Hintergrund
Mit dem im Jahr 1993 eingeführten Gesundheitsstrukturgesetz wurde eine neue Reformqualität erreicht, die vor allem das von Kostendämpfungsregelungen bisher weitgehend verschont gebliebene Krankenhauswesen in Deutschland betraf [
33]. Seitdem wurde eine Reihe weiterer Reformen durchgeführt, allesamt mit dem Ziel, die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung sowie die Effizienz in Krankenhäusern zu erhöhen [
11]. Verschiedene Maßnahmen, wie eine Vernachlässigung der ärztlichen Weiterbildung, eine Dequalifizierung der Arbeitnehmenden, die Privatisierung von Organisationseinheiten (Outsourcing), ein Fallsplitting, die Konzentration der Standorte und eine Ambulantisierung sowie ein Personalabbau sollen eine Steigerung der Wirtschaftlichkeit möglich machen [
11].
In diesem Zusammenhang existieren verschiedene Studien, die sich mit der Analyse des Arbeitsalltags und der damit verbundenen Arbeitsbelastung von Ärzt*innen unterschiedlicher Fachrichtungen beschäftigen [
45‐
47]. Das nichtärztliche Krankenhauspersonal (das Pflegepersonal ausgenommen) wurde diesbezüglich allerdings bisher kaum berücksichtigt. Mitarbeitende im Versorgungsdienst, zu denen auch das Krankenhausküchenpersonal zählt, sind beispielsweise ebenfalls von der Umstrukturierung der Krankenhäuser betroffen. Laut einer Statistik des Krankenhausreports 2023 [
32] hat der Wirtschafts- und Versorgungsdienst einen erheblich stärkeren Rückgang des Krankenhausküchenpersonals im Vergleich zu Ärzt*innen sowie zum Pflegepersonal verzeichnet. In den 1990er-Jahren hatte dieser Sektor bereits einen Rückgang von gut 25 % erlebt, als die Beschäftigtenzahl von anfänglich etwa 95.000 auf rund 68.000 Vollzeitäquivalente im Jahr 2000 sank. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten erfolgte eine weitere drastische Reduzierung, und im Jahr 2021 gab es nur noch etwa 34.000 Vollzeitäquivalente in diesem Bereich. Als ein nicht unwesentlicher Grund für die Reduktion des Personals wird das Outsourcing dieser Dienste diskutiert, was bei der Interpretation der Daten Berücksichtigung finden sollte [
31]. Im gesamten Krankenhaussektor, insbesondere im Bereich der Krankenhausküchen, gibt es zudem einen erheblichen Investitionsbedarf. Denn im Durchschnitt sind Krankenhausküchen 24 Jahre alt, und die letzte Grundsanierung liegt durchschnittlich 13 Jahre zurück [
7].
Die adäquate Ernährung von Patient*innen durch beispielsweise die hausinterne Krankenhausküche nimmt eine wichtige Rolle im Krankenhausgefüge ein. Eine an die Bedürfnisse des/der Patient*innen angepasste Ernährung leistet einen entscheidenden Beitrag für den Genesungsprozess der Patient*innen und kann deren Wohlbefinden steigern. Eine mangelnde Nährstoffzufuhr kann dazu führen, dass Patient*innen deutlich später aus dem Krankenhaus entlassen werden. Darüber hinaus kommt dem Krankenhaus in Bezug auf die Ernährung eine Vorbildfunktion zu. Daher nimmt eine bedarfsgerechte und bedürfnisorientierte Verpflegung einen hohen Stellenwert ein [
2]. Die Großküchen von Krankenhäusern haben die schwierige Aufgabe, einem teilweise sehr großen Bedarf an Nahrung gerecht zu werden. In der Charité in Berlin werden beispielsweise täglich insgesamt über 6600 Frühstücke, Mittagessen und Abendessen benötigt. Das entspricht im Jahr einer Anzahl von ca. 2,4 Mio. mit Nahrungsmitteln bestückten Tabletts [
21].
Da von Krankenhausküchen erwiesenermaßen ein besonderes Risiko für nahrungsmittelassoziierte Erkrankungen ausgeht, stehen sie zudem in der Verantwortung, die Verbreitung von Infektionen zu vermeiden. Eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) [
53] aus dem Jahr 2003 hat ergeben, dass 1999 in Deutschland insgesamt 130 Ausbrüche nahrungsmittelassoziierter Erkrankungen registriert wurden, wovon der Anteil medizinischer Einrichtungen bei 10 % lag. Im Jahr 2021 betrug dieser Anteil laut aktuellem Bericht des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsichert (BVL) und des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu lebensmittelbedingten Krankheitsausbrüchen in Deutschland 5 % (168 Ausbrüche) [
52]. Dass Krankenhausküchen Ausgangspunkt für Ausbrüche sein können, ist des Weiteren in der internationalen Literatur dokumentiert [
9,
35]. Der Entstehung einer Lebensmittelintoxikation bzw. -infektion liegen meist mehrere Faktoren zugrunde; eine Kontamination der Nahrung allein reicht in der Regel nicht aus. Ein Grund für die übermäßige Vermehrung von Erregern und das Ausbrechen von nahrungsmittelassoziierten Erkrankungen kann das Auftreten küchentechnischer Fehler sein. Daher ist eine sachgerechte und hygienische Verarbeitung von Lebensmitteln in Krankenhausküchen von großer Bedeutung [
67].
Um die Versorgung der Patient*innen zu gewährleisten, ist somit ein optimal interagierendes und geschultes Küchenpersonal von essenzieller Bedeutung. Zu den dafür wichtigen Voraussetzungen zählen optimale Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten in diesem Sektor. Analysen des Arbeitsalltags der Mitarbeitenden von Krankenhausgroßküchen ermöglichen die Erfassung von Fehl- oder Überbelastungen psychischer oder physischer Natur. Denn falsche oder zu große Belastungen können sich in negativen Beanspruchungen (z. B. Über- oder Fehlbelastungen) der Mitarbeitenden äußern und negative Folgen für die Mitarbeitenden selbst und die von ihnen auszuführenden Tätigkeiten und Arbeitsabläufe haben.
Erkrankungen des Bewegungsapparates stellen die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland dar [
80]. Fast 25 % aller durch Arbeitsunfähigkeit bedingten Ausfalltage gehen auf Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) zurück [
34]. Im Jahr 2021 waren in Deutschland laut des Berichts „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA; [
8]) insgesamt 160,7 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage auf Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems zurückzuführen. Der durch diese Fehlzeiten entstandene Produktionsausfall belief sich auf ungefähr 20,5 Mrd. Euro, was ca. 0,6 % des Bruttonationaleinkommens entspricht [
8].
Zwischen 2003 und 2011 wurden allein im Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) 18,6–23,7 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage sowie 0,9–1,2 Mio. Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund von muskuloskeletalen Erkrankungen registriert [
43]. Muskel-Skelett-Erkrankungen zählen auch zu den Hauptgründen für vorzeitige Erwerbsunfähigkeit [
43]. Laut der Präventionskampagne „Denk an mich. Dein Rücken.“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) [
23] scheiden jährlich mehr als 26.000 Menschen vorzeitig aus der Erwerbstätigkeit aus, was einem Anteil von fast 15 % der gesundheitlich begründeten Frühberentungen entspricht. Die häufigste Einzeldiagnose stellt die Diagnose „Rückenschmerzen“ dar, woran 70 % der deutschen Bevölkerung mindestens einmal jährlich leiden [
23].
Laut einer repräsentativen Befragung von knapp 20.000 Erwerbstätigen im Jahr 2018 durch das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) [
24] gaben 46,2 % der Teilnehmenden an, in den letzten 12 Monaten Schmerzen im unteren Rücken und 49,5 % Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich gehabt zu haben.
Daher ist es von großer Bedeutung für die Beschäftigten, deren Gesundheit betroffen ist, aber auch im Interesse der Arbeitgeber und Sozialversicherungen, denen durch Ausfallzeiten und Behandlungen hohe Kosten entstehen, das Risiko von muskuloskeletalen Erkrankungen möglichst gering zu halten.
Multitasking
Multitasking, ein aus dem lateinischen Wort „multi“ (viele) und dem englischen Wort „task“ (Aufgabe) zusammengesetzter Begriff, kommt ursprünglich aus der Informatiksprache [
3]. Er beschreibt die Eigenschaft eines Rechnerbetriebssystems, mehrere Prozesse gleichzeitig ablaufen zu lassen [
78]. Auf den Menschen projiziert, wird Multitasking im Alltagsgebrauch als das simultane Ausführen mehrerer Tätigkeiten zur gleichen Zeit verstanden [
39]. Aus kognitionspsychologischer Sicht scheint dies jedoch nur sehr selten der Fall zu sein. Tatsächlich handele es sich nach Pashler [
62] meist um ein Ausführen kleiner Arbeitsabschnitte mit sehr schnellen Wechseln, was den Anschein des simultanen Arbeitens hinterlässt. Die Bottleneck-Theorie besagt, dass die bewusste Aufmerksamkeit nicht geteilt werden kann [
3]. Nach Lien et al. [
44] heißt es zwar, dass es zu einem komplizierten Zusammenspiel gewisser Umstände kommen muss, um ein gleichzeitiges Ausführen zweier Aufgaben möglich zu machen, dass es aber durchaus möglich ist, mehrere Tätigkeiten tatsächlich gleichzeitig auszuführen. Wichtige Voraussetzung sei allerdings, dass zumindest eine der beiden Aufgaben sehr gut automatisiert ist [
44]. Nach Baethge und Rigotti [
3] lässt sich Multitasking vereinfacht als das gleichzeitige Bearbeiten mehrerer Aufgaben in einem begrenzten Zeitraum definieren. Multitasking ist wesentlicher Bestandteil der modernen und beschleunigten Arbeitswelt und wird nach wie vor mit hohem Leistungspotenzial assoziiert [
19]. An vielen Arbeitsplätzen ist Multitasking bereits zum Normalfall geworden [
19]. Einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2018 des Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) [
24] zufolge gaben zwei Drittel der Büroarbeitenden an, verschiedene Aufgaben gleichzeitig bearbeiten zu müssen. Laborexperimentelle Untersuchungen [
61] zeigen, dass je höher die kognitive Beanspruchung zur gleichzeitigen Ausführung zweier Aufgaben ist, desto mehr Zeit- und Ressourcenverluste, Qualitätseinbußen sowie physiologische und psychische Fehlbeanspruchungen beobachtet werden [
78].
In der Krankenhausgroßküche wird Multitasking insbesondere an der Arbeit am Fließband vorausgesetzt. Durch die vorgegebene Fließbandgeschwindigkeit in Kombination mit der konzentrationsfordernden Aufgabe, die Tabletts nach unterschiedlichen Kriterien zu bestücken (z. B. Diätkost für Diabetespatienten/Vollkost/Laktosefrei), werden die Mitarbeitenden verstärkt zu Multitasking gezwungen. Diese Annahme wird unterstützt durch die Ergebnisse einer DGUV-Informationsschrift aus dem Jahr 2015 [
13], laut der im Arbeitsalltag von Fließbandarbeitern der Daimler AG drei Belastungen stark ausgeprägt waren: der kleine zeitliche Handlungsspielraum, die hohe Verantwortung und die große Variabilität.
Anhand der aufgeführten Theorien und Praxisbeispiele von Bühner et al. [
10] stellt Multitasking hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis der Beschäftigten und geht mit negativen Auswirkungen auf die Leistung und das Befinden jener einher. Das Vergessen von Aufgaben und Intentionen wird durch Multitasking verstärkt [
68]. Die Tagebuchstudie von Baethge und Rigotti [
4] aus dem Jahr 2013 konnte einen deutlichen negativen Effekt von Multitasking im Alltag von Krankenhauspflegekräften zeigen und Multitasking als belastenden Stressor im Arbeitsalltag identifizieren. Die Ergebnisse zeigen, dass sich durch Multitasking sowohl die Leistung verringert als auch das Beanspruchungserleben erhöht.
Arbeitsunterbrechungen
„Eine Unterbrechung ist die kurzzeitige Aussetzung einer menschlichen Handlung, welche durch eine externe Quelle verursacht ist (also nicht durch den Unterbrochenen selbst). Sie führt zu einem Aufschub der eigentlichen Handlung, da eine ungeplante Aufgabe angefangen wird. Dies geschieht mit der Absicht, die eigentliche Handlung später fortzusetzen“ [
3, S. 9]. Arbeitsunterbrechungen können durch andere Personen, durch technische Störungen (z. B. Computerabsturz) oder organisatorische Probleme (z. B. verspätete Lieferung) ausgelöst werden [
3,
38].
Wie auch das Multitasking ist das vermehrte Auftreten von Arbeitsunterbrechungen charakteristisch für die moderne Arbeitswelt.
Eine Befragung der BiBB/BAuA [
24] von ca. 20.000 Beschäftigten einer repräsentativen Stichprobe der Erwerbsbevölkerung aus dem Jahr 2018 ergab, dass 44,7 % der Befragten das Gefühl haben, häufig bzw. 31,6 % das Gefühl haben, manchmal bei der Arbeit unterbrochen zu werden. Ähnliche Zahlen ergab die Erwerbstätigenbefragung der BIBB/BAuA [
80] aus dem Jahr 2012. Unter den Befragten, die 2018 angaben, häufig bei der Arbeit gestört zu werden, empfanden knapp 60 % derartige Störungen als belastend [
24]. In welchem Maß Arbeitsunterbrechungen als belastend wahrgenommen werden, hängt von der Verfassung der Mitarbeitenden, von äußeren Einflussfaktoren sowie von der Art der Unterbrechung ab [
6]. Die gleiche Unterbrechung kann unter verschiedenen Umständen ganz unterschiedlich empfunden werden [
6].
Trotz gut definierter Aufgabenbereiche treten in der Krankenhausgroßküche zeitweise Unterbrechungen auf, sei es durch das plötzliche Aussetzen der Maschinen, durch das Herunterfallen von Geschirr bzw. Nahrungsmitteln oder auch durch die Korrektur der Vorgesetzten sowie durch Zwischenfragen bzw. Anmerkungen von Kolleg*innen. Diesbezüglich konnten Nees und Fortna [
55] in ihren Untersuchungen zeigen, dass Unterbrechungen durch Mitmenschen im Vergleich zu anderen, zum Beispiel virtuellen Störungen, ein schnelleres Zurückkehren zur primären Aufgabe ermöglichen. Allerdings fanden Weigl et al. [
77] in einer Analyse von Kinderärzt*innen heraus, dass Unterbrechungen durch Kolleg*innen im Vergleich zu anderen Unterbrechungsursachen als am meisten belastend empfunden werden.
Ebenso wie Multitasking stellen auch Arbeitsunterbrechungen hohe Anforderungen an kognitive Funktionen wie Gedächtnis, Konzentration und Aufmerksamkeit und verringern unabhängig vom Alter der Person die Leistung mit gleichzeitiger Erhöhung des Beanspruchungserlebens [
4].
Laborstudien bestätigen, dass Unterbrechungen zu einer verlängerten Bearbeitungszeit der primären sowie der Störaufgabe führen und dass die Fehlerrate durch das Hinzufügen der Störaufgabe ansteigt [
5,
76]. Ebenso konnte gezeigt werden, dass Unterbrechungen zu einer stärker wahrgenommenen Arbeitsbelastung führen [
77]. Als weitere Konsequenz von Unterbrechungen im Arbeitsprozess wurde das verstärkte Wahrnehmen von Angst und Ärger nachgewiesen [
5]. Darüber hinaus können Unterbrechungen zu einem Vergessen von Intentionen sowie zu Fehlern führen, da die Beschäftigten durch die Unterbrechung abgelenkt werden [
73]. Auch Foroughi et al. [
18] fanden in ihren Untersuchungen heraus, dass die Qualität der Arbeit durch Unterbrechungen signifikant negativ beeinflusst wird. Der Grund dafür, dass Arbeitsunterbrechungen zu höherer Arbeitsbelastung, schlechterer Leistung und negativen Emotionen führen können, ist die Belastung des Arbeitsgedächtnisses [
5]. Beeinflusst wird die Leistung nach einer Unterbrechung insbesondere durch die jeweiligen kognitiven Fähigkeiten einer Person, die Komplexität der primären Aufgabe, die Merkmale der Unterbrechungsaufgabe (Komplexität, Frequenz, Zeitpunkt) und die Art und Weise, wie mit der Unterbrechung umgegangen wird (ignorieren, sofort bearbeiten, aufschieben, parallel bearbeiten) [
5].
Tätigkeitswechsel
Tätigkeitswechsel beschreiben einen Wechsel zwischen verschiedenen Arbeitsaufgaben. Gemäß der Zielaktivierungstheorie nach Altmann et al. [
1] funktionieren Tätigkeitswechsel wie folgt: Neue Ziele und Handlungspläne werden dem Arbeitsgedächtnis bereitgestellt und dort aktiviert, wobei die alten Pläne gehemmt werden, sodass die neuen Ziele einen höheren Aktivitätsgrad aufweisen und damit handlungsleitend sind. Auch Multitasking sowie Arbeitsunterbrechungen entsprechen im weiteren Sinn Tätigkeitswechseln [
3]. Wie bereits dargelegt, ist Multitasking, das tatsächlich simultane Bearbeiten mehrerer Aufgaben, nach Lien et al. [
44] höchstens dann möglich, wenn mindestens eine der Aufgaben sehr gut automatisiert ist. In allen anderen Fällen handelt es sich um Tätigkeitswechsel in Zeiträumen von Millisekunden bis Sekunden. Tätigkeitswechsel werden außerdem häufig durch Arbeitsunterbrechungen eingeleitet, wobei die primäre Aufgabe nach der Unterbrechung wiederaufgenommen werden kann [
73]. Ist die Unterbrechungsaufgabe der primären Aufgabe ähnlich, so fällt es den Mitarbeitenden schwerer, zu dieser zurückzukehren [
60].
In der Krankenhausgroßküche sind solche Prozesse beispielsweise in der Kommissionierung zu finden. Hier werden Tätigkeiten wie das Packen der Stationskisten, das Vorbereiten des Caterings, das Einräumen und Sortieren der Waren oder die Reinigung und Beschriftung der Stationskisten mit häufigen Wechseln verrichtet. In der Kommissionierung arbeiten im Allgemeinen weniger Arbeitskräfte, und im Gegensatz zu jenen der anderen beiden Arbeitsbereiche (Bandarbeit, Spülküche) üben sie keine Fließbandarbeit aus. Der Aufgabenbereich einer Arbeitskraft ist damit weniger begrenzt, was die höhere Anzahl an Tätigkeitswechseln in diesem Arbeitsbereich erklärt.
Die Auswirkungen von Tätigkeitswechseln wurden unter anderem von Monsell [
54] erforscht. In verschiedenen Experimenten, bei denen Studienteilnehmende bezüglich der Bearbeitung von immer wieder wechselnden Aufgaben untersucht wurden, konnten Leistungseinbußen in Form von Wechselkosten erfasst werden.
Diese stellen sich nach Monsell [
54] bei Studienteilnehmenden im Anschluss an einen Tätigkeitswechsel als substanzielle Steigerung der Fehlerrate und der Reaktionszeit, welche auch nach Stunden noch beeinträchtigt sein kann, dar. Dass Tätigkeitswechsel, die in vielen Berufen zum Arbeitsalltag gehören, im Vergleich zur Arbeit und Produktion am Fließband das Risiko von Fehlern erhöhen, wurde bislang für verschiedene Berufe bzw. Tätigkeiten bestätigt, unter anderem für den Arztberuf, das Fliegen, das Autofahren, die Pflege und die Büroarbeit [
1,
15,
17,
65,
79].
Körperhaltungen
Mögliche Ursachen für das erhöhte Auftreten von Muskel-Skelett-Erkrankungen im Rahmen spezifischer Arbeiten wurden von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im Rahmen des Projekts Megaphys veröffentlicht [
49,
50]. Grundsätzlich werden hier sechs Arten von Körperhaltungen beschrieben, die mit einem erhöhten Risiko verbunden sind [
26]. Die BAuA hat die o. g. Unterteilung in ihrer revidierten Arbeitsmedizinischen Regel 13.2 veröffentlicht. Darüber hinaus wird im Kapitel „Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System“ erklärt, dass Zwangshaltungen als körperlich belastend und gesundheitsgefährdend für das Muskel-Skelett-System eingestuft werden [
14]. Als Zwangshaltungen werden ungünstige Körperhaltungen bezeichnet, die zu statischer Überanstrengung der Muskulatur führen [
36]. Dazu zählen dauerhaftes Stehen, eine langandauernde Rumpfbeuge oder Rumpfdrehung, Arbeiten mit den Händen über Schulterniveau sowie das Sitzen in einer vorgegebenen dauerhaft fixierten Körperhaltung [
14], wie beispielsweise häufig bei Lastkraftwagenfahrern [
25,
40,
59] oder zahnmedizinischem Personal [
56‐
58] zu finden. Aus arbeitsmedizinischer Sichtweise werden neben Tätigkeiten im Bücken, Knien oder Hocken damit auch einseitige Körper- oder Gelenkstellungen sowie eine durch die Arbeitsstruktur (Arbeitsplatzgestaltung und -anordnung, Inventar) und Arbeitsmittel vorgegebene Bewegungsausführung assoziiert [
36]. Daher werden auch repetitive Tätigkeiten mit hohen Handhabungsfrequenzen als belastend für das muskuloskeletale System eingestuft [
50].
Stehen als Zwangshaltung bei der Arbeit bedeutet Stehen ohne Möglichkeit der Entlastung durch kurzzeitiges Sitzen oder Gehen und stellt eine große Belastung des Muskel-Skelett-Systems dar [
51]. In einer Gefährdungsbeurteilung für Fließbandarbeit durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV; [
13]) wird dauerhaftes Stehen auf einer Stelle insbesondere als physikalische Belastung für das Muskel-Skelett-System der unteren Extremität angeführt. Die vom Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) Baden-Württemberg [
16] erstellte Risikobewertung von Steharbeit aus dem Jahr 2009 äußert einen deutlichen Zusammenhang zwischen Gesamtdauer pro Arbeitsschicht und dem Risiko gesundheitlicher Folgen ([
16]; Tab.
1). Die Tabelle zur Risikobewertung verdeutlicht die gesundheitliche Belastung andauernder Steharbeit, gilt jedoch als überholt und wurde durch die Erweiterte Leitmerkmalmethode zur Beurteilung und Gestaltung von Belastungen bei Körperzwangshaltungen (LMM-KH), zu der auch das Belastungsmerkmal ständiges Stehen gehört, ersetzt. Mit dieser, durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) entwickelten, aktuellen Methode werden zusätzlich weitere, über die Tabelle hinausgehende Belastungsmerkmale bei Körperzwangshaltungen beachtet. Aus arbeitsmedizinischer Sicht lassen sich zeitliche Grenzwerte zur Definition einer Haltung als Zwangshaltung jedoch nicht begründen [
37].
Tab. 1
Risikobeurteilung der Stehbelastung durch andauerndes Stehen während der Arbeit nach Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik. (Nach [
16])
Risikobereich 1 | Bis 2,5 h | Geringe Stehbelastung |
Keine Überlastung erwartbar |
Anteil Stehen: Sitzen/Gehen wie 1 : 2 |
Empfehlung: Anteil Sitzen : Stehen : Gehen wie 60 : 30 : 10 |
Risikobereich 2 | Mehr als 2,5 bis 4 h | Erhöhte Stehbelastung |
Für vermindert belastbare Personen Überlastung möglich |
Anteil Stehen: Sitzen/Gehen ca. 1 : 1 |
Gestaltungsmaßnahmen sind empfehlenswert |
Risikobereich 3 | Mehr als 4 bis 5,5 h | Wesentlich erhöhte Stehbelastung |
Für normal belastbare Personen sind gesundheitliche Auswirkungen möglich |
Beschäftigungsverbot für Schwangere nach Ablauf des 5. Monats |
Gestaltungsmaßnahmen sind erforderlich |
Risikobereich 4 | Mehr als 5,5 h | Hohe Stehbelastung |
Für normal belastbare Personen sind gesundheitliche Auswirkungen wahrscheinlich |
Gestaltungsmaßnahmen sind zwingend erforderlich |
Die gesundheitlichen Folgen reichen hier von lokalen Schmerzen über funktionelle Störungen bis hin zur Schädigung anatomischer Strukturen [
42]. So haben Garcia et al. [
20] eine signifikante Ermüdung der Muskulatur der unteren Extremitäten nach 5 h Steharbeit nachweisen können. Hierfür wurden durch elektrische Impulse induzierte Muskelkontraktionen ausgewertet. Diese war auch 30 min nach der Arbeit noch nachweisbar, wohingegen nach einer systematischen Literaturanalyse von Roffey et al. [
66] kein kausaler Zusammenhang zwischen Gehen und Stehen während der Arbeit und lumbalen Rückenschmerzen nachzuweisen ist. Neben dem langen Stehen sind repetitive Tätigkeiten, v. a. bei extendierter oberer Extremität, ein Risikofaktor für das Auftreten von muskuloskeletalen Erkrankungen und Beschwerden der oberen Extremität [
48]. So führte, nach einer Untersuchung von Tabatabeifar et al. [
75], eine dreiwöchige repetitive Arbeit zu einer reversiblen Verschlechterung einer N.-medianus-Symptomatik. Hierbei wurde die Nervenleitgeschwindigkeit vor, während und nach Saisonarbeit mit hohem Anteil repetitiver Tätigkeiten gemessen. Als Kriterien zur Risikobewertung repetitiver Tätigkeiten definieren Silverstein et al. [
71] sowohl die Frequenz der Wiederholungen als auch die benötigte Kraft. Definiert als hochfrequente repetitive Arbeit waren hierbei Zyklen von mehr als 30 s Dauer, bei der mehr als 50 % derselben Bewegung zugeordnet wurden. Einer niederfrequenten repetitiven Arbeit wurden alle Arbeitszyklen zugerechnet, die mehr als 30 s Dauer und weniger als 50 % sich wiederholender Tätigkeit aufweisen. Zur Beurteilung der benötigten Kraft wurde in dieser Arbeit zwischen der Handhabung von Gewichten >4 kg bzw. <1 kg unterschieden [
71]. Weiter differenziert wurden diese Kriterien zur Erfassung eines hohen Risikos für das Auftreten von Muskel-Skelett-Erkrankungen durch die Arbeit von Kilbom [
29,
30]. Entsprechend angelehnt an eine Arbeit von Kilbom [
29,
30] haben sich für die obere Extremität die in Tab.
2 aufgeführten Frequenzen als Grenzen zur Risikoeinschätzung repetitiver Tätigkeiten herauskristallisiert. Das Zusammenspiel aus manövrierter Last und Repetitionsfrequenz bezeichnen Moore und Garg [
74] in ihrer Arbeit zum Belastungsindex als Leistung pro Minute. Zudem beschreiben sie als weitere Faktoren die Intensität der Kraftanstrengung sowie die Geschwindigkeit, die Dauer der Kraftanstrengung pro Zyklus, Tagesgesamtdauer der ausgeübten Tätigkeit sowie die Gelenkstellung, in welcher die Tätigkeit ausgeübt wird.
Tab. 2
Empfohlene Grenzwerte zur Einschätzung „hohes Risiko“ bei repetitiven Tätigkeiten. (Nach Kilbom [
29,
30])
Schulter | >2,5/min |
Oberarm | >10/min |
Unterarm/Handgelenk | >10/min |
Finger | >200/min |
Neben repetitiven Tätigkeiten waren weitere Faktoren mit erhöhter Prävalenz für muskuloskelettale Fehlfunktionen der oberen Extremität Vibrationen, statische Belastungen und schlechte psychosoziale Konditionen [
31]. Für das Ausmaß der Belastung durch repetitive Tätigkeiten sind neben der Konstitution der Teilnehmenden auch Größe, Gewicht und Position der zu bewegenden Gegenstände entscheidend [
64]. Die richtige Lastenhandhabung ist ausschlaggebend zur Prävention arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen. Richtiges Anheben und körpernahes Tragen von Lasten, das durch arbeitsmedizinische Unterweisungen vermittelt werden kann, ist hierbei von essenzieller Bedeutung [
72].
Neben dem Tragen von Lasten ist auch das Bewegen von Wagen eine häufige Lastenhandhabung, die nach der Bekanntmachung der arbeitsmedizinischen Regel 13.2 (Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System) der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2014, zu den körperlichen Belastungsarten hinzuzuzählen ist [
27]. Ziehen und Schieben belastet insbesondere die obere Extremität und die Schulter sowie den lumbosakralen Übergang [
28]. Die Belastung lässt sich nach der Leitmerkmalmethode, herausgegeben von der BAuA und LASI, abschätzen. Diese berücksichtigen Zeitdauer bzw. Häufigkeit, Masse, Positionierungsgenauigkeit und Geschwindigkeit, Körperhaltung und äußere Bedingungen [
28].
Die Ergebnisse einer Studie zu alters- und berufsgruppenabhängigen Unterschieden durch häufige Muskel-Skelett-Erkrankungen zeigen, dass erhöhte Arbeitsunfähigkeitsrisiken durch MSE besonders in Berufsgruppen der Produktion und des Dienstleistungsbereichs mit geringem und mittlerem Qualifikationsniveau bestehen [
43]. Zu Berufsgruppen mit niedrigem Qualifikationsniveau zählen unter anderem die Mitarbeiter von Krankenhausgroßküchen [
43].
Shankar et al. [
70] haben sich mit der Prävalenz von Schmerzen im Lendenwirbelbereich von Großküchenarbeitenden beschäftigt. Dabei ergab sich ein durchschnittliches Beschwerdeauftreten von 65,8 % und bei den ≥41-jährigen Mitarbeitenden eine Prävalenz von 92,9 %. Bei einer Untersuchung der Gesundheitsrisiken in Kantinenküchen gaben die Mitarbeitenden vermehrt Schmerzen im Schulterbereich an, welche von Pekkarinen et al. [
63] auf zu hoch eingestellte Arbeitsflächen zurückgeführt werden. Eine Analyse bezüglich der ergonomischen Arbeitsplatzverhältnisse im Spülbereich einer Krankenhausküche aus dem Jahr 2000 [
22] ergab, dass für diese Arbeitstätigkeit einseitige körperliche Belastungen und teilweise maschinengebundene Arbeitstakte charakteristisch sind. Darüber hinaus wurden ein hoher Grad an Hebe- oder Haltevorgängen und sehr lange andauernde Arbeitsprozesse im Stehen verzeichnet. Belastungen des Muskel-Skelett-Systems treten im Arbeitsalltag von Großküchen beispielsweise bei der Anlieferung und Lagerung von Waren, der Spülgutsortierung und der Spülmaschinenbestückung- bzw. Entleerung sowie der regelmäßigen Überkopfarbeit beim Stapeln von Tabletts und ergonomisch ungünstigen Körperhaltungen durch starkes Vorbeugen beim Säubern der Tablettwagen und weiteren Küchenutensilien auf [
21].
Diskussion
Krankenhausgroßküchen kommt eine entscheidende Rolle in der Patientenversorgung und der Bedeutung einer bedarfsgerechten Ernährung im Rahmen der Behandlung von Patient*innen zu. Ein resilientes, leistungsfähiges und optimal geschultes Küchenpersonal ist daher unerlässlich, um die bedeutsame Patientenversorgung zu gewährleisten. Im Alltag sind die Mitarbeitenden in Krankenhausküchen jedoch mit vielfältigen physischen und psychischen Belastungen konfrontiert. Analysen des Arbeitsalltags des Küchenpersonals in Krankenhauskantinen ermöglichen es, psychische und physische Belastungen oder Überlastungen zu erkennen. Für die Bewertung der Belastung verschiedener Körperhaltungen existieren nationale (DIN), europäische (CEN) und internationale Normen (ISO) [
69]. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit Themen wie der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen und Produkten oder Körpermaßen und Körperkräften [
41].
Mit dem Ziel der Vermeidung und Minimierung von Gefährdungen sind darüber hinaus Maßnahmen und Lösungen in der DGUV Regel 110-003 „Branche Küchenbetriebe“ für die in Großküchen vorhandenen Arbeitsplätze und Tätigkeiten beschrieben [
12]. Am Beispiel des Hebens und Tragens von Lasten stehen in diesem Zusammenhang die Leitmerkmalmethoden „Heben, Halten, Tragen“ bzw. „Ziehen, Schieben“ zur Beurteilung von häufigen Belastungen des Muskel-Skelett-Systems zur Verfügung und geben Aufschluss darüber, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind [
12]. Optimale Arbeitsbedingungen repräsentieren für alle Beschäftigten in diesem Bereich eine wichtige Voraussetzung dafür, Arbeitsbelastungen und Gesundheitsrisiken zu minimieren, um eine entsprechende Qualität in der Patientenversorgung zu gewährleisten. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der praxisnahen Forschung wurden bisher vernachlässigt und sollten zukünftig eine größere Rolle bei der Identifikation von Gesundheitsbelastungen und Risikofaktoren hinsichtlich der täglichen Arbeit des Personals in Krankenhausgroßküchen einnehmen.
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