Deutsche Praxisstudie sieht keinen Nutzen von Edaravon bei ALS

Der Radikalfänger Edaravon ist in einigen Ländern zur ALS-Therapie zugelassen, der Nutzen aber umstritten. Eine deutsche Praxisstudie kann keine Hinweise auf eine Wirksamkeit in Kombination mit dem Therapiestandard Riluzol erkennen. Hinweis: Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Edaravon wurde zunächst als Radikalfänger zur Therapie bei ischämischem Schlaganfall entwickelt, nach positiven Resultaten in ALS-Tiermodellen auch zur ALS-Therapie bei Menschen. Hier soll das Medikament über neuroprotektive Eigenschaften den Krankheitsverlauf bremsen. Die klinischen Studien erfolgten allesamt in Japan und verliefen zunächst negativ, Subgruppenanalysen ergaben jedoch Hinweise auf einen Nutzen bei Patienten, die weniger als zwei Jahre erkrankt waren, noch eine gut funktionierende Atmung und auch sonst erst wenige Einschränkungen aufwiesen sowie eine moderate Krankheitsprogression zeigten. Eine weitere Studie mit 137 speziell auf diese Merkmale hin ausgewählten Patienten führte nach sechs Monaten Behandlung tatsächlich zu einem signifikanten Verum-Placebo-Unterschied von rund 2,5 Punkten auf der „ALS Functional Rating Scale – Revised“ (ALSFRS-R) mit maximal 48 Punkten. Der Vorteil wurde zwar von einigen Experten als klinisch kaum relevant beurteilt, zudem gab es keinen Nutzen bei anderen wichtigen Endpunkten wie Atmung, Muskelkraft und Mortalität, dennoch führte die Studie im Jahr 2017 zur Zulassung von Edaravon in den USA und einigen anderen Ländern. Die europäische Zulassungsbehörde EMA beurteilte die Daten zurückhaltender, der Hersteller Mitsubishi Tanabe zog daraufhin den Zulassungsantrag 2019 zurück. Trotzdem kann eine Therapie unter bestimmten Voraussetzungen auch in Deutschland erfolgen. Quasi-randomisierte Studie mit 260 Patienten Ein Team um Dr. Simon Witzel von der Universität in Ulm hat nun geschaut, ob sich bei den in Deutschland behandelten ALS-Patienten tatsächlich Hinweise auf einen Nutzen von Edaravon ergeben. In einer Kohortenstudie verglichen sie möglichst ähnliche Patienten mit und ohne Edaravon-Zusatztherapie, fanden jedoch keine Vorteile gegenüber einer alleinigen Behandlung mit dem Therapiestandard Riluzol – auch nicht bei Patienten mit vergleichbaren Eigenschaften wie in der positiven japanischen Studie. An ihrer Untersuchung nahmen zwölf Kliniken des deutschen Netzwerks für Motoneuronerkrankungen (MND-NET) teil. Sie lieferten Angaben zu ALS-Patienten, die zwischen 2017 und 2019 mit Edaravon zusätzlich zur Riluzol-Standardtherapie behandelt worden waren, sowie zu Patienten, die zwischen 2012 und 2019 nur die Standardtherapie erhalten hatten. Die Edaravon-Behandlung erfolgte nach dem Protokoll der erfolgreichen japanischen Studie. Das Team um Witzel stellte über ein quasi-randomisiertes Design (propensity score matching) 130 Patienten mit und ebenso viele ohne Edaravon gegenüber. Alle Patienten mit Edaravon hatten mindestens vier Infusionszyklen erhalten. Krankheitsparameter, demografische Faktoren und Studienzentren der gegenübergestellten Patienten waren praktisch identisch. Zudem konnten die Forscher eine Subgruppe von 64 Patienten bilden, welche die Eingangskriterien der positiven japanischen Studie erfüllten. Empfehlung der Redaktion Seltene Erkrankungen – Themenseite In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind. Auf der Themenseite „Seltene Erkrankungen“ finden Sie Nachrichten, Kasuistiken und Übersichtsarbeiten zu ALS, multiplem Myelom, Hämophilie und anderen Orphan Diseases. Kein Nutzen, aber Infusionskomplikationen Im Median lag die ALS-Diagnose der Patienten 17 Monate zurück, das Alter betrug 58 Jahre, der ALSFRS-R-Score erreichte eingangs 37 Punkte, und die Progression wurde mit 0,6 Punkten pro Monat beziffert. Mit Edaravon verschlechterte sich der ALSFRS-R-Score bei einer medianen Behandlungsdauer von knapp 14 Monaten um 0,91 Punkte, in der Kontrollgruppe über 11 Monate hinweg um 0,85 Punkte, die Progressionsrate war damit fast identisch. Betrachteten die Neurologen um Witzel Zeiträume von 24 Wochen, gab es ebenfalls keine statistisch signifikanten Unterschiede. Solche fanden sie auch nicht in der Subgruppe von Patienten, die nach den japanischen Daten eigentlich hätten profitieren müssen. Bei der Zeit bis zur Beatmung und der Sterberate gab es ebenfalls keine Unterschiede. Dem fehlenden Nutzen steht ein gewisser Schaden gegenüber: Zwar wurde die Edaravon-Therapie bis auf einige allergische Reaktionen recht gut vertragen, sieben Patienten mussten jedoch aufgrund von Port-Komplikationen, hauptsächlich Infektionen, stationär aufgenommen werden. In einem Editorial sehen Neurologen um Dr. Jonathan Glass von der Emory-Universität in Atlanta, USA, in den infusionsbedingten Nebenwirkungen bei fehlendem Nutzen durchaus ein Problem – zusammen mit den hohen Kosten der Behandlung von rund 150.000 Dollar pro Jahr in den USA. Sie werfen der FDA vor, sie habe die Zulassung von Edaravon zu voreilig erteilt. „Medikamente gegen neurodegenerative Erkrankungen ohne klar belegten Nutzen sind häufig teuer, belasten die Patienten bei der Anwendung und haben mitunter toxische Wirkungen, die jeden positiven klinischen Effekt überwiegen.“ Das Wichtigste in Kürze Frage: Welchen Nutzen hat eine Zusatztherapie mit Edaravon bei ALS? Antwort: Eine quasi-randomisierte Kohortenstudie aus Deutschland fand weder beim Funktionsscore ALSFRS-R noch bei der Zeit bis zur Beatmung oder der Mortalität signifikante Unterschiede zwischen vergleichbaren Patienten mit und ohne Edaravon. Bedeutung: Edaravon scheint ALS-Patienten in der Praxis wenig zu nützen. Einschränkung: Keine randomisiert-kontrollierte Studie.

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