Krebstherapie: Zurück zu den Zytokinen

Zytokine gehörten zu den ersten zugelassenen Krebsimmuntherapien. Heute haben sie stark an Bedeutung verloren. Das könnte sich bald aber ändern, legen bei der Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) diskutierte Studiendaten nahe. Wer den Begriff Krebsimmuntherapie hört, denkt derzeit wohl als erstes an die Checkpointhemmung – und dann vielleicht noch an Behandlungen mit Antikörpern wie Rituximab oder mit sogenannten CAR(„chimeric antigen receptor)-T-Zellen bei hämatologischen Neoplasien. Eine Substanzklasse, aus der die ersten zugelassenen Immuntherapeutika stammten, ist darüber etwas in Vergessenheit geraten: Zytokine. Zytokine sind Proteine, die natürlicherweise bei vielen Lebewesen vorkommen und dort an fast allen biologischen Prozessen beteiligt sind. Im Krebskontext sind Zytokine vor allem aufgrund ihrer Funktionen für die Zellproliferation und das Immunsystem relevant. Daher sind hier primär drei Zytokinarten wichtig: Interferone (IFN): Verschiedene immunstimulierende Signalmoleküle, darunter zum Beispiel IFN-α oder IFN-γ; Interleukine (IL): Immunstimulierende und proentzündliche Signalmoleküle, aber auch solche, die Immun- und Entzündungsreaktionen abschwächen. Sie werden nach der Reihenfolge ihrer Entdeckung bzw. Beschreibung mit Zahlen gekennzeichnet (etwa IL-2, IL-17 usw.); Koloniestimulierende Wachstumsfaktoren (CSF): Sie sind primär an der Proliferation und Reifung von (hämatopoetischen) Knochenmarkstammzellen beteiligt. Schon in den 1980er Jahren wurden in Deutschland biotechnologisch hergestellte Formen von Zytokinen für die Krebsbehandlung eingeführt – und gehörten damit zu den ersten zugelassenen Krebsimmuntherapien überhaupt. Das war 1987 IFN-α2a bei Haarzellleukämie, mit späteren Zulassungserweiterungen auf die Behandlung bei Kaposi-Sarkomen, chronischer myeloischer Leukämie (CML), Non-Hodgkin-Lymphomen, Nierenzellkarzinom und malignem Melanom. Und das war 1989 IL-2 zur Therapie bei metastasiertem Nierenzellkarzinom. Insgesamt blieben die onkologischen Zytokintherapien hinter den in sie gesetzten Hoffnungen zurück – nicht zuletzt, weil ihre Wirkung zu schweren Nebenwirkungen häufig in besonders ungünstigen Verhältnis stand. Die therapeutische Bedeutung der Zytokine ist daher mit der Verfügbarkeit neuer Behandlungsoptionen immer weiter zurückgegangen. Eine Ausnahme sind Filgrastim (1991 zugelassen) und seine Abkömmlinge, die als Granulozyten-CSF auch heute noch helfen, eine Knochenmarksuppression infolge onkologischer Therapien abzupuffern. Zytokin-Studien beim ASCO präsentiert Dass Zytokine aber auch im Sinne der Immuntherapie wieder an Bedeutung gewinnen könnten, legen eine ganze Reihe an Daten nahe, die jetzt bei der ASCO-Jahrestagung präsentiert worden sind. Die meisten stammen aus frühen klinischen Phasen – aber nicht nur. Beispiele sind: Phase-I/II-Studie: Nemvaleukin alfa bei verschiedenen Entitäten: Dr. Ulka N. Vaishampayan, University of Michigan Cancer Center, MI, präsentierte erste Daten zu Nemvaleukin alfa. Nemvaleukin alfa ist ein künstliches Zytokin, das an bestimmte IL-2-Rezeptoren (IL-2R) bindet und dadurch T-Zellen und natürliche Killerzellen (NK) zur Tumorabwehr bewegen soll. Gleichzeitig soll die Aktivierung immunsuppressiver regulatorischer T-Zellen (Treg) möglichst niedrig gehalten werden. Nemvaleukin alfa wurde zudem so entwickelt, dass es bestimmte IL-2R-Typen gar nicht erst aktiviert; davon verspricht man sich, dass die Substanz weniger Nebenwirkungen entfaltet, als wenn man ihr natürliches Vorbild – IL-2 – direkt verabreichen würde. Ergebnisse der Phase-I/II-Studie ARTISTRY-1 [NCT02799095] hätten die Hoffnungen in puncto Wirksamkeit und Sicherheit insgesamt bestätigt, resümierte Vaishampayan. Nemvaleukin alfa sei insgesamt gut vertragen worden, therapiebezogene Grad-3/4-Toxizitäten seien vor allem als transiente Neutropenien aufgetreten; gleichzeitig habe die zytokinbasierte Therapie bei zum Teil erheblich vorbehandelten Erkrankten mit unterschiedlichen Tumoren eine vielversprechende Wirksamkeit gezeigt. Bei Betroffenen mit klarzelligem Nierenzellkarzinom (RCC; n = 22) oder Melanom (n =46) – beides Indikationen, bei denen in der Vergangenheit eine gewisse Wirksamkeit von IL-2 nachgewiesen worden war – wurde Nemvaleukin alfa als Monotherapie geprüft. Die objektiven Ansprechraten (ORR) lagen hier bei 18,2 % bzw. 8,7 %. In einer anderen Kohorte wurden Personen mit unterschiedlichen Tumoren (vom Hodgkin-Lymphom bis zum Ovarialkarzinom) mit einer Kombination aus Nemvaleukin alfa und dem Checkpointinhibitor Pembrolizumab behandelt; hier lag die ORR insgesamt bei 16,1 %. Vaishampayan hob hervor, dass sich positive Signale für Nemvaleukin alfa bei Schleimhautmelanomen (ORR: 33,3 %) und platinresistenten Ovarialkarzinomen (ORR 28,6 %) ergeben hätten. Zu diesen Indikationen laufen derzeit zwei Folgestudien (Phase-II-Studie ARTISTRY-6 und Phase-III-ARTISTRY-7. Phase-II/III-Studie: IL-15RαFc bei Blasenkrebs: Hat ein Harnblasenkarzinom noch keine muskulären Anteile der Blase infiltriert (NMIBC, „nonmuscle-invasive bladder cancer“), ist eine spezifische Immuntherapie Behandlung der Wahl: In die Blase instilliert löst eine abgeschwächte Form des Rindertuberkulosebakteriums Mycobacterium bovis (BCG, Bacillus Calmette-Guérin) eine Immunreaktion aus, die dann die Tumorzellen bekämpft. Sprechen Betroffene auf eine BCG-Therapie nicht an, ist das weitere Vorgehen nicht ganz leicht: Eine chirurgische Entfernung der Blase würde zwar das Karzinom beseitigen, führt aber auch zu starken Einschränkungen in der Lebensqualität, weswegen ein Therapieziel in dieser Situation ist, die Zystektomie möglichst weit hinauszuzögern. Hoffnung wecken in dieser Hinsicht jetzt Daten zu einer kombinierten Therapie aus BCG und einem speziellen Zytokinkomplex – IL-15RαFc –, die Dr. Karim Chamie, UCLA Health, Los Angeles, vorgestellt hat. Aufgabe von IL-15RαFc ist es dabei, die Immunstimulation durch BCG noch zu verstärken, indem es T-Zellen und NK aktiviert (ohne immunsuppressive Treg allzu anzuregen). Tatsächlich sprachen 71 % der eigentlich BCG-refraktären NMIBC-Erkrankten mit einem Carcinoma in Situ (CIS; n = 83) vollständig auf die Kombination aus BCG plus IL-15RαFc an, wobei die mediane Ansprechdauer (DOR) bei 26,6 Monaten lag. Über einen Zeitraum von zwei Jahren ließ sich bei 89 % eine Zystektomie vermeiden und bei 96 % ein Progress der Erkrankung in ein muskelinvasives Karzinom. Chamie wies daraufhin, dass die kombinierte Therapie als lokale Therapie nicht nur verhältnismäßig nebenwirkungsarm war, sondern auch im indirekten Vergleich mit einer Pembrolizumab-Monotherapie in puncto Wirkung gut abschnitt: Zum Beispiel habe die Rate an vollständigen Remissionen (CR) in der Phase-II-Studie KEYNOTE-057, in der Pembrolizumab mono beim BCG-refraktären NMIBC zum Einsatz kam, bei 41 % gelegen, und die mediane DOR bei 16,2 %. Diskutant Dr. Michiel Simon Van Der Heijden vom Netherlands Cancer Institute, Amsterdam, bezeichnete die Ergebnisse zur zytokinunterstützten BCG-Therapie als „aufregend“ und im Vergleich zur Studie KEYNOTE-057 als „vorteilhaft“, warnte aber gleichzeitig vor der Begrenztheit von indirekten Studienvergleichen. Dessen ungeachtet zeigte auch er sich vom Potenzial der Kombination aus BCG plus IL-15RαFc überzeugt: „Ich persönlich bin der Auffassung, dass der Ansatz nun soweit ist, dass er in Phase-III-Studien für die klinische Implementierung geprüft werden kann“. Auch Interferone sind zurück Vorgestellt wurden bei der ASCO-Tagung auch Ansätze, die darauf abzielen, IFN für die Tumortherapie nutzbar zu machen. Ein Beispiel ist Modakafusp alfa. Die Substanz besteht aus zwei „entschärften“ IFN-α-2b-Molekülen, die genetisch mit Teilen eines Anti-CD38-Antikörpers fusioniert sind. CD38 wird besonders stark von Myelomzellen exprimiert, weswegen Modakafusp alfa schon etwas länger beim Multiplen Myelom geprüft wird. Erste Ergebnisse dort sind vielversprechend: Die Substanz scheint auf die Myelomzellen direkt antiproliferativ zu wirken und zudem indirekt und direkt Immunzellen zu stimulieren. Weil auch bestimmte nicht maligne Immunzellen CD38 auf ihrer Oberfläche aufweisen und CD38 zudem eventuell für die PD-1/PD-L1-vermittelte „Immunflucht“ von Tumoren Bedeutung hat, ist denkbar, dass Modakafusp alfa auch bei anderen Entitäten antitumoral wirken könnte. Dass das tatsächlich der Fall ist, legen frühe Daten einer Phase-I/IIb-Studie nahe, an der Patienten mit unterschiedlichen metastasierten soliden Tumoren teilgenommen hatten – darunter etwa Personen mit kolorektalen Karzinomen oder Melanomen. Die Nebenwirkungen seien handhabbar gewesen, und die Behandlung mit Modakafusp alfa werde nun in der Phase II beim Melanom weiter geprüft (in Kombination mit Pembrolizumab), berichtete Melissa Lynne Johnson vom Sarah Cannon Research Institute, Nashville, TN. Zurück in die Zukunft Bei den Zytokintherapien, die sich in frühen klinischen Phasen befinden, gibt es aktuell noch eine Reihe an kritischen Fragen zu klären – etwa was die DOR oder auch kumulative bzw. sehr seltene Toxizitäten angeht. Diese und andere Punkte müssten in späteren Studienphasen geklärt werden. Darauf wies Dr. Kim Allyson Margolin vom St. John’s Cancer Institute in Santa Monica, CA, hin. Gleichzeitig lobte sie am Beispiel von Modakafusp alfa, dass innovative Formulierungen helfen könnten, zukünftig ggf. auch solche Zytokine für die Antitumortherapie nutzbar zu machen, die ansonsten ein sehr ungünstiges Wirkung-Nebenwirkungs-Verhältnis aufwiesen. Empfehlung der Redaktion Annual Meeting der American Society of Clinical Oncology Kongressdossier zum ASCO Unsere gesammelten Highlights und Berichte vom Annual Meeting der American Society of Clinical Oncology (ASCO) 2022 finden sie hier. Erfahren Sie beispielsweise, warum es therapeutisch immer relevanter wird, ob ein links- oder rechtsseitiges metastasiertes kolorektales Karzinom mit RAS-Wildtyp vorliegt oder wie Sie die Therapie von Erkrankten mit Multiplem Myelom stärker individualisieren können. basierend auf: ASCO Annual Meeting 2022, 3.-7.6.2022; Session Developmental Therapeutics – Immunotherapy und Genitourinary Cancer—Kidney and Bladder

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