Botulinumtoxin wird bei erwachsenen Patienten mit idiopathischer zervikaler Dystonie (ZD) als First-line-Therapie empfohlen. Die INTEREST-IN-CD2-Studie untersuchte über 3 Jahre internationale Botulinumtoxin-A(BoNT-A)-Behandlungsmodalitäten sowie patientenbezogene Endpunkte unter Real-life-Bedingungen. Die vorliegende Subgruppenanalyse vergleicht die Ergebnisse der deutsch-österreichischen Kohorte mit der internationalen Gesamtkohorte, um Einblicke in Therapiepraxis, Therapieerfolge und Therapiezufriedenheit im deutschsprachigen Raum zu erhalten.
Hintergrund
Die ZD ist die häufigste Form der fokalen Dystonien bei Erwachsenen. Sie ist durch eine unwillkürliche tonische Neigung oder Drehung des Nackens und eine daraus resultierende Fehlstellung des Kopfes charakterisiert [
4,
18]. Der negative Einfluss der ZD auf das alltägliche Leben und die Lebensqualität wurde bereits durch zahlreiche Studien belegt [
4,
5,
11,
12,
18].
First-line-Therapie der ZD gemäß Leitlinienempfehlung ist die Behandlung mit BoNT [
16]. Die Anwendung von BoNT‑A im klinischen Alltag, der Verlauf der Erkrankung unter BoNT-A-Therapie und die Patientenzufriedenheit sind bisher nicht hinreichend beschrieben [
5,
8,
9].
Zwar sind placebokontrollierte Studien der Goldstandard für die Wirksamkeitsanalyse einer Therapie, sie können aber mit strengen Ein- und Ausschlusskriterien und limitierten Endpunkten viele Schlüsselfragen des klinischen Alltags nicht beantworten. Zudem rücken bei Kostenträgern und regulatorischen Instanzen patientenbezogene Endpunkte immer mehr in den Vordergrund. Als entscheidender Parameter für die BoNT-A-Therapie gilt die Patientenzufriedenheit, die direkt mit der Bereitschaft zu der i. d. R. über Jahrzehnte erforderlichen Behandlung korreliert [
17,
20].
Die internationale Beobachtungsstudie INTEREST-IN-CD2 untersuchte die langfristige Patientenzufriedenheit bezüglich der Symptomkontrolle über insgesamt 3 Jahre [
2,
3,
10]. Im Rahmen einer Subgruppenanalyse wurden nun die Studiendaten der deutsch-österreichischen Patientenkohorte (DE/AT) der internationalen Gesamtkohorte gegenübergestellt.
Methodik
INTEREST-IN-CD2 war eine prospektive, multizentrische, longitudinale Beobachtungsstudie an 113 Studienzentren in 34 Ländern, die dem Therapieverlauf von Patienten mit idiopathischer ZD unter BoNT-Therapie folgte. Für die DE/AT-Subgruppe wurden Daten aus allen 6 deutschen und dem österreichischen Behandlungszentrum eingeschlossen. Zur Vermeidung der Ergebnisverzerrung durch ungleichmäßige Verteilung von Patientenzahlen je Studienzentrum war der Einschluss auf maximal 8 bis 12 Patienten pro Studienzentrum begrenzt. Weitere Details zu Studienpopulation, -durchführung und Datenauswertung wurden bereits an anderer Stelle publiziert [
2,
10].
Primäre und sekundäre Endpunkte
Primärer Endpunkt war die vom Patienten bewertete Zufriedenheit mit der erzielten Symptomkontrolle, definiert als a) höchste Zufriedenheit seit der letzten BoNT-A-Injektion (Frage an die Patienten: „Was war Ihr höchstes Zufriedenheitslevel zu einem beliebigen Zeitpunkt seit der letzten Visite im Hinblick auf die Kontrolle Ihrer ZD-assoziierten Symptome?“) sowie b) tagesaktuelle Zufriedenheit mit der Symptomkontrolle am Ende des Injektionsintervalls (Frage an die Patienten: „Wie zufrieden sind Sie heute im Hinblick auf die Kontrolle Ihrer ZD-assoziierten Symptome?“). Die Zufriedenheit wurde auf einer 5‑Punkte-Likert-Skala angegeben (1: vollkommen zufrieden, 2: relativ zufrieden, 3: weder zufrieden noch unzufrieden, 4: relativ unzufrieden, 5: vollkommen unzufrieden). Werte von 1 bis 2 wurden als Zufriedenheit gewertet, Werte von 3 bis 5 als Unzufriedenheit. Sekundäre Endpunkte waren wie folgt: demografische Patientendaten zu Studienbeginn, Toronto Western Spasmodic Torticollis Rating Scale (TWSTRS-)Score, Tsui-Subscore D (Schwere und Dauer des Tremors), Dystoniemuster, Injektionsparameter (Dosis und Volumen, injizierte Muskeln, Anzahl der Injektionsstellen, Nutzung einer Injektionshilfe), anatomische Lage und Veränderung der Fehlstellung, Erkrankungshistorie. Das zu Studienbeginn angewandte Reinjektionsschema wurde dokumentiert (i.e. festgelegte, flexible oder gemischte Intervalle). Die Erhebung von Daten zu unerwünschten Ereignissen (UE) gehörte nicht zu den Endpunkten der Studie. Gemäß den europäischen Leitlinien zur Arzneimittelsicherheit wurden die Studienzentren aufgefordert, alle schwerwiegenden UE und alle im Zusammenhang mit der Therapie stehenden UE an den Studiensponsor zu melden.
Diskussion
Die INTEREST-IN-CD2-Studie ist die derzeit größte prospektiv-longitudinale Kohortenstudie, die BoNT-behandelte ZD-Patienten über einen Zeitraum von 3 Jahren folgte [
2,
3,
10]. Den Schwerpunkt der Analyse bildete die Therapiezufriedenheit, die wegen des Zusammenhangs mit der Therapieadhärenz immer mehr in den Fokus klinischer Studien rückt [
1,
4]. In der hier beschriebenen Subgruppenanalyse lassen die geringen Dropout-Raten sowohl in der internationalen Gesamtkohorte (ca. 24 %) als auch in der DE/AT-Population (ca. 36 %) auf eine generell hohe Therapieadhärenz schließen.
Das Collum-Caput(Col-Cap)-Konzept wurde in Deutschland [
13] entwickelt und findet hier häufige Anwendung. Seine Beachtung beinhaltet eine differenzierte Diagnose und Injektion unter Anwendung bildgebender Verfahren (z. B. Ultraschall) und resultiert in der Injektion schwer erreichbarer Muskeln wie dem M. obliquus capitis inferior [
13,
14]. In der DE/AT-Gruppe wurde die Obliquus-capitis-Gruppe häufiger injiziert als in der globalen Gruppe und es fanden häufiger ultraschallgestützte Injektionen statt, was eine stärkere Anwendung des Col-Cap-Konzeptes in dieser Kohorte bestätigt.
Klinisch profitierten DE/AT-Patienten vor allem von einer Verbesserung des Tsui-Tremor-Subscores sowohl bei der Dauer als auch bei der Schwere des Tremors. Die BoNT-A-Behandlung reduzierte ZD-assoziierte Symptome bei naiven Patienten, gemessen an TWSTRS total, bereits zum ersten Beobachtungszeitpunkt nach Therapiebeginn. Zu betonen ist, dass TWSTRS- und Tsui-Werte am Ende der Injektionszyklen bei schwindendem BoNT-A-Effekt ermittelt wurden und daher nicht das gesamte Maß der Symptomreduktion bei maximaler BoNT-A-Wirkung zeigen [
1,
15]. In beiden Populationen wurden keine Veränderung des Dystoniemusters im Therapieverlauf beobachtet.
Die maximale Therapiezufriedenheit war in beiden Kohorten mit knapp 90 % über den Studienverlauf hinweg sehr hoch. Die „aktuelle Zufriedenheit“ zum Ende jedes Therapiezyklus lag in beiden Kohorten deutlich niedriger, die nachlassende Wirkung der BoNT-A-Injektionen am Ende der Intervalle lässt dies auch erwarten [
1,
15,
19]. Es ist bekannt, dass die zum Zyklusende wiederkehrenden Symptome sich auf die Lebensqualität und das emotionale Wohlbefinden von ZD-Patienten auswirken [
5,
12]. Während in der globalen Gruppe die „aktuelle Zufriedenheit“ im Zeitverlauf konstant blieb, fiel sie in der DE/AT-Gruppe numerisch ab. Insgesamt war der prozentuale Anteil BoNT-A-naiver Patienten in der DE/AT-Gruppe im Beobachtungszeitraum mindestens doppelt so hoch wie in der globalen Kohorte. Da diese Patienten eine besonders in der zweiten Studienhälfte geringere Therapiezufriedenheit äußerten als therapieerfahrenere, vorbehandelte Patienten, trägt dies möglicherweise zum numerischen Rückgang der aktuellen Zufriedenheit in DE/AT bei. Aus klinischer Sicht ergeben sich mit stabilen/verbesserten Befunden auch in der BoNT-A-naiven Gruppe keine objektivierbaren Hinweise für eine Verschlechterung der Symptomkontrolle bezogen auf „aktuelle Zufriedenheit“, z. B. anhand von TWSTRS.
Abweichende Therapiezufriedenheiten zwischen BoNT-A-naiven und -vorbehandelten Patienten wurden bereits beschrieben [
3]. Eine mögliche Erklärung wäre, dass BoNT-A-naiven Patienten eine objektive Einschätzung des Therapieerfolges schwerfallen kann, auch eine Gewöhnung an die therapiebedingte Symptomverbesserung ist bekannt. Dies wurde zur BoNT-A-Behandlung der Dystonie bereits unter dem Begriff „Flitterwochen-Effekt“ publiziert [
6]. Auch bei konstanter Symptomkontrolle wird der Therapieerfolg nach einiger Zeit nicht mehr als solcher wahrgenommen, die Zufriedenheit sinkt [
6]. Erst jahrelanger Umgang mit der Erkrankung und Erfahrungen mit den Höhen und Tiefen des Therapieansprechens können den Betroffenen wieder einen objektiveren Blick auf die erzielte Symptomkontrolle ermöglichen.
Auch gesundheitssystemassoziierte Besonderheiten in der Arzt-Patienten-Kommunikation könnten zu einer geringeren Zufriedenheit der DE/AT-Patienten beitragen. Beim Arzt-Patienten-Gespräch in Deutschland herrscht ein höherer Zeitdruck als in vielen europäischen Ländern oder den USA [
7]. Dieser könnte es dem Arzt erschweren, die Behandlungsziele ausführlich zu kommunizieren und eine realistische Erwartungshaltung an das Therapieansprechen zu erzeugen. Eine hohe Erwartungshaltung, insbesondere hinsichtlich der Schmerzfreiheit und einer reduzierten Muskelanspannung, wurde bei ZD-Patienten bereits dokumentiert [
4]. Mehr als die Hälfte der Betroffenen erwartete, unter der Therapie wieder zur normalen täglichen Routine zurückkehren zu können [
4]. Diese Erwartungshaltung könnte zu einer besonders kritischen Einstellung gegenüber der Therapie, insbesondere bei BoNT-A-naiven, also unerfahrenen Patienten führen.
Limitationen der Subgruppenanalyse liegen vor allem in der begrenzten Patientenzahl innerhalb der DE/AT-Kohorte (79 vs. 995 in der globalen Kohorte), der geringen Zahl von Patienten, die die Studie in DE/AT beendet haben sowie der rein deskriptiven Auswertung der Daten. Zu beachten ist weiterhin die geringe Anzahl BoNT-A-naiver Patienten in DE/AT. Zwar zählt der im Gegensatz zu vielen anderen Studien stehende Einschluss aller in DE/AT zugelassenen BoNT-A-Produkte grundsätzlich zu den Stärken der INTEREST-IN-CD2-Studie, allerdings lassen die geringen Patientenzahlen in der DE/AT-Kohorte keine differenzierten Aussagen für die verschiedenen Präparate zu. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus der Messung klinisch relevanter Parameter wie TWSTRS und Tsui am Ende der Injektionszyklen, also bei nachlassender Wirksamkeit der verabreichten Präparate.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle Patienten gaben ihre Einverständniserklärung zur Studienteilnahme ab. INTEREST IN CD II ist eine nicht interventionelle Studie und fällt daher nicht in den Geltungsbereich der EU-Richtlinien 2001/20 / EC und EU-Richtlinie 2005/28 / EC. Die Studie wurde mit Zustimmung der jeweils zuständigen Ethikkommission im Einklang mit dem jeweiligen nationalen Recht, den Leitlinien und Empfehlungen zur Sicherung guter epidemiologischer Praxis (GEP) sowiegemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt.
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