar in einzelnen Anstalten) sei demnach nicht gut auf andere Länder übertragbar.
„Ich glaube, dass der Unterschied tatsächlich auch in den Bundesländern erheblich ist. Also wenn man sich nur anguckt, wir sind zuständig für [Bundesland 1] und [Bundesland 2 und 3] hat gar kein Justizvollzugskrankenhaus. In [Bundeland 4] sind sie völlig anders organisiert. […] Und innerhalb der Anstalten ist es, glaube ich, auch völlig unterschiedlich mit dieser Thematik. […] Sie hängt […] an einzelnen Personen, sie hängt an Anstaltsstrukturen und sie hängt auch damit zusammen, […] [welches] Gefangenklientel da untergebracht ist.“ (P 1085 ff.)
Lösung
Nach Empfehlung der Expert:innen aus der Fokusgruppe sollten Projekte der Versorgungsforschung im Strafvollzug nach Möglichkeit mehrere Bundesländer einbeziehen, um den Ergebnissen eine größere Tragweite zu verleihen. Sie weisen hierzu jedoch auch darauf hin, dass für die Forschung in jedem einzelnen Bundesland eine Genehmigung des dort zuständigen Kriminologischen Diensts erforderlich ist, womit sich der Aufwand der Vorbereitung entsprechend potenziert.
„Rein von der Forscherperspektive muss ich ganz ehrlich sagen, muss man aber wahrscheinlich auch schauen, was zeitlich realistisch ist. Weil wenn man eben über 3 oder sagen wir mehrere Bundesländer, also wird das exponentiell auch zeitaufwendiger, sich da die Genehmigungen und auch die Zugänge zu verschaffen. Also da muss man, glaube ich, auch realistisch sein, wenn das Projekt nur 3 Jahre läuft oder dergleichen.“ (W 1105 ff.)
Die Bedeutung von Projekten der Versorgungsforschung, die sich nur auf einzelne Bundesländer fokussiert, erkennen die Expert:innen dennoch an: Entsprechende Erkenntnisse können zwar nicht ohne Weiteres übertragen werden, seien aber für die jeweiligen Regionen, auf die sich beziehen, dennoch von Wert.
Datenschutz, sensible Forschung
Die Teilnehmenden der Fokusgruppe weisen darauf hin, dass medizinische Daten von Inhaftierten als besonders sensibel eingestuft werden, da es sich bei den Betroffenen um eine vulnerable Personengruppe handelt. Dies werde bei der Prüfung von Ethik- und Datenschutzkonzepten durch die jeweiligen Kommissionen entsprechend berücksichtigt, was zu strengeren Bewertungen einzelner Vorhaben führen könne.
„Es ist ja grundsätzlich auch immer so, […] dass es ja auch über eine Ethikkommission nochmal bewilligt werden muss und durch den Datenschutz. Ich denke, dass […] Gefangene als vulnerable Gruppe eben auch meist bezeichnet werden, dass das da eben unter Umständen auch nochmal also Vorbehalte geben könnte.“ (W 893 ff.)
Teilnahmequote
Grundsätzlich signalisierten die Interviewten eine hohe Motivation zur Unterstützung von Forschungsvorhaben und die teilnehmenden Wissenschaftler:innen berichten von positiven Erfahrungen hinsichtlich der Teilnahmebereitschaft von Versorgenden und Inhaftierten im Rahmen ihrer bisherigen Studien. Ihre Interviewpartner:innen seien offen und gesprächsbereit gewesen.
„Ich […] hab eher große Unterstützung und Interesse immer für Forschungsvorhaben erlebt. […] Sowohl bei den Fachdiensten als auch bei den Anstaltsleitungen zum Teil. […] Ich wäre da nicht so skeptisch.“ (W 990 ff.)
Trotz der grundsätzlich positiven Erfahrungen der Fokusgruppe müsse jedoch bedacht werden, dass seitens der Inhaftierten mitunter auch Misstrauen gegenüber dem (vermittelnden) Anstaltspersonal oder allgemein Vorbehalte gegenüber der Forschung bestehen können.
„Ein Problem ist auch die Sache mit dem Misstrauen, rauf und runter. Also Forschung kommt ja von draußen. […] TN2 ist noch eine echte Vollzuglerin mit einem Gefühl dafür, wie es da drin aussieht. Der Rest war mal da, mehr oder weniger involviert oder nicht und hat Ideen […] zum Justizvollzug. Und dieser Begriff der totalen Institution. Der ist ja so gestempelt unter der latenten Unterstellung, […] wer verbündet sich da mit wem und was kann ich von dem erwarten. Ich glaube, das ist eine Hürde, Vertrauen zu schaffen, dass das, was geforscht wird, von vornherein nicht schon eine gewisse Richtung hat.“ (P 907 ff.)
Außerdem gingen die Teilnehmenden auf eine weitere Besonderheit der Forschung im Strafvollzug ein, nämlich die Prägung des Kontakts zu den Beforschten (insbesondere zu Inhaftierten) durch die systembedingte Geschlossenheit von Justizvollzugsanstalten: Forschende können Informationen aufgrund der Restriktionen im Vollzug nicht direkt über E‑Mail oder Telefon mit den Inhaftierten kommunizieren, was dazu führt, dass gewohnte Wege (z. B. zur Rekrutierung von Teilnehmenden) nicht beschritten werden können.
Lösung
Im Interview wurde empfohlen, für die Forschung im Strafvollzug einen guten Kontakt zu jeweils einer Person pro Anstalt, in der geforscht werden soll, herzustellen und diese als verantwortliche:n Ansprechpartner:in für alle Fragen der Inhaftierten und der Forschenden zu etablieren. Obwohl die Beziehung von Inhaftierten zu den Mitarbeitenden der ärztlichen Dienste ebenso von Misstrauen geprägt sein kann, wurden diese im Interview beispielhaft als geeignete Ansprechpersonen aufgeführt, da sie grundsätzlich im engen Kontakt mit den Inhaftierten stehen. Entscheidend sei auch, die Informationen, die an die Inhaftierten weitergegeben werden, sorgfältig aufzubereiten. Forschungsziele und Informationen zur geplanten Umsetzung sollten möglichst transparent dargestellt werden.
„Ich empfehle dringend, jemanden vor Ort zu haben, der das Projekt vertritt. Also sie müssen jemanden in der Anstalt haben, der hinter dem Projekt steht und der auch die Betroffenen oder die potenziellen Interviewpartner kontaktiert und überredet, da mitzumachen, das ist ganz, ganz wichtig. Ein Aushang oder sonst irgendetwas, Anschreiben, das nützt alles nichts, es muss jemand da sein, der vor Ort ist.
Das offen zu legen, […] auf eine Art und Weise ins Gespräch zu kommen, wo erst einmal klar ist: Da ist Interesse und ich will nichts Böses, sondern Forschung möchte mehr Klarheit bringen, mehr also weniger Annahme, weniger Vorurteil und mehr valide Daten.“ (W 1155 ff.)
Diskussion
Eine Fokusgruppe mit 5 Expert:innen mit Forschungserfahrung im Strafvollzug brachte spezifische Herausforderungen und Lösungen zur Realisierung von Versorgungsforschung im Strafvollzug hervor. Die thematisierten Herausforderungen resultieren vor allem aus Regularien, die der Sicherheit in den Anstalten und dem Schutz der Inhaftierten dienen. Diese sind berechtigt, allerdings u. U. für in dem Feld unerfahrene Forschende nicht absehbar. Die Ausführungen der Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen zeigen, wie Forschung dennoch gelingen kann.
Ihre Empfehlungen sind teilweise sehr pragmatischer Natur (z. B. das Einplanen eines ausreichenden zeitlichen Vorlaufs in der Anbahnung von Forschungsprojekten). Andere ausgeführte Themen berühren komplexere Fragen z. B. des Datenschutzes in der Forschung im Strafvollzug. Zur besseren Einordnung soll den Aussagen der Fokusgruppe hinzugefügt werden, dass der Schutz der Daten von Inhaftierten besonders relevant ist, da die Gruppe der Inhaftierten als Ganzes und insbesondere Subgruppen daraus relativ klein und spezifisch sind, was das Risiko der Identifizierung einzelner Personen erhöht. Zudem könnten sich aus Fehlern im Datenschutz für Inhaftierte Nachteile in Haft oder nach der Entlassung (z. B. durch Stigmatisierung) ergeben. Gleichzeitig können datenschutzrechtliche Dilemmata eintreten, wenn aus den Aussagen Inhaftierter hervorgeht, dass deren eigene Sicherheit oder die von anderen Personen gefährdet ist, und somit möglicherweise Verpflichtungen der Offenlegung von Daten auf Seiten der Forschenden entstehen [
21]. Ergänzend zu den Aussagen der Fokusgruppe können hier Lösungsvorschläge aus der internationalen Literatur herangezogen werden: Hier wird z. B. empfohlen, Interviewpatner:innen vorab darüber zu informieren, welche Themen im Interview nicht angesprochen werden sollten [
16]. Zu reflektieren ist dabei, dass sich hieraus ein starker Bias in den Aussagen der Interviewten ergeben kann.
Ein weiteres in der Fokusgruppe diskutiertes, ethisch komplexes Thema ist die Teilnahmebereitschaft von Inhaftierten an Studien. Berichtet wurde hier von grundsätzlich positiven Erfahrungen. Hierzu sollte diskutiert werden, ob die Freiwilligkeit der Studienteilnahme bei Inhaftierten wirklich immer garantiert ist, z. B. auch wenn in Studien medizinische Leistungen angeboten werden, zu denen sie sonst keinen Zugang haben. Als Lösungsansatz wird in der Literatur vorgeschlagen, durch das jeweilige Forschungsprojekt weitere Mittel zur Verfügung zu stellen, um auch Nichtteilnehmenden die entsprechenden Leistungen anbieten zu können [
3] und so die Freiwilligkeit der (Nicht‑)Studienteilnahme bei Inhaftierten zu erhöhen. Ob diese Lösung praktikabel ist, hängt stark von den Inhalten der jeweiligen Studien ab.
Interessanterweise sind die Barrieren für Versorgungsforschung im Strafvollzug stellenweise vergleichbar mit solchen im öffentlichen Gesundheitswesen [
22]. So wie die Rekrutierung von Anstalten ein Nadelöhr bedeuten kann, ist auch die Rekrutierung von hausärztlichen Praxen oft ein zeitintensives Vorhaben [
23]. Während hier die Bedeutung des zeitlichen Vorlaufs und der Absprache mit Schlüsselpersonen aus dem Strafvollzug und Kriminologischen Diensten betont wurden, finden sich in der aktuellen Literatur ebenfalls zahlreiche Hinweise darauf, dass z. B. auch Hausärzt:innen präferieren, rechtzeitig und gleichberechtigt in Phasen der Forschungsplanung eingebunden zu werden. Auch unter Hausärzt:innen findet sich durchaus große Skepsis, wenn Patientendaten aus der eigenen Praxis von Forschungsteams eingesehen werden [
24].
Limitationen
Da die Ergebnisse auf einer Fokusgruppe mit 5 Teilnehmenden aus einem „purposive sampling“ beruhen, könnten weitere Sichtweisen bestehen, die hier nicht erfasst wurden. Da alle Teilnehmenden aus einem Bundesland stammen, können zudem föderalistische Details in der Reflektion verpasst worden sein.
Ausblick
Zur Ergänzung der hier erarbeiteten Empfehlungen sollten vor allem die Inhaftierten selbst dazu befragt werden, welchen Herausforderungen sie bei der Teilnahme an Studien begegnen und wie praktikable Rahmenbedingungen und Lösungsansätze für sie aussehen könnten (z. B. auch zu partizipativen Ansätzen in Forschungsprozessen). Zudem sollte die Frage beantwortet werden, wie die Freiwilligkeit der Teilnahme von Inhaftierten an Forschungsprojekten sichergestellt werden kann. Übergeordnet gilt es zu diskutieren, wie es gelingen kann, dass Inhaftierte nicht systematisch von Forschung (auch außerhalb der Forschung explizit im Strafvollzug) exkludiert werden.
Darüber hinaus bleibt zu reflektieren, ob und inwiefern institutionelle Rahmenbedingungen langfristig angepasst werden können, sodass Forschung im Strafvollzug zugänglicher wird.
Da auch zukünftige Forschung im Strafvollzug völlig zurecht systemimmanenten Schutzbestimmungen unterliegen wird, wird es nebst allen Bemühungen zu Veränderungen von Regularien jedoch auch weiterhin darum gehen, geeignete Strategien für den Umgang mit diesen Bestimmungen zu finden.
Fazit für die Praxis
Bei der Planung und Durchführung von Studien sollte besonders auf folgende Aspekte geachtet werden:
-
rechtzeitige Einbindung von zuständigen Kriminologischen Diensten,
-
gute Kontaktpflege zu Ansprechpersonen aus dem Vollzug,
-
Vernetzung und Austausch mit externen Forschenden (z. B. aus dem eigenen Themengebiet) mit Strafvollzugerfahrung.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover (10765_BO_K_2023), im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patient/-innen liegt eine Einverständniserklärung vor.
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