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10.03.2022 | Online-Artikel

Antidepressiva: Risiko von Absetzsymptomen?

Nach dem Absetzen einer antidepressiven Medikation muss mit Absetzsymptomen gerechnet werden, weil sich der Körper an die Pharmakotherapie physiologisch anpasst [1]. Erfahren Sie hier, wie das Risiko minimiert werden kann, welche Medikamente tendenziell zu stärkeren Absetzsymptomen führen und wie man Letztere von einem Rezidiv unterscheiden kann.

Absetzsymptom oder Abhängigkeit?

Abhängigkeit wird nicht vorrangig durch körperliche Phänomene, sondern durch psychische Abhängigkeitskriterien charakterisiert. Gemäß ICD-10 liegt eine Abhängigkeit von Substanzen vor, wenn mindestens drei Suchtkriterien erfüllt sind. Die meisten dieser Kriterien werden durch die Einnahme von Antidepressiva nicht erfüllt (weniger als 3) [2]. Substanzen, die eine Abhängigkeit verursachen, lösen z. B. 

  • ein unkontrolliertes Verlangen, das Medikament einzunehmen,
  • eigenmächtige Dosissteigerung durch die Betroffenen und 
  • Einengung von Verhalten oder Interessen zugunsten der Einnahme oder Beschaffung der Substanz aus [2]. 

Dennoch können Absetzsymptome und Rebound-Phänomene zu Schwierigkeiten führen, die Einnahme eines Antidepressivums zu beenden. Laut Definition des ICD-10 ist dies ebenfalls ein Suchtkriterium [2].

Antidepressiva schrittweise reduzieren

Das abrupte Absetzen von Antidepressiva sollte vermieden werden, da dies zu schweren Absetzsymptomen führen kann. Diese können aber auch bei einer Dosisreduzierung oder unregelmäßiger Einnahme entstehen. Generell sind Absetzsymptome von Antidepressiva zumeist mild und bilden sich häufig spontan zurück [3].

Die S3-Leitlinie „Unipolare Depression“ empfiehlt beim Absetzen von Antidepressiva [3]:

  • Antidepressiva sollten in der Regel schrittweise über einen Zeitraum von vier Wochen reduziert werden. In einigen Fällen werden auch längere Zeiträume benötigt.
  • Solange die Absetzsymptome mild ausgeprägt sind, sollten die Betroffenen beruhigt und die Symptome überwacht werden.
  • Falls die Symptome schwer sind, sollte das Wiederansetzen des ursprünglichen Antidepressivums (oder eines mit längerer Halbwertszeit aus derselben Wirkstoffklasse) in wirksamer Dosierung erwogen werden und das Absetzen unter Überwachung noch langsamer erfolgen.

Prinzipiell gilt es, beim Absetzen eines Antidepressivums auf die Angaben der Hersteller in den jeweiligen Fachinformationen zu achten.

FINISH – kurze Übersicht über mögliche Absetzsymptome

Der englische Begriff „FINISH“ hilft als Eselsbrücke Absetzsymptome schneller zu erkennen [2]:       

  • Flulike symptoms (grippeähnliche Symptome) 
  • Insomnie (Schlafstörungen, intensive Träume/Albträume) 
  • Nausea (Übelkeit, Erbrechen) 
  • Imbalance (Gleichgewichtsstörungen, Schwindel) 
  • Sensory disturbances (Stromschläge, Dysästhesien) 
  • Hyperarousal (Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit)

© Bayer Vital

Tabelle 1: Klinische Darstellung von Antidepressiva-Absetzsymptomen (nach [4])

Unterschiedliche Wahrscheinlichkeit für Absetzsymptome

Generell sind die Absetzsymptome von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) mild und kommen nur selten vor. Eine Ausnahme bildet Paroxetin. Bei diesem SSRI besteht, wie auch bei trizyklischen Antidepressiva, ein hohes Risiko für Absetzsymptome [4]. 
© Bayer Vital
Tabelle 2: Risiko für Absetzsymptome verschiedener Antidepressiva (nach [4])

Für pflanzliche Antidepressiva (Johanniskrautextrakt) sind keine Absetzsymptome aus der Literatur bekannt. 

Kurze Halbwertszeit = hohes Risiko einer starken Ausprägung der Absetzsymptome

Ein hohes Risiko für Absetzsymptome bedeutet nicht automatisch, dass es nach Absetzen der Medikation auch zu einer schweren Symptomatik kommen muss. Es scheint zu gelten: Je stärker und direkter ein Antidepressivum in das Gleichgewicht des Neurotransmittersystems eingreift, desto stärker die Ausprägung der Symptome [4].  Antidepressiva mit kurzer Halbwertszeit, wie z. B. MAO-Hemmer, Tranylcypromin und Moclobemid, haben ein höheres Risiko für die Entstehung von Absetzsymptomen und für eine stärkere Ausprägung [4].

Absetzsymptome, Rebound-Phänomen oder Rückfall?

Das Absetzen von Antidepressiva kann neben Absetzphänomenen auch zu Rebound oder einem Aufflammen der Grunderkrankung führen. Während Absetzphänomene rasch auftreten und sich nach Wiederaufnahme der Medikation i. d. R. auch wieder rasch bessern, löst ein Rebound die Symptomatik der Grunderkrankung in stärkerem Maße aus als vor der Medikation. Ein Rezidiv zeichnet sich dagegen durch das Auftreten einer neuen Episode nach Remission (6 bis 9 Monate) aus.

© Bayer Vital

Tabelle 3: Differenzialdiagnostik nach Absetzen oder Dosisreduktion von Antidepressiva (nach [4])

Patienten im Vorfeld aufklären

Bei einer Behandlung mit Antidepressiva ist es wichtig, Patienten im Vorfeld darüber aufzuklären, dass Antidepressiva per se nicht abhängig machen. Eigenständiges, abruptes Absetzen – ohne ärztliche Absprache – kann jedoch zu Absetz- und möglichen Rebound-Phänomenen führen.

Literatur:

[1] PZ – Pharmazeutische Zeitung. Psychopharmaka: Absetzen, aber richtig; unter: www.pharmazeutische-zeitung.de/absetzen-aber-richtig/ (abgerufen am 01.12.2021)
[2] Bschor T et al. Absetzen von Antidepressiva – Absetzsymptome und Rebound-Effekte. Nervenarzt (2022). https://doi.org/10.1007/s00115-021-01243-5
[3] DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, 2. Auflage. Version 5. 2015. 
unter: www.dgppn.de/_Resources/Persistent/d689bf8322a5bf507bcc546eb9d61ca566527f2f/S3-NVL_depression-2aufl-vers5-lang.pdf (abgerufen am 23.11.2021).  
[4] Henssler J et al. Antidepressant withdrawal and rebound phenomena—a systematic review. Deutsches Ärzteblatt International 2019;116:355–61. unter: www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6637660/ (abgerufen am 23.11.2021).

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