Interpretation der Ergebnisse
Mit dem Ziel, zur Verbesserung der Differenzialdiagnostik zwischen KDS und ESS beizutragen, wurden in der vorliegenden Studie die beiden Störungsbilder hinsichtlich des potenziell differenzierenden Merkmals ARS verglichen.
Hypothesenkonform zeigte sich eine signifikant stärkere Ausprägung der ARS in den Gruppen mit deutlicher körperdysmorpher oder Essstörungssymptomatik bzw. mit komorbider Symptomatik als in der Gruppe ohne dergleichen Symptome. Das Ergebnis unterstreicht die Bedeutung der ARS als Marker aussehensbezogener Psychopathologie. Auch die Gruppen KDS-POS und ESS-POS unterschieden sich signifikant, was jedoch nicht auf eine stärkere Ausprägung der ARS bei KDS-POS, sondern, im Gegenteil, auf eine signifikant stärkere Ausprägung bei ESS-POS zurückzuführen ist.
Eine mögliche Erklärung für die unerwarteten Ergebnisse ergibt sich aus den äußerst niedrigen Werten der KDS-POS-Gruppe bezüglich der ARS. Der Mittelwert war mit 10,46 noch niedriger als der Normwert, den Park (
2007) für eine studentische Zufallsstichprobe diskutiert hat (
M = 11,9). Auch im Vergleich zu Studien, die das spezifische Ausmaß der ARS bei KDS erhoben haben, sind die gefundenen Werte eher unterdurchschnittlich (Kelly et al.
2014; Calogero et al.
2010; Schmidt und Martin
2017). Jedoch schwankten die Ergebnisse mit Mittelwerten zwischen 12,75 (Calogero et al.
2010) und 22,15 (Kelly et al.
2014) erheblich. Ein Grund dafür könnte die unterschiedliche Stichprobencharakteristik bzw. -erhebung der Studien sein. So rekrutierten Kelly et al. (
2014) Probanden mit jahrelanger, per semistrukturiertem Interview abgesicherter KDS-Diagnose, während die vorliegende Stichprobe, genau wie jene bei Calogero et al. (
2010) sowie Schmidt und Martin (
2017), nicht klinisch war und auf der Grundlage eines Fragebogens mit Selbstauskunft klassifiziert wurde. Es ist daher davon auszugehen, dass die Stichprobe bei Kelly et al. (
2014) eine schwerere Psychopathologie, und damit ARS, aufwies als die Teilnehmer der vorliegende Studie. Die Verwendung unterschiedlicher Erhebungsinstrumente könnte außerdem die starken Schwankungen in den Studienergebnissen erklären.
Weiterhin ist anzumerken, dass bei fast allen Studien, die den Zusammenhang zwischen KDS und ARS analysierten, das Vorliegen starker komorbider ESS-Symptome kein Ausschlusskriterium für die Studienteilnahme war (z. B. Kelly et al.
2014; Calogero et al.
2010), während die vorliegende Studie durch das Aufnehmen einer zusätzlichen komorbiden Gruppe dafür kontrollierte. Wie eingangs erwähnt, geht das komorbide Vorliegen von körperdysmorphen und Essstörungssymptomen jedoch mit einer erheblichen Symptomverschlechterung einher, u. a. von Korrelaten der ARS wie der Körperbildstörung (Ruffolo et al.
2006). So finden sich hypothesenkonform auch in der vorliegenden Studie in der komorbiden Gruppe die höchsten Werte bezüglich der ARS. Dies würde also die niedrigeren ARS-Werte in der KDS-POS-Gruppe im Vergleich zur einschlägigen Literatur ebenfalls erklären.
Darüber hinaus sind die hohen ARS-Werte der ESS-POS-Gruppe zu diskutieren. Obwohl auf der Grundlage der vorliegenden, um die diagnostischen Items gekürzten Fassung des EDE‑Q keine differenzierte ESS-Diagnose gestellt werden kann, sprechen die leicht erhöhten BMI-Werte dieser Gruppe dafür, dass die betroffenen Probanden eher dem Spektrum der Bulimia nervosa (BN) bzw. der Binge-Eating-Störung (BES) zuzuordnen wären. Die Vorbefunde, auf denen die Hypothesen der vorliegenden Studie fußten, basierten allerdings oft auf Vergleichen zwischen einer körperdysmorphen und einer anorektischen Stichprobe (z. B. Hartmann et al.
2013b,
2015). Gleichzeitig wurden einige der zitierten Vergleiche zwischen KDS und ESS nur für Anorexia nervosa (AN), nicht aber BN signifikant (Kollei et al.
2012; Hrabosky et al.
2009). Die BES wurde in Vergleichsstudien mit der KDS bisher gänzlich vernachlässigt. Vor diesem Hintergrund wären die anfänglich getätigten Annahmen der Studie über das Abschneiden der ESS-POS-Gruppe bezüglich der ARS ebenfalls neu zu bewerten. Diverse Korrelate der ARS (Körperunzufriedenheit und subjektive Attraktivitätsbewertung [Barry et al.
2003] sowie Scham und soziale Angst [Grabhorn et al.
2006]) liegen bei BN signifikant schwerer vor als bei AN. Auch BES und ARS weisen deutliche Überschneidungen in der Ätiologie (z. B. Mobbing-Erfahrungen [Striegel-Moore et al.
2002]) und der Psychopathologie (z. B. Überbewertung von Figur und Gewicht [Lewer et al.
2017]) auf. Es wäre daher plausibel, dass diese Faktoren das hypothesenkonträre Ergebnis ebenfalls beeinflusst haben könnten.
Auch im Rahmen der Regressionsanalyse klärte ESS-POS entgegen den Erwartungen über sozialängstliche Symptome, Geschlecht und BMI hinaus mehr Varianz an der ARS auf als KDS-POS. Möglicherweise geht dies darauf zurück, dass die KDS-Psychopathologie in der vorliegenden Studie nicht dimensional, sondern kategorial erhoben wurde, weshalb leichte bis mittelschwere körperdysmorphe Symptome nicht erfasst wurden. Es ist daher möglich, dass bei einem Teil der Probanden in der ESS-POS-Gruppe körperdysmorphe Symptome vorlagen, die die Kriterien des KDS-Screenings nicht hinreichend erfüllten, jedoch zu einer Symptomverschlechterung, auch in Bezug auf die ARS, in dieser Gruppe beitrugen. Darüber hinaus weisen einige Items des EDE‑Q ähnliche Formulierungen wie die Appearance‑RS Scale auf (z. B. Item 28: Unbehagen beim Entkleiden vor anderen), was ebenfalls einen Teil des starken Zusammenhangs zwischen ESS-POS und ARS in der vorliegenden Studie erklären könnte.
Limitationen und weiterer Forschungsbedarf
Die Stichprobengrößen zwischen den einzelnen Gruppen unterschieden sich immens, was die Voraussetzung der Varianzhomogenität bei der ANOVA beeinflussen kann (Field
2013). Dem wurde jedoch mit der Interpretation des Games-Howell-Post-hoc-Test begegnet (Field
2013). Weiterhin können die Ergebnisse nicht auf klinische Gruppen mit gesicherten ESS- und KDS-Diagnosen übertragen werden, da die Psychopathologie lediglich über Fragebogen mithilfe der Selbstauskunft erhoben wurde. Vor allem in der KDS-POS-Gruppe könnte dies, wie beschrieben, das hypothesenkonträre Ergebnis beeinflusst haben. Da ein Großteil der zitierten Studienergebnisse über den Zusammenhang von KDS und ARS ebenfalls auf Fragebogendaten beruht, kann das Erhebungsinstrument jedoch nicht als alleinige Ursache der hypothesenkonträren Ergebnisse herangezogen werden. Darüber hinaus unterschieden sich die Instrumente dahingehend, dass für die Bewertung körperdysmorpher Symptome ein relativ rigides „Forced-choice“-Instrument eingesetzt wurde, für das einzelne diagnostische Kriterien nach DSM‑5 erfüllt sein müssen, während die Essstörungssymptomatik über den EDE-Q-Gesamtwert mithilfe eines dimensionalen Antwortschemas ermittelt wurde. Somit ist davon auszugehen, dass sich die Instrumente in ihrer Liberalität stark unterscheiden. Es ist jedoch anzumerken, dass die ARS trotz konservativerer Klassifizierung in der KDS-POS-Gruppe weniger ausgeprägt war als bei ESS-POS.
Aus den genannten Gründen ist eine Folgestudie, die die Fragestellung anhand von 2 gesicherten klinischen Stichproben überprüft, wünschenswert. Außerdem bietet sich eine wiederholte Untersuchung unter Berücksichtigung der verschiedenen Essstörungsunterformen an, um eine Spezifizierung der Hypothesen für jede Untergruppe zu gewährleisten. Aufgrund des hypothesenkonträren Ergebnisses kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass andere Konstrukte zur Verbesserung der Differenzialdiagnostik zwischen KDS und ESS ggf. geeigneter sind als die ARS. Möglicherweise spielt neben der wahrgenommenen Ablehnung durch andere auch der Abgleich mit dem eigenen Idealbild bei KDS eine entscheidende Rolle, der bei der KDS und ESS vergleichend untersucht werden könnte.