Die Behandlung von Patienten mit Typ-A-Aortendissektion in der Notaufnahme stellt eine komplexe, zeitkritische Herausforderung dar. In der vorliegenden Kasuistik wird ein durch ethische Aspekte besonders herausfordernder Fall beschrieben, in dem ein Patient aus religiösen Gründen Blutprodukte ablehnte und bis zur Verlegung aufwendig in der Notaufnahme gemanagt werden musste. Wir diskutieren den ethischen Konflikt, der sich aus dieser Situation ergab, sowie die organisatorischen und kommunikativen Schwierigkeiten bei der Verlegung des Patienten in ein spezialisiertes Zentrum.
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Anamnese
Ein 55-jähriger Patient wurde abends in Notarztbegleitung in der Zentralen Notaufnahme (ZNA) vorgestellt. Er verspürte seit dem Nachmittag einen plötzlich einsetzenden, zunächst leichten thorakalen Schmerz und zunehmende Schmerzen im linken Oberschenkel. Innerklinisch wurde er bei Aggravation der Beschwerden sehr unruhig und schrie, er war alsbald nicht mehr führbar. Eine Ursache für die plötzliche Exazerbation ließ sich präklinisch nicht feststellen. Anamnestisch war bei dem Patienten ein fraglich ossär metastasiertes Prostatakarzinom bekannt sowie ein arterieller Hypertonus.
Körperliche Untersuchung
Präklinisch lagen die Vitalparameter im Normbereich, auch die Blutdruckwerte waren seitengleich. Im Verlauf zeigte sich als einzige Auffälligkeit eine Malperfusion des rechten Arms bei ausgeprägter Blutdruckdifferenz. Zudem imponierte der Patient kaltschweißig, blass, erbrach einmalig und es bestand eine retrograde Amnesie zu den Ereignissen im häuslichen Umfeld.
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Diagnostik
Das 12-Kanal-EKG zeigte keine Auffälligkeiten. Es erfolgte ergänzend eine transthorakale Echokardiographie. In dieser zeigten sich eine hochgradige Aortenklappeninsuffizienz sowie eine Dilatation der Aorta ascendens auf > 6 cm. Eine Dissektion selbst war nicht sicher darzustellen, ein Perikarderguss konnte ausgeschlossen werden. Aufgrund des verdächtigen klinischen Befunds wurde das Thoraxschmerzlabor (Troponin, D‑Dimere) nicht abgewartet und unmittelbar eine CT-Angiographie der Aorta durchgeführt. In dieser zeigte sich eine ausgedehnte Dissektion Typ A nach Stanford bzw. Typ I nach DeBakey (Abb. 1).
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Der Beginn der Dissektion lag auf Höhe des Aortenbulbus (Abb. 2). Die Dissektion dehnte sich bis in die Iliakalgefäße aus (Abb. 3). Die Koronarien und die distalen hirnversorgenden Gefäße waren regelrecht kontrastiert. Zudem ergab sich kein Anhalt auf eine Endorganischämie oder ein Hämatoperikard. Aus ärztlicher Sicht ergab sich eine klare Indikation zur sofortigen operativen Versorgung.
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Therapie und Verlauf
Vor Abschluss der Diagnostik wurden die Schmerzen zunächst auf die im Raum stehende ossäre Metastasierung zurückgeführt, sodass zeitnah eine Analgesie nach WHO-Stufenschema erfolgte. Nach Beendigung der Diagnostik wurde der Patient umgehend auf die Notwendigkeit einer sofortigen Operation hingewiesen. Er äußerte den Wunsch nach Maximaltherapie, wobei er aufgrund seiner religiösen Zugehörigkeit die Gabe von Vollblutprodukten ablehnte. Hierzu legte er eine schriftliche Verfügung vor, welche nebst Ablehnung des oben Genannten der Gabe von Gerinnungsfaktoren, Albumin und Fibrinogen zustimmte. Darüber hinaus erlaubte er die extrakorporale Zirkulation und maschinelle Autotransfusion im geschlossenen Kreislauf. Der Patient wurde über die Dringlichkeit des Eingriffs mit mitunter lebensbedrohlichem Blutverlust aufgeklärt, lehnte eine Transfusion allerdings weiter vehement ab.
Da innerklinisch keine entsprechende Fachabteilung vorhanden war, kontaktierten wir benachbarte herzchirurgische Zentren, um den Patienten zu verlegen. Der Patient war derweil klinisch stabil und beschwerdefrei.
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Eine Übernahme des Patienten wurde, bei geringen Erfolgsaussichten einer derartig riskanten Operation ohne Gabe von Vollblutprodukten, in den meisten Fällen abgelehnt. Bei einzelnen Kliniken, die solch riskante Eingriffe prinzipiell durchführten, waren die Kapazitäten erschöpft. Der Patient bat infolgedessen um das Hinzuziehen einer „Kontaktperson für Krankenhausangelegenheiten“ seiner Religionsgemeinschaft. Diese unternahm weitere Verlegungsversuche, dies gelang allerdings auch überregional im Verlauf der Nacht nicht. Zudem waren die hauseigenen intensivmedizinischen Kapazitäten ebenfalls erschöpft, sodass der Patient vorerst in der Notaufnahme verblieb.
In der Zwischenzeit beriet sich der Patient mit seinem Kontaktmann. Religiöse Aspekte von Sterben und Krankheit spielten hier eine wichtige Rolle in der Entscheidungsfindung, da das Annehmen von Blutprodukten in diesem Falle mit der Aberkennung Gottes als Schöpfer und somit mitunter der eigenen Religionsidentität gleichgestellt war [3, 4, 8].
Im ärztlichen Team wurden der Verlauf, das weitere Prozedere sowie die Möglichkeiten der Therapie ausführlich nach Einbezug des Patienten und seiner Familie diskutiert. Das nahezu sichere Versterben des Patienten ohne Operation und das mögliche Versterben beim Versuch der Operation ohne Transfusion wurden mit allen Beteiligten kommuniziert und als Prozedere die Vorstellung in weiteren Kliniken vereinbart. Gemeinsam wurde zusätzlich das Unterlassen von Reanimationsmaßnahmen bei fehlenden Erfolgsaussichten einvernehmlich schriftlich festgelegt. So konnten der Patientenwunsch berücksichtigt und zudem ethisch und rechtlich klare Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Am frühen Morgen meldete sich eine der über den Kontaktmann angefragten Kliniken mit frei gewordenen Kapazitäten zurück, der Patient wurde umgehend verlegt. Er erhielt in einem zweizeitigen Vorgehen erst einen suprakoronaren Ersatz des Aortenbogens und einen extraanatomischen Bypass der Aorta ascendens auf die rechte A. subclavia. Die Aortenwurzel wurde von außen mittels Fibringewebe verklebt. Ergänzend erfolgte eine endovaskuläre Reparatur der Aorta (TEVAR). Eine Transfusion war, wider Erwarten, nicht erforderlich. Das Hämoglobin lag postoperativ bei 8,1 g/dl. Der Patient konnte rund 4 Wochen postoperativ in eine Reha-Klinik verlegt werden.
Diskussion
Das Management eines komplexen und zeitkritischen Notfalls wie der Aortendissektion ist sehr herausfordernd, insbesondere wenn das Krankheitsbild im eigenen Zentrum nicht abschließend versorgt werden kann und vor Ort die personellen und intensivmedizinischen Kapazitäten erschöpft sind. Die Organisation der Verlegung in spezialisierte Abteilungen ist auch im Regelfall oft schwierig. Vor dem Hintergrund des individuellen Patientenwunschs wurde diese zusätzlich erschwert.
Das Spannungsfeld zwischen Op.-Indikation, Behandlungspflicht und Behandlungswunsch des Patienten verursachte einen Dissens zwischen den eingebundenen Mediziner:innen. „Wie helfe ich einem Patienten, der aus Glaubensgründen im Rahmen seiner Autonomie die empfohlene Therapie so nicht durchführen lassen will? Ab wann werden diese Versuche eingestellt? Ist es angesichts knapper Ressourcen vertretbar, eine ohne Transfusion scheinbar letal verlaufende Operation durchzuführen?“
Die Rechtslage ist hier bei einwilligungsfähigen, erwachsenen Patienten klar. Dem medizinischen Personal obliegt trotz der angespannten Situation keine Vernunftshoheit, der Autonomie des einwilligungsfähigen Patienten ist immer der Vorrang in der Entscheidungsfindung zu geben, auch wenn hierfür der möglicherweise verfrüht eintretende Tod in Kauf genommen werden muss. Andernfalls droht eine Klage wegen Körperverletzung. Die allgemeine Rechtspflicht zur Hilfeleistung verpflichtet im Notfall dennoch zum Behandlungsangebot. Dass eine fehlende Transfusion die Erfolgsaussichten der Operation mitunter deutlich mindert, spielt hier zunächst keine Rolle. Die Grundsätze der Fürsorge und des Nichtschadens fordern maximale Bemühungen für den Patienten im Rahmen des Machbaren und medizinisch Sinnvollen, jedoch ohne ihm durch die unterlassenen oder erfolgten Maßnahmen zu schaden [1, 8]. Die einzig medizinisch und ethisch vertretbare Option ist also, dem Patientenwunsch nachzugehen und eine Behandlungsoption ohne Transfusion anzubieten, auch wenn im Einzelfall begrenzte OP-Kapazitäten hierdurch blockiert werden.
Dennoch stellt sich die Frage: „Wie viel Aufwand, einen OP-Platz zu finden, ist in Anbetracht anderer, behandlungspflichtiger Notfälle tragbar?“
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Das Management von Patienten in der Notaufnahme ist immer auch dem situativen Gesamtbild unterworfen, sodass im Einzelfall das Wahren der Gerechtigkeit als medizinethisches Grundprinzip nicht immer zufriedenstellend gelingt. Eine verzögerte Sichtung und Behandlung weiterer Notfälle zugunsten eines Einzelnen soll dennoch nicht in Kauf genommen werden. Hilfestellung können beispielsweise Algorithmen zur ethischen „Rationierung“ knapper Ressourcen bieten. Diese können u.A. durch eine Gegenüberstellung des Nutzens und der Erfolgsaussichten einerseits und des Aufwands andererseits erfolgen, wobei auch ethische Fragestellungen zunehmend einen Bestandteil der Entscheidungsfindung darstellen [5‐7]. Auch wenn das Management des Patienten für das Personal eine große Herausforderung war, konnten für zukünftige Fälle sowohl ethisch als auch organisatorisch gute Erkenntnisse gewonnen werden.
Insbesondere in derartigen Fällen zeigt sich der hohe Stellenwert des differenzierten Managements von Krankheitsbildern und der Kenntnis alternativer Behandlungsstrategien, die auch das Einbeziehen von Aspekten spiritueller bzw. sozialer Natur ermöglichen. Oftmals werden Entscheidungen aufgrund von Unsicherheiten, Ängsten oder sozialem Druck von Behandlungsteam und Patienten anders getroffen, als diese es unter „optimalen“ Voraussetzungen tun würden [10]. Daher ist es gerade dann wichtig, als Behandlungsteam auf die Patienten zuzugehen und deren Ansichten und Wünsche nicht vorwegzunehmen, sondern aktiv zu erfragen. Auch der medizinische Standpunkt sollte klargestellt und deutlich kommuniziert werden, ohne zu beschönigen oder Druck auszuüben. Dies kann das gegenseitige Vertrauen stärken und die Therapieadhärenz und damit den Erfolg im Sinne der Patienten maßgeblich verbessern [10].
Fazit für die Praxis
Die Vereinbarkeit von bestmöglichen Therapieoptionen und Wahrung der Patientenautonomie kann herausfordernd sein, insbesondere wenn die medizinischen und personellen Ressourcen beschränkt sind.
Die ethischen Grundprinzipien (Autonomie, Fürsorge, Nichtschaden und Gerechtigkeit) aller Patienten müssen trotz begrenzter Ressourcen gleichermaßen gewahrt bleiben. Dies ist in der Realität oft nur als Kompromiss möglich und kann für das Team psychisch belastend sein. Wichtig zur Bewältigung und Prävention ist daher eine etablierte Organisationsethik mit standardisierten Prozessabläufen mitsamt Ansprechpartnern. Fortbildungsangebote sowie Debriefing, Aufklärung und Gesprächsangebote (Vermeidung von „second victims“) sollten hierbei wichtige Bestandteile sein.
Ethische und soziale Faktoren müssen in der Entscheidungsfindung genauso stark gewichtet werden wie medizinisch-fachliche Sachverhalte, da diese oft einen maßgeblichen Einfluss auf den Patientenwillen und auch auf den Umgang mit den Patienten und deren Angehörigen haben.
Vertreter:innen von Religionsgemeinschaften können zu einer verbesserten Compliance und zu einem erleichterten Zugang der Patient:innen zu spezialisierten Zentren beitragen und dem Team beratend zur Seite stehen. Daher sollten diese möglichst mit einbezogen werden.
Eine Liste mit Kliniken, die Erfahrung mit Eingriffen bei bestimmten Patientengruppen haben, kann hilfreich sein.
Danksagung
Wir danken Frau PD Dr. Paula Keschenau, Frau Mirja Stark und Herrn Prof. Dr. Bernd Niemann aus der Klinik für Herz‑, Kinderherz- und Gefäßchirurgie des Universitätsklinikums Gießen für ihre Unterstützung in der Aufarbeitung des Falls und die gute Zusammenarbeit.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
K. Wiedenhofer und L.-M. Hetjans geben folgende Interessenkonflikte an: Dieser Artikel wurde von den Helios Kliniken GmbH mit Übernahme der Publikationskosten durch die Helios Forschungsförderung unterstützt.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
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