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Erschienen in: Manuelle Medizin 2/2017

Open Access 21.03.2017 | Arthrosen | Übersichten

Arthrose multidimensional behandeln

verfasst von: Dr. M. Pinsger, MSc

Erschienen in: Manuelle Medizin | Ausgabe 2/2017

Zusammenfassung

Die letzten Jahre haben eine Vervielfachung unseres medizinischen Wissens gebracht. Die Zunahme der Evidenz bedeutet jedoch nicht, dass dieses Wissen auch fachgerecht an den Patienten herangebracht wird. Im Unterschied zu akuten Erkrankungen, bei denen Heilung mit exakten therapeutischen Schritten ermöglicht wird, stellen chronische Erkrankungen eine große Herausforderung in vielerlei Hinsicht dar. Im Vordergrund steht nicht mehr die isolierte Organpathologie, sondern der Mensch mit seinen Erfahrungen und seinen Ressourcen. Diese Erkenntnisse erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Schaffung multiprofessioneller Einheiten bzw. Netzwerke. Dieser Beitrag soll die Notwendigkeit einer vielschichtigen Betrachtung der Arthroseerkrankung untermauern, um dem Arzt, aber auch dem betroffenen Patienten in seinen Entscheidungen ein breites Angebot an Möglichkeiten und ein nachhaltiges Rüstzeug zu geben.
Hinweise
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, gehalten auf dem Kongress Knie- und Schulterschmerzen – ein häufiges Problem in der Praxis in Pörtschach am Wörthersee im Juli 2016.
Die letzten Jahre haben tiefgreifende Veränderungen gebracht. Einerseits hat sich unser Lebensstil durch zunehmende Digitalisierung und Automatisierung von körperlicher Bewegung abgewandt, andererseits wurde den Ärzten und Therapeuten durch Arbeitsverdichtung und Mangelverwaltung sowie Dokumentation die Kontaktzeit zum Patienten wegrationalisiert. Die Aufwertung der medizinischen Einzelleistung gegenüber einer längerfristigen Begleitung und Steuerung nimmt den Patienten ihre Selbstwirksamkeit und führt indirekt zu einer Kostenexplosion. Immer mehr Menschen versagen in diesen rein „ökonomisch“ geleiteten Strukturen. Es wird nicht mehr gesprochen, geschweige denn berührt – SMS und E‑Mail sind die reduzierten Kommunikationsstrukturen. Gerade in diese Zeit fallen die Erkenntnisse des Neurozentrismus und der Epigenetik. Diese Erkenntnisse erfordern ein rasches Umdenken. Die Pflege der Patient-Therapeut/Arzt-Beziehungen ist wieder aktuell. Längerfristig funktionierende Netzwerke und längerfristige Behandlungskonzepte sind dringend notwendig. So verlockend es auch sein mag, Einzelleistungen hochdotiert zu erbringen und zu verrechnen, so ineffektiv sind diese Verfahren in Anbetracht der aktuellen epigenetischen und neurozentristischen Diskussion. Die Hinwendung zu multidimensionalen Analysen und multimodalen Therapieansätzen sollte auch die derzeitigen Strukturen verändern. Medizinische Einheiten sollten überschaubar, komplex organisiert, persönlich und wohnortnah sein. Großversorgungszentren, so wie in Österreich derzeit geplant, sind sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss.

Biopsychosoziales Modell

Meine ersten Gehversuche in der Medizin erhielt ich von meinem Vater. Er war damals bereits jahrzehntelang als Gemeindearzt (Allgemeinmediziner) und Zahnarzt auf dem Land tätig. Diese ersten Eindrücke bei unseren Visiten z. B. an entlegenen Bauernhöfen haben mein medizinisches Verständnis zutiefst geprägt. Dabei wurde nicht nur ein Patient therapiert, sondern die ganze Familie und Freunde waren oft zugegen, und mein Vater versorgte dabei gleichzeitig unterschiedlichste Beschwerden bei einer Gruppe von Menschen. Körperliche Belastungen am Hof oder beim Hausbau wurden dabei ebenso augenscheinlich wie die sozialen Spannungen in den Familien und Beziehungen. Schon der Blick in die Stube verriet oft den Mangel an Hygiene und Ressourcen und limitierte die Möglichkeit der optimalen Intervention außerordentlich. Trotzdem schaffte es mein Vater, mit einem Minimum an Intervention ein Maximum an Effektivität zu erzielen [1]. In keinem Buch konnte ich diese Interventionen wiederfinden. Sie waren Ergebnis eines intuitiv eingesetzten enormen Fachwissens und der persönlichen und empathischen Vorgangsweise.

Hohes Lied auf die manuelle Medizin

Im Jahr 1985 besuchte ich meinen ersten Kurs für manuelle Medizin bei Prof. Tilscher in Pörtschach. In vielen Wochen am Wörthersee lernten wir Palpation, Mobilisation, Manipulation, Stretching u.v.a.m. Der Zeitdruck in vielen Praxen unterbindet heute den körperlichen Kontakt zum Patienten. Sicherlich, auch ein gutes und ausführliches Gespräch kann schon recht heilsam sein. Das Berühren des Patienten, die Anwendung von Griffen steigern jedoch die gemeinsame Realität mit dem Patienten um „Quantensprünge“. Dabei lassen sich nicht nur viele körperliche Qualitäten erspüren, auch Schmerz, Schmerzschwelle, Angst und Depressivität spiegeln sich in der manuellen Behandlung wider [2]. Allein diesen Vorgang des Untersuchens und Behandelns durch einen erfahrenen Manualmediziner zu dokumentieren, würde in wenigen Minuten etliche Din-A-4-Seiten füllen. Für mich ist diese Form der Medizin Diagnostik, Hilfe zur Planung einer Behandlungsstrategie, Startschuss für die Rehabilitation durch initiale Behebung von Defiziten, Sensibilisierung der Patienten durch Schulung und Fokussierung der Aufmerksamkeit, natürlich oft primäre Schmerzreduktion, Auslösen von „placebo-related effects“ und auch Überprüfung des Behandlungs- oder Rehabilitationserfolgs.

Bewegungsmangel und Myokine

Infobox 1 Myokine
  • PGC-1α („peroxisome proliferator-activated receptor-γ-co-activator“)
  • BDNF („brain-derived neurotropic factor“)
  • IL-6 (Interleukin 6)
  • TNF-α („tumor necrosis factor alpha“)
  • IGF-1 („insulin-like growth factor 1“)
  • DOMS („delayed onset muscle soreness“)
Diese Myokine sind entzündungshemmend, knochenstärkend, neuroprotektiv, neuroregenerativ, vaskularisierend, oxidativ anstatt glykolytisch etc.
Unsere digitalisierte Gesellschaft leidet unter einem zunehmenden Bewegungsmangel. Auf die Frage, auf wie viele Stunden Bewegung er so in der Woche komme, antwortete einer meiner Patienten, 16 Jahre alt, nach langem Nachdenken: ca. 1 h und 20 min! Dies ist wohl kein Einzelfall, und es muss davon ausgegangen werden, dass sich diese negative Entwicklung noch weiter fortsetzen wird.
Unsere Muskulatur, die etwa 60 % unserer Körpermasse ausmacht, ist eine Hormondrüse. Einmal in Bewegung gesetzt, werden geschätzte 400 unterschiedliche Proteohormone von der aktiven Muskulatur abgesondert [3]. Ich habe einige davon herausgegriffen (Infobox 1) und will damit zeigen, wie dadurch eine Reihe von recht wertvollen gesundheitlichen Aspekten abgedeckt wird. Nicht alle Myokine sind erforscht, die genannten führen jedoch zu etlichen Wirkungen, die für Gelenke, Muskulatur, Knochen und Nervensystem von großer Bedeutung sind. Somit ist Bewegung generell ein entscheidender präventiver, aber auch therapeutischer Faktor, der nicht außer Acht gelassen werden darf. Vor allem die entzündungshemmende Wirkung bei diversen Prozessen der aktivierten Arthrose sollte unsere Aufmerksamkeit wecken.
Bewegung ist ein entscheidender präventiver und therapeutischer Faktor
Mit den Myokinen besitzt unser Körper somit einen ganz wichtigen, auch epigenetisch wirksamen Mechanismus. Dadurch könnten Dosiseskalationen oder unerwünschte Nebenwirkungen durch medikamentöse Dauertherapien reduziert werden. Die Wirksamkeit dieser Proteohormone ist meist mit 48–72 h limitiert, sodass auf die Disziplin und Regelmäßigkeit sportlicher Aktivitäten hingewiesen werden sollte. Eine Bewegungseinheit jeden 2. Tag von ca. 1–1,5 h wäre schon ausreichend, um unsere Gelenke in Schwung zu halten. Studien zeigen die Bedeutung von Bewegungstherapie auch im hohen Alter: 35 min Bewegung 2‑mal pro Woche könnten eine Sarkopenie verhindern helfen.

„Freezing“

Im Falle einer Gelenkerkrankung mit Schwellung, Bewegungseinschränkung und starken Schmerzen kann es schon nach wenigen Minuten zu einer Mitreaktion des limbischen Systems und Hirnstamms kommen. Es entstehen Gefühle der Verärgerung (z. B.: Ich kann am Wochenende mit den Kindern nicht Skifahren gehen), Gefühle der Angst (z. B.: Wird das noch einmal ganz gut, wie soll ich nächste Woche arbeiten gehen) und Gefühle der Niedergeschlagenheit (z. B.: Nur mir muss so etwas wieder passieren, ich bin ein echter Pechvogel).
Bei gravierenden Fällen (z. B. bei einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom, CRPS) fällt unser Gehirn zusätzlich in eine Art „Todesstarre“. Nachdem mit dem geschwollenen, schmerzenden Knie Flucht und Angriff nicht möglich erscheinen, bleibt das Erstarren („freezing“; [4]). Vermeidung („avoidance“) führt in die Belastungsunfähigkeit („disability“) ist eine zentrale Aussage im Schmerzgeschehen wie auch in der Rehabilitation.
Je länger dieses Bild des „freezing“ andauert, desto dramatischer sind die Auswirkungen für den Betroffenen und sein soziales Umfeld. Häufig kommt es im Zusammenhang mit diesen Einsteifungen zu einer zentralen Sensibilisierung und damit zu einer dauerhaften negativen Beeinflussung der Schmerzmatrix.

Vereinsamung und Depression

Der andauernde Schmerz einer aktivierten Arthrose mit und ohne Einsteifung oder funktionellem Defizit, behindert immens. Die sozialen Kontakte werden eingeschränkt. Mangelhafter Nachtschlaf und ständige Überreizung sind nicht nur persönlich ärgerlich, sondern bringen auch Beziehungen ins Wanken. Der Betroffene zieht sich zurück, legt sich hin, um Ruhe und Kraft zu schöpfen. Aber das ist der völlig falsche Weg, so entsteht keine Kraft: ohne Bewegung keine Myokine, keine ausreichenden sozialen Kontakte. Ohne es zu wollen, begibt sich der Patient in Rückzug, Vermeidung und Isolation. Und diese Isolation und Einsamkeit wiederum verstärken den Schmerz. Studien von Eisenberger [5] und Panksepp [6] zeigen diese Zusammenhänge sowohl im Tierversuch als auch in Studien zur funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Dabei aktiviert körperlicher und sozialer Schmerz den anterioren zingulären Kortex gleichermaßen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Körperlicher, sozialer und psychischer Schmerz werden an ein und derselben Stelle im Gehirn verarbeitet; sozialer oder psychischer Schmerz kann somit körperliche Probleme aggravieren und umgekehrt. Ausgrenzung schmerzt und führt uns in die reaktive Depression.

Suchen und finden

Nur wenn wir Auswege finden, Therapien starten, Aktivitäten setzten, Strukturen und Strategien optimieren und Resilienz (Nachhaltigkeit) suchen, können wir im Fall der Erkrankung gewinnen. Suchen und finden sind für die Menschen erkenntnisfördernde Eigenschaften – jedes Kind liebt das Versteckspiel. Dies sollte auch für uns und unsere Patienten Prämisse sein. Häufig geschieht jedoch viel zu wenig und die Fortschritte bleiben aus. Dabei ist es so einfach, in einem multimodalen Setting den gerade richtigen Ansprechpartner bzw. das gerade notwendige Therapeutenteam ausfindig zu machen. Bleibt dieses schnelle, erst interventionelle, dann aber auch begleitende, präventive Konzept aus, gewinnen Vermeidung, Angst und Depressivität die Oberhand. Das therapeutische Fenster kann oft nur wenige Stunden, Tage oder Wochen betragen, je nach Intensität der Schmerzen, Ausmaß der Behinderung, Möglichkeiten des sozialen Netzwerks (z. B. Schnelligkeit der Diagnosefindung mittels MRT, rasche Terminvermittlung zum Arzt oder Therapeuten). Liegt dieses Fenster weit zurück, muss eine palliative Therapie vorgeschlagen werden, völlige Symptomfreiheit ist bereits eine Illusion. Ziel einer solchen palliativen Therapie ist es, Schmerzen zu reduzieren und dem Patienten durch aktivierende Maßnahmen eine möglichst hohe Lebensqualität wiederzugeben. Meist ist eine langjährige extensive, jedoch regelmäßige Begleitung durch das Therapeutenteam am effektivsten. Das Behandlungsrisiko ist dabei am niedrigsten, der subjektive Qualitätsgewinn am größten.

„Total pain“ und „total distress“

Cecile Saunders hat dieses Prinzip in der Palliativmedizin der 1970er Jahre geprägt. An diesem Prinzip hat sich bis heute nichts geändert. Eine massive Bewegungseinschränkung, ein hohes Schmerzniveau über viele Wochen oder Monate ohne erkennbares Ende, fehlende soziale Unterstützung, psychischer Absturz und zusätzlich fehlender spiritueller Anker lassen den Betroffenen am Leben verzweifeln. Im Rahmen des CRPS (z. B. nach operativen Gelenkeingriffen oder Endoprothesenimplantation, posttraumatisch, bei „frozen shoulder“ oder Arthrofibrose) sind solche Zustände des „total pain“ oder „total distress“ nicht selten [7].
In diesen Situationen können beispielsweise medikamentöse Behandlungen des inhibitorischen GABAergen Systems, des antidepressiven serotoninergen und noradrenergen Systems, aber auch des modulierenden, sehr breit wirkenden cannabinoiden Systems hilfreich sein. Sowohl in der palliativen als auch in der akuten Schmerzsituation mit hochgradigem Disstress und „freezing“ sind Kombinationen aus z. B. Gabapentin/Pregabalin plus biphasische Antidepressiva und Cannabinoide oft sehr Erfolg versprechend. Diese Maßnahmen sollten mit möglichst viel Mobilisation und Bewegung kombiniert werden.
Ohne Behandlung besteht die Gefahr, dass das gesamte Gehirn ungeschützt dem Schmerzstress ausgeliefert bleibt und so durch eine zunehmende Synchronisation alle Lebenssituationen durch den Schmerz und die Begleitumstände vereinnahmt werden. Der Betroffene wird unvermeidlich zum chronischen Schmerzpatienten. Die Auswirkungen auf Arbeitssituation, familiäre Situation, psychische Situation und die Kosten für das Gesundheitssystem sind enorm.

Opiate, Cannabinoide, lokale Opioidanalgesie

Viele Menschen betreiben regelmäßig Sport. Ab einem gewissen Alter (etwa 50 plus) ist zu Beginn des Trainings ein gewisser Anlaufschmerz oder Steifigkeit normal. Kommt der Organismus jedoch in Schwung, schüttet er Endorphine und Endocannabinoide aus. Aufgrund dieser schmerzhemmenden Phänomene, die gleichzeitig Ausdauer und Durchhaltevermögen stärken, lieben Sportler ihre Aktivitäten und werden sie auch diszipliniert aufrechterhalten. Diese „placebo-related effects“ halten viele Stunden vor und machen schmerzarm, angstfrei, leicht euphorisch und vermitteln ein Gefühl der Ruhe bei ausreichender exekutiver Funktion. Die ständige Diskussion um den Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerztherapie sollte sich unter diesen Vorzeichen des Mitwirkens am Placeboeffekt erledigt haben. Bei der medizinischen Nutzung von Cannabinoiden [8] kann die Personengruppe, die diese Substanzklasse auf keinen Fall erhalten sollte, mit großer Sicherheit ausgefiltert werden. Dies betrifft Schwangere wegen epigenetischer Schäden (Cannabinoide können in dieser Situation 3 Generationen schädigen: Mutter, Kind und Keimzellen des Fötus), Kinder und Jugendliche wegen der Störung des unausgereiften Gehirns durch neuroplastische Veränderungen (amotivationales Zustandsbild) sowie Menschen mit Psychosen oder Diathese für Psychose (können in dieser Situation Psychosen auslösen).
Der Einsatz von Opiaten hingegen ist beim benignen Schmerz seit 1998 geregelt. Hier gibt es weniger Berührungsängste.
Die Lösung aus Lokalanästhetikum und Opioid löst völlige Schmerzbefreiung aus
Im Rahmen der Behandlung von Gelenken hat sich auch die lokale Applikation von Opioiden bewährt [9]. Dazu gibt es eine ganze Reihe von kleineren Studien, die Evidenzlage ist jedoch nicht sehr gut. Meine klinische Erfahrung im Off-Label-Use in den letzten 20 Jahren sind recht erfreulich und für mich aus der klinischen Praxis nicht wegzudenken. Nachdem Gelenke ein ganz klar definiertes Kompartment haben, kann die Lösung aus Lokalanästhetikum und Opioid (ca. 4 mg Hydromorphon-Äquivalenz) gut lokal appliziert werden und löst schon nach wenigen Minuten eine völlige Schmerzbefreiung oft auch nach jahrelangem Disstress aus. Die lokalen Wirkungen werden unterschiedlich diskutiert. So könnte es sich um eine Wirkung an durch die Entzündung exprimierten peripheren Opioidrezeptoren handeln. Andererseits werden auch epigenetische Mechanismen bei der Entwicklung von Makrophagen diskutiert. Der Einfluss auf Schmerz und Entzündung ist jedoch evident, wobei der Vorteil auch in einer Einsparung von Kortison liegt. Diabetiker profitieren ebenso wie chronische Schmerzpatienten, bei denen eine ständige Kortisongabe ungünstige Auswirkungen hätte. In ca. 8–10 min kommt es auch zu einer sanften systemischen Wirkung, wobei die Anflutung Schmerz, Angst und Depressivität blockiert. Diese Wirkung kann klinisch über mehrere Wochen verfolgt werden. Eine Wiederholung der Prozedur nach 3 bis 4 Wochen erscheint bei Restschmerzen sinnvoll. Eine Suchtentwicklung wird bei diesen Gaben unter Einhaltung der Dosierung und der Intervalle nicht beobachtet. Auch bei dieser Behandlungsform ist das Ausnützen der Schmerzarmut für die Rehabilitation zwingend.

Arthrose, Inflammation, Osteoarthritis

Wurde lange Jahre in der Orthopädie eine strikte Trennung zwischen degenerativen und entzündlichen Arthrosen, Arthritis, aufrechterhalten, kann dieser Ansatz unter dem heutigen medizinischen Wissen nicht mehr gelten.
Schmerzhafte Gelenke haben meist beide Komponenten, wobei beim rheumatischen Patient der entzündliche Prozess im Vordergrund liegt. Völlig ruhende Arthrosen sind jedoch meist auch ohne Klinik.
Was macht nun Entzündung aus? Entzündung ist das größte Problem des älteren Menschen. Die verschiedensten Ursachen können Entzündung oder Inflammasome auslösen. Zu nennen sind hier neben der mechanische Überlastung und Übergewicht die Ernährung mit Zuckerspitzen, Überschuss an Arachidonsäure, zu viel Fettpolster (v. a. am Bauch), Rauchen, Bewegungsmangel, Stress etc. Entzündung ist ein sehr komplexes Problem und sollte den Menschen klar vor Augen führen, dass Bewegung, Ernährung, Gewicht und Stress zusammenhängende Elemente einer Erkrankung sind und nicht allein oder getrennt abgehandelt werden dürfen. Die regelmäßige Gabe von Antirheumatikum plus Magenschutz bei Arthrose, Bewegungsmangel, Stress und Übergewicht ist somit für mich so nicht denkbar. Dabei fehlt die Eigenverantwortlichkeit, die Nachhaltigkeit und jeglicher präventive Gedanke.

Vitamin-D-Upload und 1000 Gene

Bei den Blutuntersuchungen in meiner Ordination sehe ich einen Großteil der Arthrosepatienten mit niedrigen oder katastrophalen Vitamin-D3-Werten. Vitamin D ist, wie wir wissen, kein Vitamin, sondern das „Sonnenhormon“. Wir können es mit der Nahrung trotz Fettfisch, Käse und Ei meist nicht ausreichend zuführen. Jede Zelle hat jedoch einen Vitamin-D-Rezeptor und dieser steuert die Expression von ca. 1000 Genen [10]. So ist heute Vitamin D das Medikament in der Geriatrie, im Wachstum, während der Stillzeit und auch bei aktivierter Arthrose oder Osteoporose [11].
Vitamin D3 ist ein Alleskönner
Viele Ärzte befassen sich nicht mit den Blutwerten, sondern geben die Erhaltungsdosis von ca. 14.000 Einheiten Vit D3 wöchentlich. Damit können jedoch starke Mängel nicht oder viel zu langsam ausgeglichen werden. So habe ich es mir zur Praxis gemacht, anfangs pro Tag ca. 8000 Einheiten Vit D3 zu verabreichen und damit den Vitamin-D3-Wert auf der Skala 30–70 µg/L ca. 4 bis 5 Punkte pro Woche zu verbessern. Hat ein Patient einen sehr niedrigen Vitamin-D3-Spiegel (z. B. 4 µg/L), gebe ich initial 7 bis 8 Wochen 8000 Einheiten Vit D3 täglich, um dann auf die Erhaltungsdosis von 12.000–16.000 Einheiten Vit D3 wöchentlich überzugehen. Nach 3 Monaten erfolgen Laborkontrolle und Evaluation. Oft können die Patienten dann gar nichts Genaues berichten. Vielen geht es jedoch merklich besser, schmerzhafte Endoprothesen sind wieder stumm, Osteoporoseschmerzen sind gebessert oder verschwunden, die allgemeine Muskelkraft nimmt zu, die Aktivierung der Arthrose lässt nach. Zusätzlich kommt es zu einem positiven Effekt auf das Immunsystem. Infekte bleiben aus oder werden sanfter und kürzer, evtl. ist kein Antibiotikum notwendig; auch Karzinome, v. a. Absiedlungen im Knochen, sollten ausbleiben. Vitamin D3 ist ein Alleskönner, der immer im Auge behalten werde sollte.

Vom Neurozentrismus zur Epigenetik

Im Gegensatz zu Opioiden und Cannabinoiden, deren zentrale Wirkung jeder gut spüren kann und die unserer Verhalten blitzschnell ändern und modifizieren können, sind die epigenetischen Veränderungen wenig spürbar. So wie das Vitamin D3 viele Monate benötigt, um seine Wirkung zu entfalten, sind auch alle anderen epigenetischen Mechanismen kaum zu spüren und dennoch von größter Bedeutung.
Epigenetische Mechanismen beeinflussen über DNA-Methylierung, Histon-Acetylierung und nichtkodierende DNA massiv die Aktivierung und das Silencing von Genen [12]. Das Fehlen körperlicher Aktivität, aber auch Fehlernährung, hohes Körperfett, Stress etc. führen zu massiven Veränderungen in unserer Epigenetik. Der moderne Therapeut benötigt somit eine mehrschichtige, multidimensionale Metaebene, um all dieser Mechanismen gewahr zu werden und dem Patienten mithilfe eines Behandlungsrituals oder einer multimodalen Therapie die notwendigen Korrekturmaßnahmen zu verdeutlichen. Bewegung, Ernährung, Kommunikation, Beziehung, Beruf, Schlaf und Regeneration bilden unseren epigenetischen Abdruck. Sprüche wie „Du bist, was Du isst!“ oder „If you don’t use it, you loose it!“ kommen somit nicht von ungefähr.

Mimikry der Kalorienreduktion

Unser Gehirn liebt Zucker („selfish brain theory“). Zucker wird im Körper 100-mal leichter abgebaut und verbrannt als Fett. Fett ist unser Depot für schlechte Zeiten. Die Probleme dabei sind:
  • Zucker erzeugt hohe Insulinspiegel und damit Hunger.
  • Hohe Insulinspiegel verursachen Insulinresistenz und führen oft zum Typ-2-Diabetes.
  • Hohes Insulin erzeugt einen hohen Spiegel an „insulin-like growth factor“. Dieser wiederum bewirkt die Ausschüttung von Inflammasomen.
  • Solange im Körper Zucker vorhanden ist, wird kein Fett abgebaut. Die Menschen nehmen andauernd zu, obwohl sie wenig essen.
Erst ausdauernder Sport mit hoher Intensität oder längere Ernährungs- oder Zuckerpausen helfen ab. Erst nach 12–14 h Nahrungspause wird Fett mobilisiert. Dabei gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten, abzunehmen bzw. seine endogenen Entzündungen zu kontrollieren [13]: Ernährungsumstellung, intermittierendes Fasten (14/10 h oder 16/8 h bzw. 2 Tage fasten, 5 Tage essen) oder Heilfasten über 7 bis 14 Tage [14]. Dabei kommt es zu folgenden Mechanismen:
  • Fett wird abgebaut.
  • Muskel wird normalerweise nicht abgebaut.
  • Buttersäure wirkt im Gehirn auf GABAerge Synapsen und das sog. Fastenhirn tritt auf.
  • Beim Heilfasten kommt es am 2. oder 3. Tag zu einer Fastenkrise. Sobald diese überstanden ist, bleibt der Fastende ruhig, entspannt, und die Entzündungen weichen aus dem Körper.
  • Auch ein Anti-Aging-Effekt ist zu beobachten.

Von der multimodalen Betreuung zum Behandlungsritual

Aus den bisherigen Ausführungen wird klar, dass moderne Behandlungskonzepte keine effekthaschenden Einzelleistungen sein können, sondern dass eine solide multidimensionale Therapie angeboten werden sollte. Das was am Anfang teuer klingt (schnelle genaue Diagnostik, komplexes Behandlungskonzept, intensive Konfrontation des Patienten, aufklärende Maßnahmen, weg von der reinen Schmerzreduktion), erweist sich später als höchst effektiv und nachhaltig.
Eine Vielzahl von Therapien sollte simultan angeboten werden
So war es mir wichtig, in meinem Schmerzkompetenzzentrum eine Vielzahl von Therapien simultan oder geringfügig zeitversetzt anbieten zu können. Der Ausspruch „Nehmen sie ab, Sie sind zu dick!“ ist aus meinem Repertoire gestrichen. Stattdessen wird von Epigenetik, Inflammasomen und der heilsamen Wirkung der Lipolyse gesprochen. Auch Bewegung ist nun kein sinnloses Schwitzen unter Bodybildern, die scheinbar ohne Verstand trainieren, sonders das regelmäßige Locken der Myokine, Endorphine und Endocannabinoide. So pilgert der beispielsweise übergewichtige, gestresste Arthrosepatient von der Diätassistentin zum Sportwissenschaftler und für das Resilienztraining zur Psychologin. Zuvor hat der Orthopäde den Kniegelenkerguss punktiert und die MRT-Befunde mit dem Patienten und dem Behandlerteam diskutiert. Auch Magnesium, Kalzium und Vitamin D dürfen nicht fehlen und der mangelnde Nachtschlaf bei chronischen Schmerzen wird mit Gabapentin oder Cannabinoiden verbessert. Oft steckt jedoch hinter chronischen Erkrankungen eine Vielzahl von Problemen, die sich einer rein medizinischen Diagnose entziehen. Das multimodale Setting [15] hat auch für diese Probleme eine Lösung.

Multimodales Projekt

Wenn Probleme nicht völlig fassbar sind oder Behandlungsergebnisse immer wieder stagnieren, sind oft Projekte zielführend. Dabei hilft die Gruppe, die, zu einer Familie kurzfristig zusammengeschmiedet, Interaktionen ermöglicht, die sonst nicht denkbar wären.
Unser Schmerzzentrum bietet u. a. einen Tanzkurs [16] für Arthrosepatienten. Durch die positive Emotion und Energie der Musik soll Schmerz beim Tanz unterdrückt, der Patient aus der Einsamkeit herausgeführt werden und so ein positives Gipfelerlebnis zu nachhaltigen Veränderungen verhelfen.
Des Weiteren gibt eine multimodale Schmerzgruppe, in der Betroffene ihre Lebenssituation neu begreifen und verstehen lernen. Achtsamkeit, regelmäßige Bewegung, Ernährung und Resilienz sind dabei wichtige Eckpfeiler.
Die Heilfastengruppe beschäftigt sich während einer Woche des Saftfastens mit Gewichtsreduktion durch Lipolyse und den positiven Wirkungen eines umfassenden begleitenden psychologischen, diätetischen und bewegungstherapeutischen Programms.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Pinsger: beratende Tätigkeit für Pharma-Unternehmen (Bionorica und AOP Orphan).
Dieser Beitrag beinhaltet keine von dem Autor durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Literatur
2.
Zurück zum Zitat Tilscher H, Eder M (2008) Manuelle Medizin – Konservative Orthopädie Vom Befund zur Behandlung. Maudrich, Wien Tilscher H, Eder M (2008) Manuelle Medizin – Konservative Orthopädie Vom Befund zur Behandlung. Maudrich, Wien
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Metadaten
Titel
Arthrose multidimensional behandeln
verfasst von
Dr. M. Pinsger, MSc
Publikationsdatum
21.03.2017
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Manuelle Medizin / Ausgabe 2/2017
Print ISSN: 0025-2514
Elektronische ISSN: 1433-0466
DOI
https://doi.org/10.1007/s00337-017-0246-8

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