Welchen Stellenwert hat das Thema psychische Belastung gegenwärtig in der arbeitsmedizinischen Vorsorge- und Beratungspraxis?
Durch die personenbezogene arbeitsmedizinische Vorsorge können individuelle Dispositionen berücksichtigt werden [
4]. Betriebsärzt:innen setzen sich in den Vorsorgeterminen, neben den
üblichen arbeitsmedizinischen Themen, auch mit psychischen, sozialen und psychosomatischen Aspekten auseinander [
12]. Es geht dabei nicht nur um das Erkennen psychischer Belastungen, sondern um einen komplexen Zusammenhang aus Betreuung, Beratung und letztendlich in hohem Maße um die betriebliche Wiedereingliederung von Betroffenen [
12‐
14]. Bei arbeitsplatzbezogenen Ursachen können hierfür – in Absprache mit dem/der Betroffenen – innerbetriebliche Maßnahmen, wie Gesprächsrunden oder Führungskräftegespräche, initiiert oder begleitet werden [
4,
12,
14]. Häufig stehen bereits aufgetretene Beschwerden im Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht so sehr die dafür ursächlichen Belastungen, oder anders gesagt: Psychische Belastungen kommen weniger als solche und als mögliche, zu vermeidende Gefährdungen, sondern über ihre Auswirkungen in den Blick [
15]. Diese Beobachtung korrespondiert mit dem Umstand, dass Betriebsärzt:innen die Sekundär- und Tertiärprävention aufgrund von Fachwissen und ärztlicher Herangehensweise verhältnismäßig naheliegt [
16].
Eine weitere Beratungsaufgabe von Betriebsärzt:innen ist, für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen zu sorgen [
17]: Durch ihre arbeitsmedizinische Tätigkeit kennen sie nicht nur die persönlichen gesundheitlichen (psychischen) Voraussetzungen und Belastungen, sondern auch die Arbeitsplätze der Beschäftigten. Dieses Wissen erweist sich als nützlich, um den Mitarbeitenden individuell zum Zusammenspiel von Arbeitsbedingungen und dessen Ressourcen zu beraten [
9,
16]. Neben allgemeinen und offiziellen Empfehlungen und Leitlinien zur Durchführung einer Vorsorgeuntersuchung, ist auf der Webseite des VDBW und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) ein Anamnesebogen verfügbar, der auf das Thema psychische Gesundheit fokussiert [
18]. Es ist jedoch nicht bekannt, inwieweit der Bogen in der Vorsorge Berücksichtigung findet. In der Praxis zeigt sich, dass oft Angebotsuntersuchungen wie die zur Bildschirmarbeit dafür genutzt werden, um psychische Belastungen zu thematisieren [
3,
13]. In Einzelfällen sind es die Beschäftigten selbst, die das Beratungsgespräch suchen [
2]. Alternativ werden Betriebsärzt:innen auch von anderen betrieblichen Akteuren angesprochen und über psychische Auffälligkeiten informiert [
12,
13].
Auch in den Interviews wurde deutlich, dass der Fokus auf der Sekundär- und Tertiärprävention liege, auch wenn vielfach auf die präventiv ausgerichteten Vorsorgespräche verwiesen wurde. Dies deutet auf einen Selektionseffekt der betriebsärztlichen Arbeit hin, da Ärzt:innen vorranging von Beschäftigten erfahren, die (bereits) ein gesundheitliches Problem haben (E2,3). Expert:in 2 weist darauf hin, dass „wenn es keine Anlässe gibt, dann muss der Betrieb auch keine arbeitsmedizinische Vorsorge anbieten oder gar pflichtmäßig durchführen lassen“ und dann bekämen die Betriebsärzt:innen die Mitarbeitenden auch nicht zu Gesicht. Eine Vorsorge zu psychischen Belastungen am Arbeitsplatz gäbe es nicht (E2). Hauptzugang zu den Beschäftigten sei nach wie vor die Pflicht- und Angebotsvorsorge, bei der die Beschäftigten sowieso kommen müssen. Einige Betriebsärzt:innen bieten zusätzlich eine offene Sprechstunde an, in der sie für alle Mitarbeiter:innen zur Verfügung stehen. Alle Betriebsärzt:innen betonen, dass, wenn Mitarbeitende mit psychischen Themen kommen, sie gerne zu diesem Thema beraten können. Gleichzeitig kennen sie ihre Grenzen und würden bei Bedarf an eine psychologische Beratungsstelle oder an vernetzte Psycholog:innen weiterempfehlen.
Bei den Aussagen zur Primärprävention geht es vor allem um individuelle Prävention. Die Vorsorge wird genutzt, um mit den Beschäftigten über die Lebensgestaltung zu sprechen und dann in Form einer individuellen Beratung Verbesserungspotenziale zu entwickeln (E5) oder Interventionsprogramme anzubieten (E5,6). In Bezug auf strukturelle Ansätze beschreibt eine Betriebsärztin ihre Aufgabe darin, das Thema zu kommunizieren, die Geschäftsleitung aufzuklären, Gelder freigegeben zu bekommen und Überzeugungsarbeit zu leisten (E5). Auch bei der Sekundär- und Tertiärprävention gehe es vor allem um das Individuum: Einbindung beim betrieblichen Eingliederungsmanagement, Zusammenarbeit mit externen Partner:innen, Unterstützung bei Reha-Anträgen oder Empfehlung von Kliniken oder außerbetrieblichen Anlaufstellen (E1,2,5,6).
Bei allen Interviews gilt im Umgang mit psychischen Belastungen: „Alles kann, nichts muss“, wie die Betriebsärzt:innen in den Interviews betonen. Will eine Person nicht über ihre Situation reden, dann werde dies akzeptiert. Gleichzeitig verwenden die meisten Betriebsärzt:innen eine aktive Gesprächsführung, in der sie mal mehr, mal weniger direkt die psychischen Belastungen ansprechen. Dabei zeigen sich zwischen den Betriebsärzt:innen klare Unterschiede in Bezug auf ihr jeweiliges Rollenverständnis – obgleich allen gemein ist, dem Thema wachsende Bedeutung beizumessen. Während sich die einen verpflichtet sehen, Belastungen bzw. Beschwerden aktiv und regelmäßig bei Beschäftigten und Unternehmensführung anzusprechen, legen die anderen mehr Zurückhaltung an den Tag:
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Expertin 1 (E1) berücksichtigt in ihrer Vorsorge die psychischen Belastungen immer: Wenn psychische Belastungen nicht der Hauptfaktor für Beschwerden seien, dann sehe sie darin mindestens einen wichtiger „Co-Faktor“. Sie würde den Anteil von psychischen Aspekten in ihrer Vorsorge mit 60 % einschätzen. Als Begründung führt sie den Mangel an anderen Belastungen an. Eine gute Möglichkeit, über psychische Belastungen zu sprechen, stellten die klassischen Angebots- und Pflichtvorsorgetermine dar. Entweder bleibe im Rahmen des Vorsorgetermins noch genügend Zeit, oder es werde ein zweiter Termin angeboten. Sie frage stets allgemein, wie es Mitarbeitenden gehe, wie sie sich am Arbeitsplatz fühlten, nach ihrem Schlaf‑, Ernährungs- und Bewegungsverhalten, familiären und sozialen Situationen, oder nach weiteren Plänen.
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Bei Experte 2 (E2) besteht der Hauptkontakt zu den Mitarbeitenden durch die etwa alle 3 Jahre stattfindende Pflichtvorsorge: Bei den Vorsorgeuntersuchungen habe der psychische Aspekt einen deutlich niedrigeren Stellenwert als der körperliche. Psychische Belastungen spielten nur eine Rolle, wenn Beschäftigte sie von sich aus ansprächen oder deutliche nonverbale Signale sendeten – etwa, wenn im Rahmen der Vorsorge eine Person gestresst wirke. Wolle diese Person nicht über ihren Zustand reden, sei das Gespräch recht schnell beendet. Da der Kontakt in der Vorsorge in der Regel nur 15–20 min dauere, hielten sich die Möglichkeiten, über psychische Aspekte zu sprechen, in Grenzen. Dann berate er dazu, wie die Person individuell mit der Belastung umgehen könne oder was die nächsten Schritte wären.
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Bei Experte 3 (E3) ist das Thema von Anfang an relevant und präsent: Er bietet eine offene Sprechstunde an, die neben der Vorsorge den Hauptweg zu den Beschäftigten darstellt. Sie würde von den Beschäftigten aktiv aufgesucht und gut angenommen. Auch habe er besondere Verträge mit Unternehmen ausgehandelt, um Zeit zu haben, mit den Beschäftigten über ihre psychischen Belastungen zu sprechen. Er betont dabei, dass er psychische Aspekte stets mitberücksichtige, obwohl in der Vorsorge viele physische Themen an ihn herangetragen würden. Dabei benenne er das Thema „Psyche“ nicht, sondern frage eher indirekt nach. Insgesamt sei Teil seiner arbeitsmedizinischen Vorsorge immer ein Gespräch über psychische Belastungen, und diese haben im Rahmen der Eins-zu-eins-Gespräche auch stark zugenommen.
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Expertin 4 (E4) berichtet, dass die Vorsorge entweder in den Unternehmen selbst oder in der eigenen Praxis durchgeführt würde. Trotz Angebot komme selten jemand freiwillig. Priorität habe, im Vorsorgegespräch zunächst für Vertrauen zu sorgen. Der inhaltliche Fokus läge dann durchaus auf psychischen Belastungen. Diese würden durch Gesprächsangebote, aber auch durch konkretes Fragen ermittelt und machten ca. 50 % der Vorsorge aus. Generell sagt sie, dass das Thema „Psyche“ zunehme. Gerade in Unternehmen, die schon länger von ihr betreut würden, wollten die Mitarbeitenden weniger über Themen wie „Impfstatus“ oder „Hautschutz“ sprechen. Sie nutze die Zeit, um über das zu sprechen, was gerade so anliegt oder die Menschen belastet.
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Laut Expertin 5 (E5) hängt es stark vom Alter ab, ob das Thema „psychische Belastungen“ angesprochen wird: Bei den über 35- bis 40-Jährigen mache es 25 % der Vorsorge aus, bei jüngeren Personen weniger. Angesprochen würde es mit „Drumherum-Fragen“. Bei ihr gehörten die Fragen „Wie geht es dir? Wie bewältigst du die Arbeit?“ immer schon zur arbeitsmedizinischen Vorsorge – zumindest ab einem gewissen Alter. Die häufigste Gelegenheit dafür sei die Pflichtvorsorge, während selten jemand von sich aus auf sie zukomme. Bei Bedarf empfehle sie mitunter, den Kontakt zu (Betriebs‑)Psycholog:innen aufzunehmen.
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Experte 6 (E6) beschreibt, dass er das Thema überhaupt „salonfähig“ gemacht habe und auch Männer als oftmals schwer zu erreichende Gruppe anspreche. Sein Ziel sei die möglichst niederschwellige Platzierung des Themas „psychische Belastung“. Er sagt, dass im Gespräch über die Untersuchungsergebnisse der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei Bedarf zwar auf psychische Belastungen eingegangen werde. Das sei jedoch nicht der Hauptweg und werde nicht routinemäßig gemacht. Bei Bedarf werde ein Fragebogen mitgegeben, um sich in der Sprechstunde darauf zu stützen.
Wie werden Maßnahmen und Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge und der Gefährdungsbeurteilung in der betriebsärztlichen Praxis verknüpft?
Ziel der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ist es, Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für die Gesundheit vermieden bzw. soweit als möglich reduziert wird [
15]. Die arbeitsmedizinischen Regeln weisen darauf hin, dass Arbeitgebende die Erkenntnisse aus den arbeitsmedizinischen Untersuchungen in die Gefährdungsbeurteilung mit einfließen lassen müssen [
6]. Hierzu sollen Betriebsärzt:innen – in anonymisierter Form – Ergebnisse aus ihren Vorsorgeuntersuchungen zu vermuteten Gefährdungen beisteuern [
19]. Darüber hinaus sollen sie ihr fachliches Wissen zu den Prinzipien der arbeitsmedizinischen Vorsorge einbringen, um in einem Unternehmen bereits vorhandene Informationen aus unterschiedlichen Quellen zusammenzuführen und geeignete Wege für die systematische Analyse aufzuzeigen [
20].
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wird von den interviewten Betriebsärzt:innen auf unterschiedliche Weise in ihrer Verantwortung und Kompetenz wahrgenommen. Eine Betriebsärztin sieht ihre Rolle darin, über bestehende Verfahren zu informieren, Instrumente im Arbeitskreis vorzustellen, Kontakt zu externen Dienstleistern aufzubauen, die Ergebnisse durchzusehen und auffällige Ergebnisse zu identifizieren oder Workshops zu moderieren (E1). Zwei Betriebsärzt:innen beschreiben, dass sie Teil der Begehungsteams seien (E1,5). Dabei gehe es vor allem um physische Themen; soziale Themen würden eher indirekt angesprochen, außer sie kommen von den Beschäftigten selbst. Es bestehe das Angebot, im Nachhinein mit den Betriebsärzt:innen einen separaten Termin abzustimmen. Dann nehme es wieder den Vorsorgecharakter an, und es werde geschaut, wie das Individuum unterstützt werden könne. Dennoch können die Erkenntnisse der Vorsorge die Bewertung von Begehungskomponenten unterstützen: Eine Betriebsärztin beschreibt es wie folgt: „Dadurch, dass der Konflikt dann von einigen Mitarbeitern im persönlichen Gespräch ausgesprochen worden ist, konnten wir ganz anders diese Situation beurteilen“ (E1). Oder es könne im Vorfeld eingeschätzt werden, wie die Situation in den Abteilungen sein könnte (E1,4). Eine andere Betriebsärztin sehe ihre Rolle nicht in der Durchführung, aber in der Steuerung des Verfahrens. Von der Ableitung von Maßnahmen würde sie sich abgrenzen (E4). Die meisten Betriebsärzt:innen würden nicht aktiv in den Prozess der Feststellung von Gefährdungen einbezogen, sondern erst (wieder) zu Rate gezogen, wenn die Ergebnisse diskutiert und Maßnahmen abgeleitet würden (E2,5).
Gleichzeitig wurde in den Interviews deutlich, dass die Erkenntnisse der arbeitsmedizinischen Vorsorge in der Regel keinen Einfluss auf die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen hätten (E1–4). Als Grund wird genannt, dass die Gefährdungsbeurteilung stark formalisiert sei und nach einem festen Schema abliefe (E1,2). Bei aller Bedeutsamkeit und Richtigkeit sei auch das Thema „Schweigepflicht und Persönlichkeitsrecht“ bei der Weitergabe erschwerend (E2,3). Eine grundlegende Voraussetzung für die Weitergabe der Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge sei für viele Betriebsärzt:innen, dass sie sich auf eine größere Anzahl an Beschäftigen bezögen (E1,3,4,6).
Aber auch die Erkenntnisse der Gefährdungsbeurteilung werden in der Vorsorge nicht verwendet: Eine überbetrieblich tätige Betriebsärztin stellt fest, dass sie wenige Erkenntnisse aus der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ziehe und diese eine dementsprechend geringe Auswirkung auf ihre arbeitsmedizinische Vorsorge habe (E4). Im Ergebnis ähnlich äußern sich zwei andere Betriebsärzt:innen, wenn sie die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung wie vorab erwartet ausfallen sehen und angeben, dass ihnen somit viele Themen bereits bekannt wären. Sie nehmen dies umgekehrt als Validierung der Ergebnisse wahr (E2,4–6). Experte 6 beschreibt es folgendermaßen: „Das ist dann, sag ich mal, nochmal nen bestärkender Faktor, […] das was wir da sehen in der Gesundheitsumfrage deckt sich mit dem, was wir im Rahmen unserer Vorsorge oder unserer betriebsärztlichen Betreuung erfahren haben.“ Auch schilderte eine Expertin, dass die Erkenntnisse aus den Diskussionen der Gefährdungsbeurteilung mitgenommen würden, um diese bei der Vorsorge „im Hinterkopf zu haben“. Die Erkenntnisse der Gefährdungsbeurteilung unterstützen sie dabei, zwischen individuellen Bedürfnissen und den Bedürfnissen, die mit dem Arbeitsplatz an sich einhergingen, zu trennen (E1). Eine konkrete Auswirkung auf die Arbeit in der Vorsorge habe die Gefährdungsbeurteilung jedoch nicht in dem Sinne, dass jemand ihretwegen komme oder zu ihr geschickt würde (E2,6). Nichtsdestoweniger beschreibt Experte 6, wie regelmäßige Gesundheitsumfragen für das Thema sensibilisieren würden – sei es durch individuelle Gesundheitsreports oder Gesprächsangebote von Betriebsärzt:innen.
Was sind Voraussetzungen, förderliche Bedingungen und Hemmnisse der Berücksichtigung psychischer Belastung in der betriebsärztlichen Vorsorge- und Beratungspraxis?
Ein in der Literatur sehr ausführlich diskutiertes Thema sind die Voraussetzungen der Berücksichtigung psychischer Belastungen in der betriebsärztlichen Vorsorge. Neben Aspekten wie Weiterbildungen, Fortbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen der Betriebsärzt:innen [
4,
10,
21‐
23] wird auch das Schaffen von Kommunikation und Transparenz sowie die Zusammenarbeit im Unternehmen unter verschiedenen Akteur:innen und damit verbunden Verantwortlichkeiten aufgeführt [
8,
21]. Zusätzlich wird die Zusammenarbeit mit der Leitungsebene als förderliche Voraussetzung beschrieben [
22,
24]. Im besten Falle kommen alle Beteiligten regelmäßig in Form eines Steuerkreises zusammen. Darüber hinaus werden Betriebsvereinbarungen zu diesem Thema als förderlich genannt, um das Thema festzuschreiben [
25,
26] sowie Handlungshilfen zu systematischem Vorgehen oder einheitliche Standards [
27]. Gleichzeitig gelten diese Aspekte als Barrieren, sollten sie nicht erfüllt sein. Im Umkehrschluss sind auch die folgend genannten Barrieren durchaus als förderlich zu bewerten, wenn entsprechende Bedingungen gegeben sind. So wird in der Literatur die fehlende fachliche Qualifikation und Kompetenz bei Betriebsärzt:innen angeführt, sich psychischen Belastungen fundiert anzunehmen [
4,
10,
22]. Auch fehlende Ressourcen in personeller, finanzieller und zeitlicher Hinsicht stellen eine der am häufigsten genannten Herausforderungen dar [
10,
17,
27]. Hinzu kommen fehlende Akzeptanz, Tabuisierung und Stigmatisierungen des Themas psychische Belastungen in den Unternehmen [
10,
24,
26] sowie Skepsis und mangelnde Akzeptanz gegenüber den Betriebsärzt:innen [
26]. Hier spielt auch die Unternehmensgröße eine Rolle: Je größer das Unternehmen, desto wahrscheinlicher ist die Präsenz von Betriebsärzt:innen und deren Wirken. In kleineren Unternehmen sind sie aufgrund ihrer begrenzten Einsatzzeiten weniger bekannt und seltener anzutreffen und zu erreichen [
1,
13,
28].
In den Interviews wurden viele ergänzende, aber auch ähnliche Aspekte deutlich. So wurde beispielweise auf den externen Druck von außen (z. B. durch die Gewerbeaufsicht [E4] oder Gesetzesänderungen [E2–4]) verwiesen, die den Umgang in den Unternehmen vorantreibe oder auch das Interesse an einer höheren Arbeitgeberattraktivität aufgrund des Fachkräftemangels (E1,2,5). Ebenfalls werden interne und externe Beziehungen und Netzwerke genannt, die innerhalb des Unternehmens den Rücken stärken. Das können z. B. eine entschlossen handelnde Führungsebene, eine konstruktiv und proaktiv wirkende Mitarbeitendenvertretung oder ein gut ausgestatteter und mit Legitimation versehener Steuerkreis sein [E1–6]. Fehlen Betriebsärzt:innen solche positiv besetzten internen Andockstellen gänzlich, gilt das als sehr hinderlich (E4,5). Vor allem, wenn Führungskräfte sich nicht mit dem Thema „Psyche“ auseinandersetzen wollen, fehlt Betriebsärzt:innen eine wichtige Instanz (E3,6). Multiplikator:innen, die das Thema intern an die Beschäftigten kommunizieren, werden umgekehrt als förderlich gesehen (E1,5,6).
Die Interviewten beschreiben durchweg, dass beim Thema psychische Belastungen nach wie vor Stigmatisierungen, Unsicherheiten und Begriffsunklarheiten vorherrschen, sowohl bei den Beschäftigten als auch in den Führungsebenen (E1–5). Voraussetzung für den Umgang mit psychischen Belastungen sei, dass es sich nicht um ein Tabu-Thema handle, was durch Aufklärung, Kommunikation und Beständigkeit erreicht werden könne (E5,6). Laut den interviewten Betriebsärzt:innen habe auch die Branche und teilweise der damit verbundene Beschäftigungstyp einen förderlichen oder hemmenden Einfluss: In sozialen Branchen sei das Thema von vorne herein anders und stärker präsent als in technikdominierten Branchen [E2,4,5]. In den Interviews wird auch auf das Thema „Ressourcen“ eingegangen, sowohl in Bezug auf Einsatzzeiten (E1–6) als auch mit Blick auf das verfügbare Budget. Die finanziellen Mittel würden oft lediglich dafür reichen, „prüfsicher“ zu arbeiten; die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen müsse deshalb – sofern sie überhaupt angegangen werde –möglichst kostengünstig umgesetzt werden (E1,3–5). Mit den Einsatzzeiten hängt auch die Erreichbarkeit zusammen (E2,4–6), wie besonders die überbetriebliche Betriebsärzt:innen betonen (E2,5,6). Ein gutes Mittel sei es, eine offene Sprechstunde anzubieten (1,3,6). Für deren Erfolg und die Akzeptanz der Arbeit der Betriebsärzt:innen seien ihre Bekanntheit und ein gewisses „Standing“ im Unternehmen essenziell (1,3–6). Die Vorsorge sollte akzeptiert und etabliert sein, was u. a. durch positive Mund-zu-Mund-Propaganda gut zu erreichen sei (E1,3). Auch die unternehmensinterne Öffentlichkeitsarbeit im Intranet oder Mitarbeiterzeitungen trügen zur Bekanntheit bei (E1,5).
Ein Aspekt, der in der Literatur bisher nicht beachtet wurde, ist das Thema „Beständigkeit“. Gerade bei überbetrieblichen Betriebsärzt:innen werde eine gewisse Fluktuation beschrieben, die zu kürzeren Betreuungszeiten führe (E3,4). Diese wirkten sich wiederum negativ auf das Vertrauen und die Bekanntheit der Betriebsärzt:innen aus und engten somit deren Handlungsspielraum ein. Hemmend wirke außerdem, wenn Betriebsärzt:innen als „namen- und gesichtslose Doktoren“ ständig wechselten, keine persönliche Beziehung aufbauen könnten oder als Institution gar nicht bekannt seien (E1,3–5). Die niedergelassenen, überbetrieblichen Betriebsärzt:innen sehen es allerdings z. T. als Vorteil an, dass sie sich aufgrund ihrer Unabhängigkeit die Unternehmen aussuchen könnten, für die sie arbeiteten. Dies erlaube ihnen, z. B. in Vorgesprächen ihre Arbeitsbedingungen auszuhandeln und in diesem Rahmen auf Kontinuität wert zu legen (E3,4). Der allgemein wahrgenommene Betriebsärzt:innenmangel spiele ihnen insofern zu, dass sie ihren Zielen und Ansprüchen nachgehen könnten und selbst den Kündigungsfall nicht fürchten müssten (E3). Der Vorteil der festangestellten Betriebsärzt:innen wird wiederum mit einer dauerhaften Präsenz und Stabilität der Anlaufstelle beschrieben, die Kontinuität und Bekanntheit förderten (E5,6).
Zwei Betriebsärzt:innen betonen ihr Verständnis dafür, dass sich Beschäftigte bei Problemen aller Art, d. h. auch bei psychischen Problemen zunächst lieber an ihre Hausärzt:innen wenden würden (E1,2). Türen öffneten sich erst, wenn Vertrauen in die Betriebsärzt:innen und deren Mehrwert vorliege (E3–6). Vertrauen werde auch über Gespräche und persönliche Beratungen aufgebaut, sowohl bei den Unternehmen, als auch bei den Beschäftigten. Wichtiger Aspekt dabei sei die Schweigepflicht (E2–5). Als förderlich in der Kommunikation gelte, psychische Belastungen anzusprechen, ohne sie als solche zu benennen (E3,5). Dabei sei es für die Gesprächsführung wichtig, gezielt zu fragen und ein Verständnis für nonverbale Kommunikation zu entwickeln (E1,3–5). Man müsse aber auch erkennen, wenn jemand nicht darüber sprechen wolle und dies dann dabei belassen (E1,4).
Neben Faktoren wie der notwendigen Qualifikation von Betriebsärzt:innen auf diesem Gebiet (E1–5), wird auch in den Interviews darüber nachgedacht, inwiefern die Beschäftigung mit diesem Gebiet überhaupt zum eigentlich Auftrag gehöre. Liege kein Auftrag von den Unternehmen oder von den Beschäftigten selbst vor, gebe es keinen unmittelbaren Anlass zu handeln (E2–6). Es gebe oftmals externe Anbieter, die sich um die Beurteilung dieser Art von Gefährdung kümmerten oder interne Akteure wie die Fachkraft für Arbeitssicherheit. Die Betriebsärzt:innen würden in diesen Fällen häufig nicht oder nur am Rande einbezogen (E2,4,6).
Albrod [
29] thematisiert, dass manche Betriebsärzt:innen möglicherweise nicht ausreichend motiviert sind, die klassischen Aspekte der Arbeitsmedizin um psychische Aspekte zu erweitern. In dem Zusammenhang ist es von großer Wichtigkeit, festzuhalten, dass sich die Beurteilung psychischer Belastungen für Betriebsärzt:innen mithin als neue Herausforderung darstellt. Sie entzieht sich in der Herangehensweise dem Muster der klassifizierenden Arbeitsplatzbeobachtungen [
30]. Betriebsärzt:innen können jedoch für eine angemessene Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen mitverantwortlich gemacht werden [
27], weil sie prinzipiell ihrem Aufgabengebiet zugeordnet werden kann [
31]. Die SiFa-Langzeitstudie zeigt bei 170 Betriebsärzt:innen, dass diese sich nicht immer ausführlich mit der Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen beschäftigen und sich z. B. gegenüber den Fachkräften für Arbeitssicherheit eine weniger wichtige Funktion zuschreiben [
2,
5]. Dabei gilt es nach Auffassung der Betriebsärzt:innen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Beratungsfunktion, auch gegenüber anderen den Mut zu haben, Wissen und Erfahrungen zum Wohle der Beschäftigten einzubringen [
32]: Betriebsärzt:innen benötigten deshalb ein entsprechendes Selbstverständnis, um als Interessenvertreter:innen des Gesundheitsschutzes aufzutreten. Sie sollten ein Problembewusstsein und eine spezifische Haltung gegenüber psychischen Belastungen einnehmen und danach handeln. Dabei müssten sie sich nicht immer auf Vorschriften und Standards beziehen, sondern eher auf ihr Fachwissen und ihre Erfahrung vertrauen [
27].
Auch aus den Interviews geht hervor, dass „psychische Belastungen“ einen selbstverständlichen Platz in der arbeitsmedizinischen Arbeit einnehmen sollten (E1). Betriebsärzt:innen müssten sich als geeignete Ansprechperson im Themenfeld Gesundheit, speziell auch für psychische Gesundheit, sehen (E6) und sich proaktiv dafür einsetzen, dass ihnen diese Aufgabe zugetraut und zugeschrieben wird (E5,6). Einige der befragten Betriebsärzt:innen beziehen sich klar auf ihre Rolle als Anstoßende, Beratende oder Aufklärende aufgrund ihrer ärztlichen Erfahrungen (E2,3,5). So sagt eine Betriebsärztin, dass sie nicht warte bis sie gefragt werde, sondern das Thema selber auf den Tisch bringe (E5). Auch ein anderer Betriebsarzt beschreibt, dass es ihm von Anfang an wichtig sei, dass psychische Belastungen als arbeitsmedizinischer Aspekt nicht von anderen Akteur:innen im Unternehmen besetzt würde (E6). Die übrigen beschreiben ihre Rolle als eher passiv: Workshops zur Gefährdungsbeurteilung würden z. B. nicht offensiv beworben, wenn sie nicht expliziter Teil des Auftrags wären (E2,3).
Die Betriebsärzt:innen beschreiben, dass das oben geforderte Selbstverständnis unter den Kolleg:innen nicht flächendeckend vorhanden sei. Eine Expert:in drückt es so aus: „Wie gesagt, […] das ist ja auch kein Vorwurf, aber es gibt so Kollegen, die machen gerne Vorsorge. Die sitzen halt am liebsten in so ’nem Zimmer und da kommt immer einer und den beraten die. Da ist ja auch typabhängig“ (E4). Ein Betriebsarzt beschreibt, dass gerade in der Vorsorge psychischer Belastungen die Kommunikation einen zentralen Aspekt ausmache. Betriebsärzt:innen sollten seiner Ansicht nach Interesse daran haben, ihre Kommunikationsfähigkeit zu schulen, „damit die Leute dort abgeholt werden, wo sie stehen“ (E1,4). Ein anderer Betriebsarzt sagt dazu, dass es ihm immer wieder schwerfalle, Unternehmensführungen offen mitzuteilen, dass Primärprävention unumgänglich sei und wie sie umsetzt werden könne (E2). Deshalb sei man in einigen Fällen erleichtert, wenn diese Aufgabe von anderen übernommen werde (E1,2).