Erschienen in:
01.06.2006 | Leitthema
Anästhesie und Analgesie bei Suchtpatienten
Grundlagen zur Erstellung einer „standard operating procedure“
verfasst von:
Prof. Dr. J. Jage, F. Heid
Erschienen in:
Die Anaesthesiologie
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Ausgabe 6/2006
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Zusammenfassung
Suchtkranke haben eine ausgeprägte organische und psychische Komorbidität. Im Fall einer größeren Operation oder eines Polytraumas sind sie als Hochrisikopatienten einzustufen. Perioperativ hinzukommende Probleme sind hoher Analgetikumbedarf, „craving“ (Drogenhunger), körperliches bzw. psychisches Entzugssyndrom, Hyperalgesie und Toleranz. Deren klinische Ausprägung richtet sich nach der missbrauchten Substanz. Zum besseren Verständnis der erforderlichen perioperativen Maßnahmen ist eine Zuordnung in das Zentralnervensystem (ZNS-)dämpfende (Heroin, Alkohol, Sedativa/Hypnotika), ZNS-erregende (Kokain, Amphetamine, Designer-Drogen) sowie weitere psychotrope Substanzen (Cannabis, Halluzinogene, Inhalanzien, Nikotin) hilfreich. Die perioperative Therapie soll nicht Therapie der Suchterkrankung sein. Vielmehr müssen Besonderheiten dieser chronischen Erkrankung akzeptiert werden. Anästhesie und Analgesie müssen großzügig stressabschirmend und ausreichend analgetisch wirksam sein. Gleichrangige perioperative Behandlungsprinzipien sind 1. Stabilisation der körperlichen Abhängigkeit durch Substitution mit Methadon (bei Heroinabhängigen) oder mit Benzodiazepinen und Clonidin (bei Suchterkrankung durch Alkohol, Sedativa, Hypnotika), 2. Vermeiden von „distress“ und Craving, 3. weit gehende intra- und postoperative Stressabschirmung durch Nutzung regionaler Techniken bzw. durch systemisch höher als sonst dosierte Anästhetika/Opioide, 4. striktes Vermeiden einer analgetischen Unterversorgung, 5. postoperative Optimierung der regionalen oder systemischen Analgesie durch Nichtopioide bzw. Koanalgetika und 6. Berücksichtigung der vielschichtigen körperlichen und psychischen Besonderheiten/Komorbiditäten. Auch bei Abstinenten („clean“) muss eine analgetische Unterversorgung vermieden werden. Diese und nicht die adäquate, u. U. auch starke Opioide einschließende Schmerztherapie ist potenziell suchtaktivierend. Das protrahierte Abstinenzsyndrom nach Opioidentzug kann zu erhöhter Ansprechbarkeit (Analgesie, Nebenwirkungen) zugeführter Opioide führen.