ALS durch Umweltgifte?

Eine neue Analyse stärkt den Verdacht, dass Pestizide und andere Umweltgifte an der ALS-Entstehung beteiligt sind. Jedoch ließ sich für Blei und zwei halogenorganische Verbindungen ein reduziertes Risiko berechnen. Weshalb manche Menschen an einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) erkranken, ist noch weitgehend unklar. Genmutationen sind bei rund 5–10 % der Betroffenen die Ursache, epidemiologische Studien und Vererbungsanalysen deuten auf einen umweltbedingten Anteil von rund 40 %. Vor allem neurotoxische Substanzen werden verdächtigt, die tödliche Erkrankung in Gang zu setzen. Dafür spricht, dass immer wieder Cluster von ALS-Kranken in Regionen mit hoher Neurotoxinbelastung entdeckt werden. So scheint die zeitweise äußerst hohe ALS-Inzidenz auf der Insel Guam mit dem Verzehr von Neurotoxin-kontaminiertem Palmfarnmehl einherzugehen. Auch gibt es einige Berichte über eine hohe ALS-Rate bei Personen mit Pestizidbelastung. Dem wollten Umweltmediziner um Dr. Feng-Chiao Su von der Universität in Ann Arbor anhand einer Fall-Kontroll-Studie auf den Grund gehen. Zudem analysierten sie das Blut der Teilnehmer auf langlebige Umweltgifte. Nun haben Fall-Kontroll-Studien bekanntlich gravierende Schwächen und sind allenfalls geeignet, Zusammenhänge, nicht aber Ursachen aufzudecken. Allerdings sind epidemiologische Ansätze bei ALS kaum möglich, da die Krankheit so selten auftritt. Es ist also methodisch nicht einfach, Risikofaktoren für ALS zu ermitteln. Berufsbedingte Pestizidbelastung erhöht Die Forscher um Su konnten 156 ALS-Patienten sowie 128 gesunde Kontrollpersonen aus einer Studiendatenbank für ihre Analyse gewinnen. Die Kontrollpersonen wurden so ausgewählt, dass Alter, Geschlecht und Raucheranteil in etwa vergleichbar waren. Das Team um Su versuchte nun, die Belastung mit diversen Umweltchemikalien bei den Studienteilnehmern zu ermitteln. Sie wurden also gefragt, wo sie wie lange gewohnt und was sie wann und wo gearbeitet hatten. Anhand dieser Daten berechneten sie Wohnort- und Arbeitsplatz-bedingte Belastungen. Hat etwa jemand in den 1970er-Jahren als Landwirt gearbeitet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er dann mit bestimmten, damals üblichen Pestiziden in Kontakt gekommen ist. Wie sich herausstellte, waren die ALS-Kranken signifikant häufiger einer berufsbedingten Pestizidbelastung ausgesetzt als die Kontrollen (Odds Ratio, OR = 5,09), kamen nach den Berechnungen jedoch seltener mit Blei in Kontakt (OR = 0,38). ALS-Kranke waren zudem häufiger beim Militär angestellt (OR = 2,31), jedoch seltener im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Gesundheitswesen oder in der Verwaltung tätig (OR 0,23–0,38). An den Zusammenhängen änderte sich wenig, wenn unterschiedliche Zeiträume angeschaut wurden: Egal ob die Exposition in den vergangenen zehn Jahren oder davor stattfand, für Pestizide und Militärdienst deutete sich ein erhöhtes, für Bleibelastung ein reduziertes Erkrankungsrisiko an. Häufiger Umweltgifte im Blut Bei den Blutuntersuchungen konzentrierten sich die Forscher auf stabile chlor- und bromorganische Verbindungen. Diese können sich im menschlichen Körper über viele Jahre hinweg anreichern und sind potenziell neurotoxisch. Insgesamt wurden 122 Substanzen gemessen, bei zehn deutete sich ein Zusammenhang mit dem ALS-Risiko an. Fünf davon ließen in einer multivariaten Analyse ein signifikant erhöhtes ALS-Risiko erkennen, darunter befanden sich die Dioxin-Vorstufe Pentachlorbenzol (PCP), das Insektizid Trans-Chlordan, zwei als Flammschutzmittel verwendete polybromierte Diphenyl-Ether (PBDE) sowie ein polychloriertes Biphenyl (PCB). PCB wurden im vergangenen Jahrhundert als Weichmacher, Kondensator-, Transformator- und Hydraulikflüssigkeit verwendet. Für die fünf genannten Substanzen ließ sich ein zwei- bis dreifach erhöhtes ALS-Risiko berechnen. Jeweils ein PCB und ein PBDE gehen nach den Berechnungen der US-Forscher jedoch mit einem halbierten ALS-Risiko einher. Berücksichtigt hatten die Wissenschaftler eine Reihe von Begleitfaktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung und Militärdienst. Im Gesamtergebnis sehen sie die Hypothese bekräftigt, wonach Umwelttoxine an der ALS-Entstehung beteiligt sind. Allerdings wirft die Studie auch eine Reihe von Fragen auf. Weshalb ausgerechnet Blei einen protektiven Effekt haben soll, ist unklar, schließlich gilt das Schwermetall als neurotoxisch. Anders als die Studienautoren behaupten, lässt sich auch bei den Blutmessungen kein klarer Trend erkennen: Nach der multivariaten Analyse ergab sich für vier von zehn Substanzen ein tendenziell verringertes Risiko. Das spricht eher für eine Zufallsverteilung. Schließlich ist noch die geringe Zahl der Kontrollpersonen zu bemängeln: Üblicherweise liegt diese bei Fall-Kontroll-Studien ein Vielfaches über der Zahl der Erkrankten, hier war sie sogar geringer. Auch waren die Kontrollpersonen sehr unterschiedlich. Sie stammten mehrheitlich aus einer räumlich als auch vom Bildungsniveau her universitätsnahen Schicht, nicht so die Erkrankten. Dies könnte zu massiven Verzerrungen geführt haben.

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