Medizinische und kommunikative Herausforderung
Übergeordnete Strategie der diagnostischen Abklärung
Strukturierung des medizinischen Vorgehens
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Dokumentationsschema bei V. a. nichtakzidentelles Trauma (Teil A: Anamnese; Teil B: Untersuchung),
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kinder-/jugendgynäkologischer Untersuchungsbefund (Kurzfassung, z. B. für Nachtdienst),
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Forensikbogen bei V. a. akuten sexuellen Missbrauch.
Differenzialdiagnose artifizielle Störungen
Risiken der Aussageverfälschung beim Kind
Unterschiedliche Bedingungsfaktoren
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kann sich einfach nicht detailliert an die Geschehnisse erinnern bzw. die Erinnerungen nicht korrekt abrufen bzw. versprachlichen (entwicklungsneuropsychologische und aussagepsychologische Bedingungsfaktoren).
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hat in der akuten Misshandlungssituation spontan dissoziative Bewältigungsmechanismen (Ausblenden, Abspalten) angewendet, um die Wucht des Erlebten erträglicher zu machen, die aber wiederum die Abspeicherung im Gedächtnis verzerren (Bedingungsfaktoren der traumatischen Stress- und Affektregulation in der akuten Episode).
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passt später im Nachgang zu der Misshandlungsepisode seine Interpretation und Bedeutungsgebung motivational an andere Bedürfnisse an (z. B. Bagatellisieren des Übergriffs oder Schuld gegen sich selbst wenden, um so den gewalttätigen Vater zu schützen; Bedingungsfaktoren des Coping und der Motivation).
Verzerrungseffekte im Rahmen der psychischen Verarbeitung der Schädigung
Abschätzung der Konsequenzen der eigenen Aussagen und Loyalitätskonflikte
Risiken der Aussagenverfälschung beim Interviewer
Emotional-motivationale Voreingenommenheit
Kognitive Verzerrungen
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Beispiel Misshandlung: „Der Vater mit seinen Tattoos und seiner Rockerlederjacke sieht ziemlich brutal aus. Der ist sicher nicht zimperlich und schlägt auch mal seine Kinder!“
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Beispiel Missbrauch: „Der Vater wirkt so empathisch und liebevoll im Umgang mit seiner Tochter, der würde sich doch nie an ihr vergreifen.“ Oder genau umgekehrt: „Der Vater wirkt so empathisch und liebevoll im Umgang mit seiner Tochter, da ist es nur noch ein kleiner Schritt zum sexuellen Übergriff!“
Vermischung von Gesprächsebenen
Achtsame Emotionsregulation des Interviewers
Risiken suggestiver Befragung
Ungünstige Frageform | Beispiel |
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Fragen mit Druck zur Anpassung | „Sagst Du wirklich die Wahrheit? Das stimmt doch, oder?“ „Dein Freund sagte, der Mann hat dann onaniert. Das musst Du doch auch genau gesehen haben, oder nicht?!“ |
Vorwürfe | „Das kann ich gar nicht glauben, dass du das vergessen hast.“ „Und dann hast Du das auch noch mitgemacht, das kann ich gar nicht verstehen!“ „Und wieso hast Du dann deiner Lehrerin nichts davon erzählt?!?“ |
Vorgabeneinengung | „Hat er die Hose bis zu den Knien oder bis zu den Knöcheln heruntergezogen gehabt?“ „War das im Bett oder auf der Couch?“ |
Drohungen und Versprechungen | „Wenn Du mir jetzt nicht alles sagst, kannst Du nicht nach Hause!“ „Wenn Du endlich genau sagst, was los gewesen ist, wird es Dir besser gehen und Du musst auch nicht mehr zu ihm hin!“ |
Vorausgesetzte Fakten | „Du sagst also, sein Glied war steif. Dann hat er also daran gerieben, oder?!?“ |
Strukturierung und Dokumentation des Gesprächs
Forensische versus therapeutische Ausrichtung der Befragung
Dimension | Forensisch | Therapeutisch |
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Wahrheit | Objektiver Geschehensablauf, Fakten | Subjektive Repräsentanz und Bedeutungsgebung, funktionale vs. dysfunktionale Verarbeitung |
Grundhaltung | Neutral, unparteilich | Supportiv, verständnisvoll, ggf. parteilich für das Kind |
Strukturierungsgrad | Strukturiert, standardisiert, ergebnisorientiert | Prozessorientiert |
Fokus | Fokal auf Episoden der Misshandlung gerichtet („Teleobjektiv“) | Breiter angelegt auf biografischen Kontext („Weitwinkelobjektiv“) |
Dokumentation
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eine verhaltensnahe, deskriptive Dokumentation („das Kind schweigt, rutscht auf dem Stuhl hin und her, schaut den Interviewer nicht an“).
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verbale Äußerungen des Kindes weitgehend in wörtlicher Rede zu notieren, dabei Verzicht auf Interpretation (ggf. erkennbar getrennt in separater Spalte dokumentieren); parallel den beobachtbaren Affekt des Kindes notieren (Weinen, Verstummen, Schweigen, Blick wegdrehen).
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auf ein „psychologisierendes Deuten“ der Verhaltensbeobachtung zu verzichten („das Kind verleugnet und verdrängt die Geschehnisse“), die Verhaltensbeobachtung hat textlich getrennt von deren Beurteilung zu erfolgen.
Individualisierung
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Zurückhaltende, wortkarge und vermeidende Kinder benötigen eine geduldige, ermutigende und schützende Atmosphäre ohne Zeitdruck, um ihnen das Sprechen zu erleichtern.
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Lebhafte, impulsive Kinder – ggf. mit Anzeichen einer Aufmerksamkeitsstörung – können sich sehr erzählfreudig, aber auch abschweifend, assoziativ gelockert und sprunghaft in Gedankengang und Schilderung präsentieren. Sie benötigen eine straffere Strukturierung des Gesprächsfadens, ohne sie dadurch zum Verstummen zu bringen.
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Kinder mit gesteigerter Fantasietätigkeit, bei denen sich reale Erinnerungen und imaginative Ausschmückungen durchmischen, benötigen eine wiederkehrende Rückführung auf konkrete, anschauungsgebundene, zeitlich-räumlich umschriebene Situationen.
Das standardisierte NICHD-Interviewprotokoll
Fazit
Domänen der Kompetenz professioneller Interviewdurchführung
Forschungsdesiderate
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Konzeptionierung: die Beteiligung an den internationalen Anstrengungen zur weiteren Ausdifferenzierung evidenzbasierter, handlungsleitender, präskriptiver Interviewleitfäden,
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Evaluation: die empirische Dokumentation der real existierenden Praxis der Interviewdurchführung im deutschsprachigen Raum zur Detektion, damit die Detektion der bisherigen Schwachstellen in der Praxis und damit zur Ableitung der Bedarfe im Bereich Qualitätssicherung und Fortbildung,
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Implementierung: gezielte Entwicklung von Fortbildungskonzeptionen, die die Qualifizierungsbedarfe in den oben genannten professionellen Kompetenzdomänen möglichst genau abdecken.