Labordiagnostik vor und während der anfallssupprimierenden Pharmakotherapie
Die Liste möglicher Laborveränderungen unter ASM ist lang. Wie bei Beipackzetteln sollte man sich aber davor hüten, alle diese möglichen Befunde hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz in einen Topf zu werfen. Die für Eslicarbazepinacetat beispielsweise beschriebene Möglichkeit einer Erhöhung der Triglyzeride und einer Erniedrigung von freiem Trijodthyronin (FT
3) und freiem Thyroxin (FT
4) ist sicherlich weniger sicherheitsrelevant wie das mögliche Auftreten von Anämien, Leukozytopenien, Panzytopenien oder Hyponatriämien [
5,
11]. Mit Sicherheit sind regelmäßige Laborkontrollen im Kindesalter höherwertig als im Erwachsenenalter, um entwicklungsrelevante Störfaktoren auszuschließen.
Die Geschichte der ASM hat gelehrt, dass oft Jahre abgewartet werden müssen, ehe seltene, aber schwerwiegende Störwirkungen berichtet werden, die sich durch Laborkontrollen erfassen lassen. Wichtigstes Warnbeispiel war dabei Felbamat, dessen Rolle für aplastische Anämien und schwere Hepatopathien erst nach der Zulassung offenbar wurde [
5]. Aus diesem Grunde sollten Laborkontrollen mit neueren ASM wie Cenobamat oder auch den Orphan Drugs Cannabidiol, Fenfluramin oder Ganaxolon grundsätzlich immer häufiger und umfassender durchgeführt werden als bei ASM, deren Risiken gut bekannt sind und bei denen daher das Laborscreening nach den wesentlichen initialen und frühzeitigen Untersuchungen mit größerer Gelassenheit anzugehen zulässig ist.
Den aktuell publizierten Leitlinien zufolge wird empfohlen, vor Beginn einer Behandlung mit ASM und 1 bis 3 Monate nach Beginn Blutbild, Elektrolyte, Kreatinin, Lipase und Transaminasen zu bestimmen. Dies deckt sich weitgehend mit der Empfehlung unserer Übersichtsarbeit [
5], die ein Blutbild einschließlich Thrombozyten, die Transaminasen, die alkalische Phosphatase und Kreatinin zu bestimmen vorschlug. Gerade im Hinblick auf spätere mögliche Vitamin-D-Mangelzustände erscheint ein Ausgangswert für die alkalische Phosphatase durchaus sinnvoll. Elektrolyte (insbesondere Natrium) hatten wir damals nur vor dem geplanten Einsatz von Oxcarbazepin empfohlen. Entsprechend den Leitlinien sollte dies angepasst werden, da die Gefahr der Hyponatriämie gerade bei älteren Patientinnen und Patienten erheblich sein kann und speziell in dieser Patientengruppe immer denkbar ist, dass eine Situation oder Behandlung entsteht, die eine Hyponatriämie noch akzentuieren kann, denkt man beispielsweise an häufig eingesetzte und oftmals notwendige Begleitmedikamente wie Serotonin-Reuptakehemmer und Diuretika wie insbesondere Hydrochlorothiazid. Umgekehrt ist auch denkbar, dass bei Scheitern eines anderen ASM dann doch auf Dibenzazepin zugegriffen wird, sodass auch dann Basalwerte hilfreich sein können. Allerdings ist die Empfehlung einer Kontrolluntersuchung in dieser Konstellation erst nach 1 bis 3 Monaten definitiv verkehrt. Hyponatriämien auch erheblichen Ausmaßes können innerhalb weniger Tage auftreten, selbst beim Umsetzen z. B. von Carbamazepin auf Oxcarbazepin bei zuvor normgerechten Natriumserumkonzentrationen unter Carbamazepin (eigene Beobachtung).
Unter ASM-Dauertherapie sollte insbesondere in einer frühen Behandlungsphase und im Kindesalter unter Valproat-Therapie eine engmaschigere Überprüfung der Verträglichkeit anhand von verschiedenen Laborparametern versucht werden. Im Vademecum Antiepilepticum empfehlen wir dazu wiederum mit besonderer Beachtung des Kindesalters neben der selbstverständlichen klinischen Untersuchung eine laborchemische Kontrolle mit Bestimmung des Blutbilds sowie von Serum-Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (SGOT), Serum-Gluatmat-Pyruvat-Transaminase (SGPT), Bilirubin, Amylase und Gerinnungsparametern (Thrombozyten, partielle Thromboplastinzeit [PTT], Quick [„international normalized ratio“, INR], Fibrinogen) spätestens 3 Monate nach Behandlungsbeginn [
26]. Besonders bedeutsam ist das angesichts der Möglichkeit einer bislang unentdeckten Mitochondriopathie. Bei weiterhin unauffälligem klinischem Verlauf sollten 6 Monate nach Behandlungsbeginn diese Kontrollen wiederholt werden. Danach gilt wie bei anderen ASM, dass weitere Kontrollen bei unauffälligem klinischem Befund eher dem Sicherheitsbedürfnis entspringen als der medizinischen Notwendigkeit. Ein isolierter Anstieg der Leberwerte etwa unter enzyminduzierenden ASM bleibt im weiteren Verlauf oft stabil und somit bei guter klinischer Wirksamkeit und Verträglichkeit hinnehmbar.
Blutbildveränderungen im Verlauf sind nahezu bei allen zugelassenen ASM beschrieben worden, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit namentlich für Brivaracetam, Carbamazepin, Cenobamat, Clonazepam, Eslicarbazepinacetat, Ethosuximid, Felbamat, Gabapentin, Lacosamid, Lamotrigin, Levetiracetam, Oxcarbazepin, Phenobarbital, Phenytoin, Pregabalin, Primidon, Stiripentol, Sultiam, Topiramat, Valproinsäure und Zonisamid [
8,
10,
23,
25,
26,
33]. Dabei müssen unterschiedliche Mechanismen mit unterschiedlichen Tragweiten differenziert werden:
1.
Eine aplastische Anämie tritt in aller Regel rasch nach Einsetzen einer diese begünstigenden Pharmakotherapie als Hypersensitivitätsreaktion auf. Die Klassifikation von Nebenwirkungen erfordert die Differenzierung nach unterschiedlichen Typen. Angelehnt an die WHO (Weltgesundheitsorganisation), werden bei Antiepileptika 5 Typen unterschieden [
18]. Die aplastische Anämie gehört dabei zu den Typ-B-Nebenwirkungen. Typ-B-Nebenwirkungen umfassen idiosynkratische Reaktionen, etwa in Form von Dermatosen, Hepatitiden, Agranulozytosen oder Lymphadenopathien. Diese Nebenwirkungen beruhen auf einer klinisch signifikanten Antigen-Antikörper-Reaktion und treten typischerweise akut in der Anfangsphase der medikamentösen Behandlung auf. Es wurden aber auch Fälle beschrieben, in denen aplastische Anämien erst im Verlauf von bis zu 2 Jahren beobachtet wurden [
23]. Vor allem die hohe Inzidenz aplastischer Anämien unter Felbamat hat Aufsehen erregt, wodurch die allzu leichtfertig übernommene Suggestion der Industrie, neue ASM seien immer ein Synonym für besser verträgliche ASM, dauerhaft konterkariert wurde. Die Inzidenz aplastischer Anämien liegt unter dem Einfluss von Felbamat zwischen 1:4000 und 1:8000, was im Vergleich zur Spontanrate einer Risikoerhöhung um das 64fache entspricht [
23]. Beim Vorliegen entsprechender Befunde ist das jeweilige ASM sofort abzusetzen. Die Möglichkeit einer aplastischen Anämie ist der wichtigste Grund für regelmäßige Laborkontrollen, da diese Nebenwirkung im Gegensatz zu fast allen anderen sich schon deutlich vor Auftreten klinischer Symptome bemerkbar machen kann, sodass die Laboruntersuchung unter Umständen von entscheidendem prophylaktischem Nutzen sein kann [
23].
2.
Wesentlich weniger brisant und somit auch auf Dauer nur fraglich engmaschig kontrollbedürftig sind Thrombozytopenien, Leukopenien oder Erythrozytopenien sowie sich allmählich abzeichnende Panzytopenien. Oft ohne klinische Symptomatik verlaufend, motivieren sie aber sicherlich zu anhaltenden Kontrollen. Wann gehandelt werden muss, ist nicht gut definiert. Wir sind sehr gut damit zurechtgekommen, eine kontinuierlich sinkende Zellzahl als wesentlicher anzusehen als ein pauschales Minimum, das keinesfalls unterschritten werden darf [
23].
Es gibt zahlreiche Empfehlungen zu Laborkontrollen vor und während ASM-Therapie. Einige einschließlich der hier in dieser Arbeit empfohlenen sind Tab.
1 zu entnehmen.
Tab. 1
Empfehlungen zur Labordiagnostik vor Beginn einer Pharmakotherapie Erwachsener mit anfallssupprimierenden Medikamenten (ASM)
| Komplettes Blutbild und Aspartat-Aminotransferase (AST), ggf. ergänzend restliche Transaminasen, bei unklaren Situationen zusätzlich Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG) oder C‑reaktives Protein (CRP), Glukose, Kreatinin, Elektrolyte |
Pellock et al., 2008 [ 17] | Zusätzlich Harnstoff, Phosphat, Magnesium, Harnsäure, Eisen, Gesamteiweiß, Serumelektrophorese, Prothrombinzeit, partielle Thromboplastinzeit und bei Hochrisikopatienten Laktat, Pyruvat, arterielle Blutgase, Urinscreening auf organische Säuren, Ammoniak, Karnitin sowie Suche nach weiteren Grundkrankheiten |
Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie 2023 [ 10] | Blutbild, Elektrolyte, Kreatinin, Lipase und Transaminasen vor Beginn und 1 bis 3 Monate nach Beginn der Therapie |
Fröscher und Steinhoff 2012 [ 5] | Blutbild mit Thrombozyten, Transaminasen, alkalische Phosphatase, Kreatinin, ggf. Ergänzung je nach beabsichtigtem ASM, z. B. Natrium vor Oxcarbazepin oder Glukose vor Phenytoin oder Valproat |
Aktuelle Empfehlung | Blutbild einschließlich Thrombozyten, Transaminasen, alkalische Phosphatase, Kreatinin Natrium vor Therapiebeginn mit Carbamazepin, Oxcarbazepin, Eslicarbazepinacetat Glukose und HbA1c vor Therapiebeginn mit Valproinsäure Elektrolytkontrolle zwingend innerhalb von 2 Wochen, weitere Kontrollen 1‑malig nach 1 bis 3 Monaten |
Kürzere Intervalle für Laborkontrollen nach Initiation einer Therapie und längere Intervalle unter stabiler Dauertherapie tragen der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit für das Auftreten laborchemisch erkennbarer Verträglichkeitsprobleme Rechnung, feien aber nicht vor unerwünschten Effekten der Therapie zwischen diesen Intervallen. Daher ist eine Aufklärung über die klinischen Symptome eventuell laborchemisch erfassbarer unerwünschter Effekte essenziell. Die Auswahl der geeigneten Laborparameter sollte den klinischen Befund und die anamnestisch geschilderte Verträglichkeitssituation berücksichtigen. Beispiele für zielgerichtete Labordiagnostik sind die bereits erwähnte Natriumbestimmung im Serum unter Therapie mit Carbamazepin, Oxcarbazepin oder Eslicarbazepinacetat bei erheblicher Müdigkeit, erweiterte Gerinnungsdiagnostik unter Therapie mit Valproat und Hinweisen für eine verstärkte Blutungsneigung oder der Nachweis eines Vitamin-D-Mangels als Begleiterscheinung mit enzyminduzierenden ASM, die in erster Linie, aber nicht ausschließlich für den Mangel an Vitamin D und andere Vitamin- und Hormonmangelerscheinungen verantwortlich gemacht werden [
6,
19,
25,
33]. Besondere individuelle Begleitumstände wie Schwangerschaft, Wachstum (im Kindesalter), Alter, Begleiterkrankungen oder -medikationen wie Kumarine oder direkte orale Antikoagulanzien bestimmen den Umfang und die Auswahl der notwendigen Labordiagnostik. Die voreilige Verlautbarung, dass regelmäßige Laborwertkontrollen bei bestimmten neuen ASM überflüssig seien, hat im Falle von Felbamat – wie erwähnt – verhängnisvolle Konsequenzen nach sich gezogen. Mittlerweile ist bekannt, dass unter Einnahme dieses Wirkstoffs, aber auch anderer ASM gehäuft aplastische Anämien auftreten können, also jene medikationsspezifische Störwirkung, bei der wohl am ehesten regelmäßige Blutbildkontrollen der klinischen Symptomatik vorauszugehen pflegen und daher dazu dienlich sind, solchen schwerwiegenden und mitunter tödlichen Komplikationen frühzeitig vorzubeugen. Für fast alle anderen durch Labordiagnostik erfassbaren Komplikationen durch ASM gilt hingegen, dass die typische klinisch assoziierte Symptomatik eindeutig erkennbar und damit auch rechtzeitig behandelbar ist. Labordiagnostik hat in diesem Zusammenhang dann nur noch bestätigenden Charakter.
Um auf die bereits oben erwähnten Typ-B-Nebenwirkungen zurückzukommen, ist eine wesentliche weitere, labordiagnostisch nachvollziehbare, dennoch aber im Vergleich zu aplastischen Anämien definitiv klinisch rasch erkennbare und adressierbare schwerwiegende unerwünschte Konstellation unter ASM-Therapie die allergische Reaktion einschließlich dermatologischer oder systemischer Symptome und Effekte wie beim Lyell-Syndrom, dem Stevens-Johnson-Syndrom oder auch dem DRESS(„drug rash with eosinophilia and systemic symptoms“)-Syndrom, dessen Definition ja den Nachweis einer Eosinophilie erfordert. Aufmerksamkeit für Letzteres erregte das vor Kurzem zugelassene Cenobamat, in dessen Entwicklungszeit mehrere Fälle von DRESS auftraten, sodass die amerikanische Zulassungsbehörde eine offene Sicherheitsstudie verlangte, in der Cenobamat wesentlich langsamer aufdosiert wurde als in den verblindeten Zulassungsstudien. Da bei über 1300 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern allergische/immunologische Reaktionen ausblieben, erfolgte in den Vereinigten Staaten ebenso wie später in Europa die Zulassung unter der Auflage dieser langsamen Eindosierung [
22,
27]. Die Analogie zu den Erfahrungen mit Lamotrigin und der Konsequenz hinsichtlich der langsamen Aufdosierung [
7,
23,
33] ist offensichtlich. Schwerwiegende Reaktionen wie Lyell-Syndrom, Stephens-Johnson-Syndrom oder DRESS sind unabhängig von Lamotrigin und Cenobamat mit anderen ASM möglich [
14] und sollten stets als Möglichkeit bedacht werden. Erstrangig sind die gute Aufklärung von Patientinnen und Patienten und die Vereinbarung, beim Auftreten dermatologischer Reaktionen daran zu denken, die neu eindosierte Medikation abzusetzen, um eine Eskalation der Symptomatik nicht zuzulassen.
Interessant ist die Frage, ob bei bestimmten Risikokonstellationen für allergisch/immunologische Arzneimittelreaktionen a priori Testverfahren eingesetzt werden sollten, die mit erhöhten Risiken assoziierte Biomarker nachweisen. Seit nachgewiesen wurde, dass bestimmte Histokompatibilitätsantigene (humane Leukozytenantigene [HLA]) mit erhöhten Risiken für eine schwerwiegende allergische Reaktion bei Therapie mit Carbamazepin, Phenytoin, Lamotrigin oder anderen ASM assoziiert sein können [
2,
3,
13,
34], ist diese Diskussion aufgekommen. Angesichts der Preise der kommerziell angebotenen Polymerase-Chain-Reaction(PCR)-Kits ist es aber vermutlich immer noch sinnvoller, Patientinnen und Patienten vorab bei Behandlung mit allergiebelasteten ASM intensiv über die Möglichkeit und die Klinik allergischer Reaktionen aufzuklären, als systematisch diese Kits einzusetzen, zumal der Nachweis z. B. des HLA*3101-Allels lediglich ein Risikomarker ist. Träger dieses und anderer Risikoallele, deren Häufigkeit innerhalb ethnischer Gruppen differiert, können das potenziell allergene ASM durchaus dennoch vertragen. Trotzdem ist der Ansatz grundsätzlich bemerkenswert und weist in eine Richtung präzisionsmedizinischer Bemühungen, die dazu beitragen wird, zukünftig die ASM-Therapie insgesamt effizienter und zielgerichteter gestalten zu lassen.
Unter dem Bild eines systemischen Lupus erythematodes oder anderen vaskulitischen Erscheinungsbildern können, bedingt durch ASM, wie z. B. Phenytoin, Ethosuximid, Primidon, Carbamazepin, Valproinsäure oder Lamotrigin, vorwiegend die Haut und die Gelenke betreffende Symptome auftreten [
23], die bei ungünstigen Verläufen auch über den Auslass des ASM hinaus eine immunsuppressive Therapie erfordern können. Differenzialdiagnostisch hilfreich kann die Bestimmung der Antikörper gegen Doppelstrang-DNS (Desoxyribonukleinsäure) sein.
Traditionell umfassen die Laborkontrollen unter ASM-Therapie auch die Transaminasen. In früheren Jahren, als fast alle Patientinnen und Patienten mit den hochpotent enzyminduzierenden ASM Carbamazepin, Phenytoin oder mit Barbituraten behandelt wurden, ergaben diese Laborkontrollen nahezu regelhaft isoliert erhöhte Werte für die Gamma-Glutamyltransferase (γ-GT), also das „Arbeitsenzym“ der Leber. Unter Enzyminduktion versteht man die medikations- oder substanzabhängige verstärkte hepatische Metabolisierungsrate, die man häufig an der grundsätzlich dann nicht pathologischen Erhöhung der γ‑GT ablesen kann [
23]. Enzyminduktion setzt nach ca. 14 Tagen ein. ASM und andere Medikamente, die hepatisch unter Miteinbeziehung des Cytochrom-P450-Systems metabolisiert werden und enzyminduzierend wirken, können bei der in der Epileptologie üblichen Langzeittherapie zu erheblichen Veränderungen im Hormon- und Vitaminhaushalt führen [
4,
12,
23,
24], die langfristig gesundheitsgefährdend sein können, bedenkt man z. B. das erhöhte Frakturrisiko bei sturzgefährdeten Patientinnen und Patienten mit Epilepsie [
10]. Durch die nochmaligen Kontrollen von Transaminasen und Amylase sollte auch dem Risiko seltener, klinisch zunächst asymptomatischer Pankreatitiden wie etwa unter Bromiden oder Valproat [
26] und Hepatitiden ausreichend Rechnung getragen werden.
Unklar ist, ob bei unauffälligen Kontrollen bei erster und zweiter Kontrolle überhaupt weitere Kontrollen ohne klinische Hinweise für mögliche Störwirkungen erforderlich sind. Dies ist Gegenstand einer Untersuchung, die in den nächsten Monaten im Epilepsiezentrum Kork unternommen werden soll.
Die Empfehlungen zur Labordiagnostik unter chronischer ASM-Therapie sind Tab.
2 zu entnehmen.
Tab. 2
Empfohlene Labordiagnostik während der anfallssupprimierenden Pharmakotherapie. (Nach [
5])
Zumindest im Erwachsenenalter Kontrolle von Blutbild, γ‑GT und ALT ausreichend |
Anpassung nach Befinden des Patienten und Profil der eingesetzten Medikamente |
Blutbild nach 1 bis 3 Monaten, dann alle 3 bis 6 Monate, schließlich jährlich (Hb, Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten) |
Amylase nach 1 bis 3 Monaten |
γ‑GT und ALT 1 bis 3 Monate nach Behandlungsbeginn, dann alle 3 bis 6 Monate und schließlich jährlich analog Blutbild, bei potenziell hepatotoxischen Substanzen wie FBM oder VPA ggf. kürzere Intervalle |
AP 1‑mal/Jahr, ggf. Knochenisoenzym der AP, Knochendichtemessung alle 2 bis 5 Jahre |
Natrium und Kreatinin vor Einnahme von CBZ, OXC, ESL und regelmäßig unter Einnahme |
Kreatinin unter Einnahme rein renal eliminierter ASM wie GBP, PGB oder LEV |
Folsäure 1‑mal/Jahr |
Nicht routinemäßig: Lipide, Gesamteiweiß, Serumelektrophorese, Immunglobuline, Harnsäure, Hormone |
Bestimmung der Serumkonzentrationen von anfallssupprimierenden Medikamenten
Die Bestimmung der Serumkonzentrationen der ASM, im Folgenden der Einfachheit halber „Blutspiegel“ genannt, hat sich in einer Zeit etabliert, in der die Liste der zur Verfügung stehenden ASM wesentlich weniger umfangreich als heute war. Bis zur Einführung von Vigabatrin hatte sich ein jahrelanger Stillstand ergeben. Die damals verfügbaren ASM waren zum großen Teil hochgradig enzyminduzierend (Phenobarbital, Phenytoin, Primidon, Carbamazepin). Durch die Blutspiegelbestimmungen wurde es überhaupt erst möglich, diese Problematik bei Kombinationen solcher ASM nachzuweisen. Die Beobachtung, dass nach verwirklichten Monotherapien aufgrund des Wegfalls der Enzyminduktion effektivere Blutspiegel ermöglicht wurden, war eines der wesentlichen Argumente, dass damals die Monotherapie zum führenden Therapieprinzip erhoben wurde [
21].
Sehr bald wurde ein Blutspiegelbereich definiert, unter dessen unterer Grenze die hohe Wahrscheinlichkeit eines insuffizienten Effekts besteht, während oberhalb seiner Obergrenze mit hoher Wahrscheinlichkeit toxische Störwirkungen zu erwarten sind. Die Bestimmung der Serumkonzentrationen von ASM und die Definition solcher Referenzbereiche intendierten die Rationalisierung der Pharmakotherapie und damit letztlich deren Steuerbarkeit sowie Vereinfachung [
28].
Der Begriff des therapeutischen Bereichs war in den letzten Jahren vielfachen Neubewertungen und vielfachen anderen Vorschlägen zur passenden Begriffsbestimmung unterworfen [
28]. Mittlerweile hat sich der Begriff des Referenzbereichs analog den Empfehlungen der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) [
15] weitgehend durchgesetzt. Die generelle Verlässlichkeit eines solchen Bereichs, der auf alle Patientinnen und Patienten anwendbar ist, war für ältere ASM wie Phenytoin meist gegeben. Mit der Einführung zahlreicher neuer ASM hat sich zwangsläufig die Wertigkeit der Blutspiegel verändert [
10,
16,
28]. Es ist zwar möglich, dass von allen neuen ASM Blutspiegel mit hoher Zuverlässigkeit und Genauigkeit nachgewiesen werden können; für manche ASM liegen aber bei Weitem noch nicht ausreichende Daten zur klinischen Korrelation zwischen Blutspiegeln, Wirksamkeit und Verträglichkeit vor, ganz zu schweigen von Interaktionsstudien bei Kombinationen. Daraus allerdings zu schließen, dass die Blutspiegelbestimmung bei diesen neuen ASM generell nicht erforderlich wäre, ist voreilig und unbewiesen [
28]. Eine solche Schlussfolgerung ist vergleichbar mit der, dass ASM, für die es keine Daten zur Teratogenität gibt, deswegen sicher wären. Beide Fehlschlüsse begegnen uns in der Praxis leider ständig. Dass keine klinisch relevante Verlässlichkeit hinsichtlich der Korrelation zwischen Wirksamkeit, Verträglichkeit und Blutspiegeln für die zuletzt eingeführten ASM Lacosamid, Brivaracetam, Perampanel und neuerdings auch Cenobamat besteht, wurde bereits klar belegt [
9,
29,
30]. Insofern halten wir es inzwischen für zweckmäßiger, von einem typischen oder erwartbaren Bereich zu sprechen und damit den Bereich zu definieren, in welchem bei Anwendung entsprechend den individuellen Dosierungsempfehlungen 90 % der Patientendaten liegen. Dies könnte auch für neuere ASM problemlos angegeben werden.
Werden Blutspiegel in Betracht gezogen, gibt es einige Regeln, die bedacht werden müssen [
26]:
Blutspiegelbestimmungen sind v. a. indiziert zur Abschätzung von möglichen Dosisreserven, als Bestätigung bei Überdosierungs- oder Intoxikationsverdacht, zur Erfassung von Interaktionen und von Blutspiegelschwankungen (z. B. Selbstinduktion eines Medikaments, Gravidität, interkurrente Erkrankungen) und zur Überprüfung der Compliance. Die Blutentnahme sollte in der Regel erst nach Erreichen des Fließgleichgewichts durchgeführt werden und nüchtern erfolgen. Dies ist häufig in der Praxis nicht möglich und bei ASM mit langer Halbwertszeit auch nicht zwingend erforderlich. Insofern ist es pragmatisch einfacher, stets zu vergleichbaren Tageszeitpunkten die Blutspiegel zu bestimmen, da der individuelle therapeutische Bereich ohnehin wesentlich aussagekräftiger als der sog. generelle therapeutische Bereich ist (s. unten). Blutspiegel sind nur sinnvoll und hilfreich bei Bewertung der Messdaten im Rahmen des klinischen Bildes. Die sog. therapeutische Breite unterliegt zum Teil erheblichen interindividuellen Schwankungen. Ein niedriger Blutspiegel, der zu Anfallsfreiheit führt, ist nicht zwingend „subtherapeutisch“ oder gar wirkungslos. Ein „toxischer“ Blutspiegel zwingt zur Dosisreduktion in der Regel nur dann, wenn auch klinisch Verdacht auf eine Unverträglichkeit oder Überdosierung besteht. Dabei gibt es wenige Ausnahmen, wie z. B. Phenytoin, das bei dauerhaften Blutspiegeln von über 20 mg/l Gesamtkonzentration bzw. 2,2 mg/l freiem Anteil auch schleichende toxische Effekte mit nachhaltigen permanenten Folgen haben kann.
Dennoch gibt es nach wie vor national wie international Empfehlungen zum therapeutischen Bereich, auf die hier ohne Abbildung einer weiteren solchen Tabelle verzichtet wird [
10,
15,
20,
26].
Der Referenzbereich von ASM hilft nicht zur Erfassung pharmakodynamischer Interaktionen, also antagonistischer oder synergistischer Mechanismen auf zellularer oder molekularer Ebene, die in der Praxis vermutlich wichtiger sein dürften als bisher angenommen und zu denen wenig gesicherte Daten vorliegen [
28].
Grundsätzliche Empfehlungen zur Bestimmung der ASM-Blutspiegel wurden kürzlich in den Leitlinien mit einer Konsensstärke von 100 % publiziert [
10]:
-
„Nach Erreichen der optimalen Dosis des eingesetzten Anfallssuppressivums zur Bestimmung der individuellen therapeutischen Konzentration (Referenzwert)
-
Auftreten von dosisabhängigen unerwünschten Arzneimittelwirkungen zur Definition der Obergrenze des individuellen therapeutischen Bereichs
-
zeitnah nach Anfällen, wenn diese nach längerer Anfallsfreiheit aufgetreten sind
-
bei vermuteter Intoxikation oder Fehleinnahme
-
bei Hinweisen auf mangelnde Adhärenz
-
im Verlauf einer Schwangerschaft, insbesondere beim Einsatz von Eslicarbazepinacetat, Lamotrigin, Levetiracetam oder Oxcarbazepin
-
bei Leber- oder Niereninsuffizienz, insbesondere bei Nierenersatztherapien
-
bei Dosisänderungen von Anfallssuppressiva mit nicht-linearer Kinetik (z. B. Phenytoin oder Stiripentol)
-
Überwachung von Medikamenten-Interaktionen“
Dies deckt sich weitgehend mit den Empfehlungen nationaler und internationaler Publikationen [
15,
28]. Zu ergänzen ist sicherlich die Situation anfallsfreier Patientinnen und Patienten vor dem Absetzen der Medikation. Dann messen wir die Blutspiegel nach jedem Abdosierungsschritt, um im Falle eines Anfallsrezidivs zu wissen, welche Dosis und welcher Blutspiegel noch ausreichend waren, um weiterhin Anfallsfreiheit zu gewährleisten. Ansonsten kann die Bestimmung der Serumkonzentration nach intensivmedizinisch indizierter Schnellaufsättigung von ASM als Zusatzinformation hilfreich sein.
Werden unerwartete Blutspiegel gemessen, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Indikation zur Blutspiegelbestimmung berechtigt war, um die klinische Konstellation besser beurteilen zu können. Gründe für unerwartete Blutspiegel ergeben sich aus Tab.
3.
Tab. 3
Häufigste Ursachen unerwarteter Blutspiegelergebnisse. (Nach [
5])
Unregelmäßige Medikamenteneinnahme |
Nichtbeachtung des Intervalls zwischen Einnahme und Blutabnahme von Medikamenten mit kurzer Halbwertszeit |
Nichtlineare Kinetik (Phenytoin) |
Interaktionen |
Schwangerschaft |
Leber- und Nierenerkrankungen |
Variabilität der Eiweißbindung |
Verminderte Bioverfügbarkeit |
Konzentrationsbestimmung vor Erreichen des Fließgleichgewichts |
Toleranzentwicklung |
Unterschiedliche Wirkbereiche bei Mono- und Kombinationstherapie |
Störwirkungen durch Metaboliten |
Pharmakodynamisch bedingte anfallssupprimierende Wirkungen oder Intoxikationssymptome |
Unterschiedliche Wirkungs- und Toxizitätsschwellen in Abhängigkeit von Anfallstyp, Epilepsiesyndrom und Lebensalter |
In einer früheren Publikation haben wir 10 goldene Regeln im Umgang mit der Blutspiegelbestimmung vorgeschlagen [
28]. Diese würden wir hier auf 2 Regeln vereinfachen, die essenziell sind:
1.
Bedenken Sie die Möglichkeit der Anwendung eines individualspezifischen therapeutischen Bereichs.
2.
Behandeln Sie die Patientinnen und Patienten und nicht isoliert den Blutspiegel. Treffen Sie niemals Entscheidungen nur aufgrund der ermittelten Serumkonzentrationen. Berücksichtigen Sie die Anamnese, klinische Zeichen und Symptome und weitere relevante Laborinformationen.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.