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Erschienen in:

Open Access 01.05.2025 | Arbeitsmedizin | Originalien

Das professionelle Selbstverständnis von Betriebsärzt*innen

Eine Sekundäranalyse qualitativer Studien

verfasst von: Dr. Christine Preiser, M.A., Natalia Radionova, M.A., Monika A. Rieger, Prof. Dr.

Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie | Ausgabe 3/2025

Zusammenfassung

Hintergrund

Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind ein multidisziplinäres Feld, in dem Betriebsärzt*innen (BÄ) laut Professionstheorien die einzige Profession sind. Bisher ist wenig über das professionelle Selbstverständnis von BÄ bekannt. Diese Studie befasst sich mit der Forschungsfrage: Was lernen wir aus der Sekundäranalyse qualitativer Daten über das professionelle Selbstverständnis von BÄ?

Methoden

Wir werteten qualitative Daten aus drei früheren Studien des Instituts im Zuge einer Sekundäranalyse erneut aus. Die Studien hatten verschiedene thematische Ausrichtungen: das Verhältnis von BÄ und Hausärzt*innen, die Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb und die Zurverfügungstellung und Inanspruchnahme der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Die Originaldaten wurden 2009–2012 erhoben. Die Sekundäranalyse basierte auf fünf Fokusgruppendiskussionen und einem Interview mit BÄ in Deutschland. 23 BÄ sind Teil der Sekundäranalyse. In allen Daten wurde das professionelle Selbstverständnis von BÄ thematisiert, stand aber nicht im Fokus der Studien. Wir wendeten das integrative Basisverfahren an, um die Daten feinsprachlich erneut auszuwerten.

Ergebnisse

BÄ kritisierten das fehlende Wissen über ihre Arbeit bei anderen Stakeholder*innen. Sie beschrieben mehrere Arbeitsstile von BÄ innerhalb von Betrieben: kämpferische, aushandelnde und zurückgezogene BÄ. Sie positionierten sich zuallererst als Ärzt*innen und nutzten die ärztliche Schweigepflicht und Ethik, um sich gegen Instrumentalisierungsversuche durch Dritte abzugrenzen. Sie diskutierten die Bedenken der Beschäftigten, BÄ könnten auf Seiten der Arbeitgebenden stehen. Sie machten deutlich, dass ihre Arbeit zwar teilweise vom Willen der Arbeitgebenden abhänge in Arbeitsmedizin zu investieren. Die Weisungsfreiheit von BÄ mindere dies aber nicht.

Diskussion

BÄ unserer Studie thematisierten ein „status triangle dilemma“. Wir identifizierten fünf Strategien, mit denen sie das Dilemma navigieren: eine pragmatische Orientierung, die vertragliche Gestaltung der Rahmenbedingungen, das Bewerben des Nutzens der betriebsärztlichen Arbeit, die Selbstpositionierung als Ärzt*innen, und das Umdeuten des Dilemmas in eine einzigartige Kompetenz. Letzteres kann nicht nur als eine Einladung verstanden werden, die Zukunft der Arbeitsmedizin zu diskutieren, sondern auch der Frage nachzugehen, was andere medizinische Fachrichtungen von BÄ lernen können, um mit Rollenkonflikten umzugehen und Handlungsstrategien zu gestalten.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Auch wenn Arbeitsbedingungen sich ständig wandeln, bleibt die Wechselbeziehung zwischen Arbeit und Gesundheit bestehen [1]. Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, spielt die Arbeitsmedizin eine wichtige Rolle bei der Bewältigung dieser Wechselbeziehung. Arbeitsmedizinische Dienste unterscheiden sich weltweit in Bezug auf ihre Hauptziele, ihre Struktur, ihre Verwaltung und ihre Funktionen. Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz sind ein multidisziplinärer Bereich, dessen Akteur*innen häufig unter dem Oberbegriff „Akteur*innen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes“ zusammengefasst werden [25]. In Deutschland ist allen Betriebsärzt*innen gesetzlich garantiert, dass sie in der Ausübung ihrer Tätigkeit weisungsfrei sind und wegen der Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben nicht benachteiligt werden dürfen (§ 8 ASiG, [6]). Jeder Betrieb hat einen Betriebsarzt oder eine Betriebsärztin zu bestellen, wenn das Gesetz dies vorsieht [6]. Betriebsärzt*innen (BÄ) haben Arbeitgebende in allen relevanten Fragen des Arbeitsschutzes, der Unfallverhütung und in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen (§ 3 ASiG, [6]). Das Aufgabenspektrum der BÄ ist breit gefächert und umfasst die Untersuchung, Beurteilung und Beratung von Arbeitnehmer*innen sowie die Begehung von Arbeitsplätzen (§ 3 ASiG, [6]).
In Professionstheorien sind Ärzt*innen ein wesentlicher Bezugspunkt, wenn es um die Definition von Professionen geht: Gemeinwohlorientierung, Altruismus oder beruflicher Verhaltenskodex, Berufsethik, eine gemeinsame berufliche Identität mit gemeinsamen Werten und Rollendefinitionen, berufliche Autonomie, hohes Sozialprestige, Reputation und soziale Wertschätzung werden als charakteristische Merkmale von Professionen genannt [7, 8]. Laut Professionstheorien stellen BÄ somit als Ärzt*innen als einzige Akteur*innen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes eine Profession dar. Von den verschiedenen Akteur*innen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes dürfen nur BÄ als Ärzt*innen eine medizinische Diagnose stellen und sind die Gatekeeper zu den Möglichkeiten und Einschränkungen, die mit den Kategorisierungen „gesund“ und „krank“ und dem dazwischenliegenden Spektrum verbunden sind [9].
Ethische Überlegungen [10, 11] und Modelle wie das CanMeds-Framework [12] liefern detailliertere Konzepte von „guten Ärzt*innen“ und helfen angehenden BÄ, ein professionelles Selbstverständnis zu entwickeln und in dieses hineinzuwachsen. Bislang gibt es jedoch nur wenige Untersuchungen, die sich mit dem professionellen Selbstverständnis von BÄ aus deren eigener Perspektive befassen. Eine Studie aus Deutschland zeigte die Diskrepanzen zwischen der positiven Selbstwahrnehmung von BÄ im Gegensatz zu ihrer Fremdwahrnehmung durch Hausärzt*innen und Reha-Ärzt*innen [13].
Um das professionelle Selbstverständnis von BÄ zu verstehen, haben wir qualitative Daten aus drei früheren Forschungsprojekten [1416] neu analysiert. Diese Studie befasst sich mit der folgenden Forschungsfrage: Was können wir aus der Sekundäranalyse von qualitativen Daten über das professionelle Selbstverständnis von BÄ lernen?

Methoden

Studiendesign

Sekundärdatenanalyse (SDA) bezieht sich auf die Analyse von zuvor erhobenen quantitativen oder qualitativen Daten, die von anderen Forschenden und/oder mit neuen Forschungsfragen und/oder anderen Methoden der Datenanalyse erneut analysiert werden [17]. Sie stellt eher eine Strategie zur Zusammenstellung empirischer Daten als eine Methode der Datenanalyse an sich dar [18]. Bei der SDA können empirische Daten aus mehreren Projekten kombiniert werden, was den Forschenden die Möglichkeit gibt, Forschungsfragen anhand größerer Datensätze zu untersuchen und gleichzeitig Zeit und Ressourcen zu sparen [18]. Für diesen Artikel wurden qualitative Daten aus drei unserer eigenen Forschungsprojekte zusammengetragen und unter einer neuen Forschungsfrage und mit einer anderen Analysemethode ausgewertet.

Stichprobe

Tab. 1 beinhaltet einen Überblick über die primären Studiendesigns der drei ursprünglichen Studien. Wir präsentieren in diesem Artikel eine gepoolte Stichprobe.
Tab. 1
Überblick über die primären Studiendesigns
 
Studie 1
Studie 2
Studie 3
Thema
Zusammenarbeit zwischen HÄ und BÄ
Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb
Zurverfügungstellung und Inanspruchnahme der arbeitsmedizinischen Vorsorge
Studiendesign
Qualitatives Design mit einem Datenformat
Qualitatives Design mit zwei Datenformaten
Mixed Methods Design
Jahr der Datenerhebung
2009
2011
2012
Veröffentlichungen mit Peer-Review
[14, 20]
[15, 21]
[16]
Daten
3 FGD (BÄ, HÄ die auch als BÄ arbeiteten, HÄ)
2 FGD (BÄ)
8 Interviews (1 BA und 7 weitere Expert*innen)
Dokumente
Standardisierte Befragung (BÄ, Arbeitgebende)
7 FGD (nur BÄ, BÄ und ein Sicherheitsingenieur, nur Beschäftigte)
In die SDA eingeschlossene Daten
1 FGD (nur BÄ)
2 FGD (BÄ)
1 Interview (BÄ)
2 FGD (nur BÄ, BÄ und ein Sicherheitsingenieur 1)
FGD Fokusgruppendiskussion,  Betriebsärzt*innen,  Hausärzt*innen
1Der Sicherheitsingenieur ist in der Stichprobenbeschreibung nicht aufgeführt
Die Stichprobe besteht aus 23 BÄ, von denen 4 BÄ sowohl an Studie 1 als auch an Studie 2 teilnahmen. In allen drei Studien wurden individuelle soziodemografische Merkmale über Kurzfragebögen abgefragt. Diese Kurzfragebögen unterschieden sich, sodass aus den einzelnen Studien unterschiedliche Hintergrundinformationen für die SDA vorliegen. Die gepoolte Stichprobe besteht aus 8 Frauen und 15 Männern. Einige der BÄ arbeiteten in großen Unternehmen, andere in kleinen und mittleren Unternehmen im öffentlichen Sektor und in verschiedenen Industriezweigen in Baden-Württemberg (23/23 Datensätze). 18 BÄ arbeiteten in Vollzeit als BÄ, 1 BA arbeitete in Teilzeit als BA und für 4 BÄ fehlen Angaben zur Arbeitszeit. Die BÄ waren zwischen 35 und 64 Jahre alt mit einem Durchschnittsalter von 49,3 Jahren (19/23 Datensätze). Die Berufserfahrung in der Arbeitsmedizin reichte von 3,5 bis 35 Jahren, mit einer mittleren Dauer von 19 Jahren (22/23 Datensätze). In den Fragebögen wurde nicht nach der ethnischen Zugehörigkeit und nicht nach Migrationsgeschichte gefragt, aber alle Studienteilnehmer*innen wurden retrospektiv von den Autor*innen als weiß und ohne Migrationsgeschichte eingestuft [19].

Datenerhebung

In den ursprünglichen Studien wurden BÄ als Expert*innen für die Schnittstellen zwischen Hausärzt*innen und BÄ (Studie 1), psychische Gesundheit am Arbeitsplatz (Studie 2) und die Umsetzung der damaligen Neuregelung der ArbMedVV (Studie 3) angesprochen (Tab. 1 für einen Überblick). Die Daten in den drei Studien wurden innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums mit derselben Methode in derselben Region innerhalb derselben Berufsgruppe erhoben. Daher sind die Daten ähnlich strukturiert und lassen sich gut vergleichen. Alle Daten hatten sich als reich an Selbstreflexionen und Selbstpositionierungen der BÄ erwiesen. Dies führte zu einer datengesteuerten Entwicklung der Forschungsfrage und des Designs dieser SDA.
Bei der Zusammenstellung der Daten im Rahmen der SDA mussten wir entscheiden, welche Daten für die SDA relevant waren [18]. Wir schlossen alle qualitativen Daten ein, die die eigenen Perspektiven der BÄ erfassten, was zu einem neuen Datensatz von 5 Fokusgruppendiskussionen (FGD) und 1 Interview führte.

Datenanalyse

In allen drei Studien wurde eine Qualitative Inhaltsanalyse nach Schreier [22] durchgeführt und Kategoriensysteme entwickelt. Alle drei Kategoriensysteme enthielten die induktive Kategorie „Selbstwahrnehmung von BÄ“, die ursprünglich in allen drei Studien aufgrund der jeweils themenorientierten Forschungsfragen nicht berücksichtigt wurde. Die mit dieser Kategorie kodierten Datenabschnitte bildeten die Grundlage für unsere SDA. NR und CP gruppierten die Interviewabschnitte thematisch. Anschließend überprüfte NR alle Transkripte als Ganzes, um fehlende Dimensionen zu ergänzen. Es wurden nur wenige zusätzliche Daten gefunden und dem neuen Datensatz hinzugefügt.
In einem zweiten Schritt wurden die Textpassagen von NR mit dem integrativen Basisverfahren [23] analysiert. Diese rekonstruktiv-interpretative Methode ermöglicht, implizite Strukturen durch die Analyse von Semantik, Syntax und Metaphern zu rekonstruieren. Als Analyseheuristiken wählten wir Agency und Positionierung [23], da sich diese als besonders vielversprechend erwiesen, um den Blick von BÄ auf sich und ihre erlebten Handlungsspielräume zu verstehen. Zunächst wurden alle Textpassagen zeilenweise interpretiert und anschließend alle Analysen miteinander verglichen, um zentrale Motive und Thematisierungsregeln zu identifizieren. Zur Qualitätssicherung wurden die Analysen kontinuierlich mit CP und mit MAR besprochen [23]. Die Darstellung dieser Studie folgt den Standards for Reporting Qualitative Research (SRQR; [24]).

Ergebnisse

Nachfolgend stellen wir wiederkehrende Muster aus allen drei Studien vor. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Rollen der BÄ und die Spannungen, die zwischen diesen Rollen entstehen.

(Un‑)Sichtbarkeit der BÄ

Mehrere BÄ waren bestrebt, den Stakeholder*innen in den Unternehmen die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit zu erläutern und ihre Aufgaben und Prioritäten gegenüber dem Management klar zu kommunizieren und zu begründen. Einige der BÄ betonten entsprechend ihre Sichtbarkeit als medizinische Berufsgruppe im Unternehmen, z. B. durch ihr Auftreten und ihre Ansprechbarkeit als Ärzt*innen in allen Gesundheitsfragen:
„Wir sind klassische Werksärzte in einem Großbetrieb und sind von morgens bis abends da und behandeln auch Krankheiten. Sind auch ganz bewusst weiß gekleidet und sind damit als Ärzte in der Arzt-Patienten-Beziehung für die Mitarbeiter in allen Gesundheitsfragen, seit 20 Jahren, hier präsent.“ (Interview, Studie 2).
Andere gaben der Unternehmensleitung proaktiv Rückmeldung über ihre Leistungen, auch in Form von „Tätigkeitsberichten(FGD 1, Studie 3). Andere erschlossen neue Arbeitsbereiche oder Themen zur Ergänzung ihres beruflichen Portfolios, beispielsweise beim Aufbau einer Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb, um die Zunahme psychischer Erkrankungen aufzufangen:
„Also wir sagen, [wenn eine Person psychisch erkrankt], das Problem ist ein Problem, das ist erkennbar für mehrere Beteiligte, also nur dann lohnt es sich auch für uns einzusteigen. Im Grunde freue ich mich, dass es etwas zu tun gibt für uns. Das ist ja ein Handlungsfeld, was uns rechtfertigt. Und ich freue mich natürlich auch, wenn wir etwas dazu beitragen können, dass es den Leuten hinterher bessergeht.“ (FGD 1, Studie 2).

„Kämpfer*in“, „Verhandlungsführer*in“, …

In allen drei Studien äußerten die BÄ die Notwendigkeit, ihre Tätigkeit den aktuellen Veränderungen und Anforderungen der Arbeitswelt anzupassen, aber auch ihre Arbeit gegenüber Beschäftigten, Arbeitgebenden und Ärzt*innen außerhalb der Arbeitsmedizin kontinuierlich zu legitimieren. Die BÄ betonten eine ganzheitliche und umfassende Orientierung als spezifische Stärke der Arbeitsmedizin. Sie verstanden dies als einen Balanceakt zwischen der Organisation als Ganzes, den Anforderungen des konkreten Arbeitsplatzes und den individuellen Fähigkeiten, Kontexten und dem Gesundheitszustand der Beschäftigten. Wiederholt gaben die BÄ an, dass sie ihren eigenen Auftrag in Abhängigkeit von den vorhandenen Strukturen anpassten. In unseren Daten wurde das Bild der BÄ als „Kämpfer*innen“ und als „Verhandlungsführer*innen“ erkennbar.
Das Bild der „Kämpfer*innen“ beinhaltete Metaphern über die Anwendung von Druck, direkte Konfrontation und eine einsame Position, während das Bild der „Verhandlungsführer*innen“ Metaphern über Verständnis, Dialog und einen langen Atem für Veränderungen beinhaltete:
„[…] ein Stück weit den Unternehmer abzuholen und zu sagen: Was sind denn die Dinge, die sie drückt, ja. Und einfach auch zu gucken, wo … oder auch selber dann zu erfahren, wo gibt es in dem Unternehmen Probleme, und darüber mit dem Unternehmen ins Gespräch zu kommen und auch letztendlich mal die eigene Sichtweise anzubieten. […] – auch gewisse Stimmungen oder gewisse Blickwinkel in ihrem Unternehmen zu zeigen, die ihnen vielleicht selber verborgen sind in ihrer Glaskuppel oben im obersten Stock, ja.“ (FGD 2, Studie 3).
Die Bilder beschrieben eine allgemeine und unterschiedliche Arbeitsweise. Im Ergebnis ging es aber in beiden Fällen um eine transformative Kraft durch das Schaffen von notwendigen Denkweisen und Strukturen. Die BÄ gaben an, sich einen Ruf im Unternehmen zu erarbeiten, der auf profundem unternehmensspezifischem Wissen und Netzwerken beruht, ohne in diesen gefangen zu sein. Außerdem positionierten sich die BÄ in beiden Bildern als der Struktur und Kultur des Unternehmens zugehörig und gleichzeitig als außerhalb eben dieser Struktur und Kultur stehend. Die an den Studien teilnehmenden BÄ beschrieben aber auch Kolleg*innen, die keinem der beiden Bilder entsprachen, sondern den Weg des geringsten Widerstands wählten, statt zu kämpfen oder zu verhandeln. Die BÄ sprachen dies meist an, um sich von dieser Strategie abzugrenzen und sich demgegenüber selbst als Kämpfer*innen oder Verhandlungsführer*innen zu positionieren.

… aber in erster Linie Ärzt*innen

Die BÄ schrieben sich mehrere Rollen zu. Sie sahen sich in der Rolle der Beratenden für Beschäftigte und Arbeitgebende, in der Rolle der Ärzt*innen und in der Rolle der Netzwerker*innen, die Partner*innen innerhalb des jeweiligen beruflichen Umfelds und darüber hinaus zusammenbringen, um Probleme zu lösen. Sie sprachen wiederholt Instrumentalisierungsversuche an:
„BÄ 1: das instrumentalisiert Werden oder dass es mehr oder minder versucht wird, das werden wir von der Personalabteilung, das werden wir vom Betriebsrat, das werden wir von den Mitarbeitern, das werden wir eigentlich von allen Fraktionen oder zumindest versucht man das […]
BÄ 4: auch wenn die [Arbeitgebenden] genau wissen, dass man an eine Schweigepflicht gebunden ist, man versucht es halt immer mal wieder. Und oft gerade, wenn man sich lange kennt, denn mit dem Betriebsarzt geht man ja schon lange essen und dann kann man doch mal hören, was der oder jener so eigentlich wirklich hat, ob der depressiv ist, wenn man ihn doch abends im Theater gesehen hat oder solche Geschichten. Und das ist schon durchaus unangenehm, finde ich.“ (FGD 2, Studie 3).
Ein gemeinsamer Nenner in den Erzählungen war, dass die BÄ sich stets als loyal gegenüber den ethischen Grundsätzen, Normen und Vorschriften der Arbeitsmedizin und damit in erster Linie als Ärzt*innen positionierten. Dies helfe ihnen auch, sich gegen Versuche der Arbeitgebenden zu wehren, sie zu instrumentalisieren oder Informationen zu erhalten, die unter die ärztliche Schweigepflicht fielen.
Der Zweifel am Einhalten der ärztlichen Schweigepflicht war in allen drei Studien ein wichtiger Bezugspunkt und wurde auf vielfältige Weise angesprochen. Ein*e Interviewpartner*in positionierte BÄ als „die einzige Oase [der Vertraulichkeit]“ (Interview, Studie 2) innerhalb des Unternehmens und stellte damit BÄ als schützenden Raum für die Beschäftigten dar. Die BÄ sahen Vertrauen als etwas, das in einem langfristigen Prozess aufgebaut werden muss, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Beschäftigte sich ihre BÄ nicht aussuchen können und der betriebsärztliche Kontakt zu Beschäftigten – mit Ausnahme von Langzeit- und chronisch Erkrankten – selten sei.
BÄ betonten ihre Identität und Rolle als Ärzt*innen auch, indem sie sich gegenüber anderen Ärzt*innen positionierten. Sie schrieben sich selbst eine langfristige, nachhaltige und auf das Arbeitsleben ausgerichtete Sicht auf die Einzelnen zu:
„[…] die einzige Medizin, die […] nachhaltig in die Zukunft guckt. Andere Medizin behandelt Symptome, kuriert akute Störungen, aber blickt längst nicht so, über so einen langen Zeitabschnitt. Sondern wir wollen ja sozusagen nachhaltig die Menschen am Arbeitsplatz arbeitend halten und darin sie unterstützen, und das ist ein Blickwinkel, den eigentlich keine andere medizinische Profession hat.“ (FGD 1, Studie 1).
BÄ betonten präventionsorientiertes Arbeiten als eine Besonderheit der betriebsärztlichen Praxis, die sie von anderen ärztlichen Fachgebieten abhebe. Insbesondere Hausärzt*innen dienten als Hauptbezugspunkt, so bezeichnete ein*e Interviewpartner*in die BÄ als „präventiv tätigen Hausarzt des Betriebes“ (FGD 1, Studie 3). BÄ nutzten den Vergleich mit Hausärzt*innen, um sich klar als Ärzt*innen im Allgemeinen und als Ärzt*innen mit einer breiten und ganzheitlichen Perspektive auf Individuen, Arbeitsfähigkeit und langfristige Kontakte im Besonderen zu positionieren. In anderen Passagen zogen BÄ auch den Vergleich mit und distanzierten sich von Ärzt*innen, deren Vergütung ganz oder teilweise von den Leistungen abhängt, die sie den Patient*innen anbieten:
„[…] Wir verdienen unser, also wir, die meisten, weil sie Angestellte sind, verdienen ihr Geld nicht dadurch, dass sie Medizin machen. Also dass sie ein EKG verordnen, ein Labor abnehmen oder so was.“ (FGD 1, Studie 1).
Hier wird der Vorwurf der Parteilichkeit umgedreht: Die BÄ stellten die Tatsache, dass sie von Arbeitgebenden oder einem überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Dienst bezahlt werden, als Vorteil dar, der die direkte Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen von wirtschaftlichen Interessen befreit.

Teilweise abhängig, aber nicht weisungsgebunden

Die BÄ waren sich der Befürchtung der Beschäftigten bewusst, dass sie sich auf die Seite der Arbeitgebenden stellen könnten, weil sie von selbigen bezahlt werden. Die BÄ wiesen den Gedanken der Parteilichkeit zurück, gaben aber zu bedenken, dass sie von der Bereitschaft der Arbeitgebenden abhängig seien, in die Arbeitsmedizin zu investieren und ihnen Handlungsspielraum zu geben. Die BÄ kritisierten, dass es manchen Arbeitgebenden an Orientierung zugunsten der Gesundheit der Beschäftigten fehle, dass sie die gesetzlichen Vorschriften nicht kennten und nicht einhielten, dass sie Gesundheitsfragen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Gewinns betrachteten und Arbeitsschutz als „lästige Pflicht“ (FGD 2, Studie 3) empfänden, oder dass sie die Aufgaben der BÄ auf die Kontrolle von Krankenscheinen reduzierten (was nach deutschem Recht nicht zu den Aufgaben von Betriebsärzt*innen gehört (§ 3 ASiG, [6])). Während einige BÄ einen Zusammenhang zwischen der Unternehmensgröße und dem Interesse der Arbeitgebenden an der Arbeitsmedizin herstellten, lehnten andere die Relevanz der Unternehmensgröße ab und nannten den persönlichen Stil der Arbeitgebenden als den wichtigsten Faktor: Zwar verpflichte der Gesetzgeber Arbeitgebende, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu sorgen, doch wenn Arbeitgebende nur an der Erfüllung eines Minimums an gesetzlichen Anforderungen interessiert seien, wirke sich dies einschränkend auf den Handlungsspielraum und die Kreativität der BÄ aus. Einer Aussage zufolge schrumpfe die Rolle der BÄ in solchen Unternehmen auf die eines „Wasserträgers“ (FGD 1, Studie 3).
Die BÄ betonten die Bedeutung von Autonomie, Kreativität und Flexibilität in ihrer beruflichen Tätigkeit. Sie sprachen über verschiedene Strategien, ihre Arbeit entsprechend auszugestalten. Eine Strategie bestand darin, Unternehmen auszuwählen, die zu ihrem eigenen Verständnis von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit passen. Eine weitere Strategie bestand darin, mit Arbeitgebenden Vertragsbedingungen auszuhandeln, die den BÄ Flexibilität ermöglichten:
„[…] von der Freiheit gesprochen, die wir auch genießen, praktisch, weil Sie mit den Firmen die Verträge so auch gestalten, dass Sie auch eine Freiheit haben, wo Sie jetzt Prioritäten setzen. Die Freiheit habe ich auch und die genieße ich auch.“ (FGD 1, Studie 3).
In ihrer täglichen Arbeit sahen die BÄ die Notwendigkeit, realistisch und flexibel mit den gesetzlichen Vorschriften umzugehen, um die Umsetzung und Akzeptanz der Arbeitsschutzmaßnahmen bei Arbeitgeber*innen und Beschäftigten zu gewährleisten, aber auch um ihre eigene Arbeitszufriedenheit zu erhalten. Ein anschauliches Beispiel waren Fragen der psychischen Gesundheit: Unsere Daten wurden vor der Veröffentlichung umfassender „Empfehlungen zur Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung“ im Jahr 2014 [25] in Deutschland erhoben. BÄ und anderen Akteur*innen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wurden mit dieser Veröffentlichung Instrumente zur Beurteilung psychosozialer Anforderungen am Arbeitsplatz an die Hand gegeben. In den Studien 2 und 3 berichteten die BÄ über die wachsende Notwendigkeit, sich mit der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zu befassen, und darüber, wie sie den Mangel an entsprechenden Instrumenten überbrückten, z. B. indem sie Fragen zur psychischen Gesundheit in Termine aufnahmen, die einem anderen Zweck dienten, wie etwa die Überwachung der Gesundheit der Beschäftigten mit Schwerpunkt auf anderen arbeitsbedingten Risiken.

Diskussion

Stärken und Einschränkungen

Der qualitative Forschungsansatz ermöglichte eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem professionellen Selbstverständnis von BÄ. Die BÄ zeigten ein positives Selbstbild als Berufsgruppe (vgl. [13]). Dies könnte auf einen positiven Selektionsbias zurückzuführen sein, da eher motivierte BÄ an einer Studie teilnehmen könnten. Die deutliche Ausprägung positiver und aktiver betriebsärztlicher Handlungsstrategien im Vergleich zu passiveren betriebsärztlichen Handlungsstrategien spricht für einen positiven Selektionsbias. Die Studienteilnehmer*innen spiegeln gegebenenfalls typische soziodemografische Merkmale von BÄ, nicht aber zwangsläufig die gängige Praxis innerhalb der betriebsärztlichen Arbeit. Aussagen in FGD könnten auch durch den normativen Druck der Gesprächssituation durch die Teilnehmer*innen, die Moderation und die Forschungssituation selbst beeinflusst sein [26, 27]. Möglicherweise haben BÄ sich also zurückgehalten, in der Gruppe über pragmatische Herangehensweisen und ihren eigenen Weg des geringsten Widerstands in der betriebsärztlichen Arbeit zu sprechen. Nichtsdestotrotz wurden in unseren Daten auch kritische Aspekte der täglichen Arbeit diskutiert. Qualitative Forschung hat vor allem die Repräsentation zentraler Dimensionen eines Phänomens oder Themas zum Ziel, nicht deren statistische Verteilung [23]. Diese Studie gibt also keinen Aufschluss darüber, ob die beteiligten BÄ die gängige Praxis innerhalb der betriebsärztlichen Profession abbilden, sehr wohl aber lassen sich verschiedene und auch kritische Dimensionen des professionellen Selbstverständnisses von BÄ nachvollziehen.
Je nach Studie sind andere soziodemografische Daten relevant. Die Bögen zur Abfrage der soziodemografischen Daten innerhalb der drei Studien waren folglich uneinheitlich gestaltet, sodass nicht alle Daten in der SDA vollständig abbildbar sind. Auch ist die Frage, welche soziodemografischen Daten wie gefasst werden können, in stetem Wandel. So ist in Deutschland beispielsweise die soziodemografische Kategorie „Migrationshintergrund“ mit deutlichen Unschärfen versehen [28], weil sie nicht zwischen migrationsspezifischen Themen, ökonomischen Positionen und rassistischer Diskriminierung differenzieren kann [19]. Ausgehend von aktuellen Empfehlungen zur Erfassung und Analyse migrationsbezogener Determinanten in der Public-Health-Forschung [19] haben wir uns entschlossen, rückwirkend die Kategorien weiß und „Migrationsgeschichte“ zu benennen und damit im Kontext der vorliegenden SDA sichtbar zu machen, dass BÄ möglicherweise als Gruppe soziodemografisch homogener sind als die heterogenen Beschäftigtengruppen, die sie betriebsärztlich betreuen. Auch das kann ein Hinweis darauf sein, warum das Fremdbild von BÄ negativer ist als deren Selbstbild. Darüber hinaus wollen wir mit der Darstellung auch einen Beitrag dazu leisten, diese Kategorien – wie empfohlen – künftig in Studien mit zu berücksichtigen und zu benennen.
Als Limitation könnte der bereits vor zehn Jahren erhobene Datensatz angesehen werden. Unsere Ergebnisse stimmen jedoch sowohl mit älteren Studien [2932] als auch mit aktuelleren Studien [4, 13] überein. Auch wurden weder der regulatorische Rahmen noch die damit verbundenen Herausforderungen wie das „status triangle dilemma“ [30] grundlegend geändert. Wir haben unsere Arbeit im Zuge der SDA mit BÄ in unserem Institut und auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin [33] diskutiert, und die Ergebnisse erzeugten in beiden Kontexten Resonanz, was die intersubjektive Nachvollziehbarkeit als Gütekriterium der Ergebnisse bestärkte [23]. Wir gehen vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Aspekte davon aus, dass das professionelle Selbstverständnis keinen grundsätzlichen Wandel durchlaufen hat und unsere Studienergebnisse auch heute Aussagekraft haben.

Das Status-Dreieck-Dilemma und Bewältigungsstrategien

Die BÄ sahen und präsentierten sich als Akteur*innen in differenzierten professionellen Rollen: Ärzt*in, Beratende für Beschäftigte und Arbeitgebende und Netzwerker*innen, die Partner*innen innerhalb und außerhalb des Arbeitsplatzes zur Lösung von Problemen zusammenbringen. Dies weist starke Ähnlichkeiten mit anderen Veröffentlichungen auf, die zwischen medizinischen Expert*innen, Beratenden und Vermittler*innen zwischen Arbeitgebenden und Beschäftigten [34] oder den Rollen der BÄ als „medic“, „medic with managerial skills“, „manager with medical skills“ und „manager“ [30] unterscheiden. Dies kann dazu führen, dass Beschäftigte differenziertere Erwartungen an BÄ als an Hausärzt*innen haben [35]. Die von den BÄ angesprochenen Rollen stimmen auch mit dem CanMEDs-Framework [12] überein, obwohl die meisten der BÄ in unserer Studie ihre Ausbildung vor oder in den Anfängen der Implementierung des Frameworks in Deutschland absolvierten. Die BÄ waren sich dieser unterschiedlichen Rollen und der einzigartigen Expertise, aber auch der Herausforderungen, die damit einhergehen, bewusst.
Obwohl alle Ärzt*innen aller Fachrichtungen Formen der Rollenvielfalt und des Rollenkonflikts teilen und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ökonomische Interessen zu einem wichtigen Bezugspunkt im medizinischen Bereich macht [36, 37], werden diese beiden Aspekte vielleicht am deutlichsten in Bezug auf BÄ diskutiert. Die BÄ in unserer Studie befassten sich mit dem, was andere als „tripartite cooperation“ zwischen BÄ, Arbeitgebenden und Beschäftigten bezeichnet haben, bei der BÄ sowohl gegenüber Arbeitgebenden als auch Beschäftigten rechenschaftspflichtig sind [31]. Diese „dual loyalty“ [32] muss von den BÄ ausgeglichen werden und kann zu verschiedenen Versuchen der Instrumentalisierung der BÄ durch alle beteiligten Parteien führen [13, 20, 29, 35, 38]. Die vertragliche Beziehung zwischen Arbeitgebenden und BÄ ist ein ständiger Bezugspunkt in unserer SDA, aber auch in der Literatur der letzten Jahrzehnte. Was die Beschäftigten anbelangt, so hängt dies vor allem mit den Auswirkungen auf deren Vertrauen gegenüber BÄ zusammen. Obwohl sich ein regelmäßigerer Kontakt mit den BÄ positiv auf die Wahrnehmung und das Vertrauen der Beschäftigten in BÄ auswirken kann, scheinen zumindest einige Beschäftigte aufgrund von Bedenken hinsichtlich Befangenheit und möglicher Verletzungen der Schweigepflicht zurückhaltend zu bleiben [39]. Verschiedene Berichte über Versuche, die ärztliche Schweigepflicht zu umgehen, die von den BÄ in unserer SDA und in der Literatur [9, 13, 14, 32, 35] berichtet wurden, bestätigen diese Sorge. Die BÄ gaben an, dass ethische und praktische Dilemmata vor allem dann auftraten, wenn das Interesse der Arbeitgebenden an ihrer Arbeit in erster Linie auf Produktivitäts- und Kosteneffizienzinteressen beruhte [5, 31].
Unsere Daten zeigen, dass BÄ die Herausforderung sehen, die manchmal unvereinbaren Positionen verschiedener Gruppen einschließlich ihrer eigenen professionellen Standards zu erfüllen. Dies wurde als „status triangle dilemma“ beschrieben, bei dem BÄ die Erwartungen von Beschäftigten, Arbeitgebenden und Berufsverbänden, wie z. B. ethische Richtlinien, erfüllen müssen [28]. BÄ sind sich der praktischen und ethischen Konflikte und der Bedenken hinsichtlich ihrer Loyalität, die sich aus dem „status triangle dilemma“ ergeben, durchaus bewusst [35]. Infolge dieses Spannungsfeldes können sie herausfordernde widersprüchliche Anforderungen an ihre eigene Rolle empfinden [35, 40] und eine Beeinträchtigung ihrer berufsethischen Pflichten erleben [29, 41]. Dies kann zu moralischem Stress [42] führen. Wir haben mehrere Strategien identifiziert, die BÄ anwenden, um das „status triangle dilemma“ zu bewältigen:
  • Pragmatische Orientierung: BÄ orientieren sich an den praktischen Dimensionen ihrer Handlungsspielräume vor Ort und nicht an unerreichbaren ethischen Standards (vgl. auch [30]).
  • Gestaltung des vertraglichen Rahmens: BÄ suchen sich Arbeitgebende, die die Gesundheit der Beschäftigten als einen Wert an sich und nicht als eine Frage der Produktivität und Wirtschaftlichkeit sehen. Sie handeln einen Vertrag aus, der ihnen Handlungsspielräume lässt, oder ziehen sich aus Verträgen zurück, die nicht zu ihrem Verständnis von betrieblicher Gesundheit passen.
  • Den Nutzen von BÄ bewerben: BÄ werben für das Wissen und die Notwendigkeit ihrer Arbeit (vgl. auch [35, 43]). Sie akzeptieren, dass dies einen langen Atem erfordert.
  • Selbstpositionierung als Ärzt*innen: BÄ setzen ihren Status als Ärzt*innen und die ethischen Richtlinien ihrer Profession als Hauptbezugspunkt und betonen ihre Unparteilichkeit, Integrität und Autonomie (vgl. auch [32, 44]). Dies erlaubt ihnen, sich auf Gesetze und Verordnungen, aber auch auf andere Normen und Richtlinien zu beziehen.
  • Das „status triangle dilemma“ in eine einzigartige Kompetenz verwandeln: BÄ sind sich bewusst, dass Hausärzt*innen ihnen gegenüber Misstrauen hegen, wie dies bereits in anderen Studien herausgearbeitet wurde [13, 14, 4547]. Sie betonen, dass ihre ganzheitliche, präventionsorientierte Sicht der Arbeitswelt und ihre Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen dem Wohl der Einzelnen und dem Wohl der Organisation herzustellen, für die Patient*innen manchmal vorteilhafter sein kann als die Fokussierung der Hausärzt*innen auf die Anwaltschaft für die Patient*innen [48].
Die BÄ in unserer SDA schrieben sich alle Strategien selbst zu, mit Ausnahme der pragmatischen Orientierung, die sie nutzten, um sich von anderen BÄ im Feld abzugrenzen. Wir gehen davon aus, dass BÄ mehrere der Strategien nutzen, um ihren Arbeitsalltag angepasst an die jeweilige Situation zu bewältigen. Der Blick auf Bewältigungsstrategien und individuelle Handlungsspielräume sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das nicht allein durch das individuelle Verhalten der BÄ gelöst werden kann [32]. Daher sollten der International Code of Ethics for Occupational Health Professionals [49] und entsprechende nationale Ethikkodizes (z. B. [50]) in Staaten, in denen die Weisungsfreiheit von BÄ nicht wie in Deutschland durch das ASiG garantiert ist, durch eine nationale Gesetzgebung ergänzt werden, damit so die Weisungsfreiheit der BÄ und ihre Handlungsspielräume garantiert werden.

Fazit

Arbeitswelt und gesetzliche Regelungen verändern sich stetig, und damit auch die Arbeit der BÄ. Gleichzeitig sind das professionelle Selbstverständnis von BÄ und das „status triangle dilemma“, in dem sie sich bewegen, über verschiedene nationale Kontexte und die letzten Jahrzehnte hinweg recht stabil geblieben. Bereits in den 1980er-Jahren stellten Autor*innen die Frage, ob das „status triangle dilemma“ und die damit verbundenen Herausforderungen wirklich nur für BÄ gelten oder ob es in deren Tätigkeitsfeld schlicht offensichtlicher als in anderen ärztlichen Fachgebieten zu Tage tritt [9]. Wenn wir Letzteres annehmen, was können wir dann aus den vorliegenden Ergebnissen für aktuelle und zukünftige Rollenkonflikte und Handlungsstrategien von BÄ, aber auch Ärzt*innen anderer Fachgebiete lernen?

Danksagung

Wir danken allen Studienteilnehmer*innen, dass sie sich die Zeit genommen haben, ihre Sichtweise in unsere Studien einzubringen. Wir danken den BÄ unseres Instituts und allen Teilnehmer*innen des Panels „Quo vadis Arbeitsmedizin?“ auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin 2021 für die fruchtbare Diskussion unserer Ergebnisse. Wir danken Dr. Marlen S. Löffler für die anregenden Diskussionen über das Triple-Mandat in der Sozialen Arbeit und das „status triangle dilemma“ der BÄ.
Diese Studie wurde aus Eigenmitteln des Instituts für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung durchgeführt. Das Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Tübingen, erhält eine institutionelle Förderung durch den Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e. V. (Südwestmetall). Die Zuwendungsgeber hatten keinen Einfluss auf die Fragestellung, das Design dieser Studie, die Durchführung, die Auswertung, die Interpretation der Daten und die Entscheidung zur Veröffentlichung der Ergebnisse.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

C. Preiser, N. Radionova und M.A. Rieger geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor*innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

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Literatur
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Metadaten
Titel
Das professionelle Selbstverständnis von Betriebsärzt*innen
Eine Sekundäranalyse qualitativer Studien
verfasst von
Dr. Christine Preiser, M.A.
Natalia Radionova, M.A.
Monika A. Rieger, Prof. Dr.
Publikationsdatum
01.05.2025
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Schlagwort
Arbeitsmedizin
Erschienen in
Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie / Ausgabe 3/2025
Print ISSN: 0944-2502
Elektronische ISSN: 2198-0713
DOI
https://doi.org/10.1007/s40664-025-00574-3

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