Projekt, Ziele und Konzeption
Das CHIMPS-NET-Konsortium ist ein dreijähriges Projekt aus dem Bereich neuer Versorgungsformen des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses und hat das Ziel, 4 neue Versorgungsformen für Kinder und Jugendliche (0 bis 21 Jahre) mit psychisch kranken Eltern an 20 Standorten in 14 Bundesländern zu implementieren und zu evaluieren. Die 4 Versorgungsformen werden nach Indikationsstellung passgenau eingesetzt und reichen je nach gesundheitlicher Ausgangslage von Prävention über Multifamilientherapie bis hin zu familienorientierter Therapie sowie einer Online-Therapie. Das Konzept der Interventionen orientiert sich an den individuellen Bedarfen der Familien und integriert psychoanalytische Familientherapie mit psychoedukativen und systemischen Elementen (ausführlich bei Wiegand-Grefe et al.
2011). Alle im CHIMPS-NET realisierten Versorgungsformen zielen darauf ab, die psychische Gesundheit und Lebensqualität der Familien zu verbessern. Dazu sollen Verbesserungen der Krankheitsbewältigung, der familiären Kommunikation und Beziehungen sowie die Überwindung sozialer Isolation und weiterführende Hilfen angestoßen werden.
Die Wirksamkeit der verschiedenen Versorgungsformen wird in randomisierten klinischen Studie („randomized controlled trials“, RCT) untersucht; die Details zu den Evaluationsstudien für die Interventionen finden sich im Studienprotokoll (Wiegand-Grefe et al.
in Vorbereitung). Um die Rekrutierungsziele zu erreichen, wurde in das CHIMPS-NET eine übergeordnete randomisierte kontrollierte Implementierungsstudie integriert, die die allgemeine Machbarkeit und Durchführung untersucht. Details dieser Implementierungsstudie werden im Studienprotokoll dieser Studie publiziert (Laser et al.
im Druck). In dieser Studie werden in zufällig ausgewählten Kliniken Implementierungsunterstützungen durch 3 weitere Teilprojekte realisiert, während die anderen Kliniken keine derartige Unterstützung erhalten. Diese Teilprojekte befassen sich mit Zugangswegen in die CHIMPS-Interventionen durch externe Zuweiser, Screeninginstrumente zur Identifikation betroffener Familien und ein Training der Klinikfachkräfte zur Stärkung von Einstellungen, Wissen und Fertigkeiten zum Thema Familien mit psychisch kranken Eltern.
Das Teilprojekt zum Training der Fachkräfte wird im Folgenden dargestellt, und erste Ergebnisse werden berichtet. Hierzu werden zunächst Konzept und Inhalte des Trainings vorgestellt. Daran anschließend wird die Evaluation der Trainings dargestellt, die auf den Erfahrungen der Trainerinnen mit dem Training und auf ersten Ergebnissen der begleitenden Studie basiert. Die übergeordnete Fragestellung, ob ein Fachkräftetraining die Zuweisung von Familien in das CHIMPS-NET sowie das Wissen und Fertigkeiten im Hinblick auf die Berücksichtigung der bifokalen Perspektive verbessert, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Die gesamte Implementierungsstudie wurde als Studienprotokoll zusammengefasst (Laser et al.
im Druck).
Das Training und die Begleitstudie zur Stärkung von Einstellungen, Wissen und Fertigkeiten im Hinblick auf eine Familienorientierung von Fachkräften im Gesundheitswesen basieren auf internationalen Vorstudien. So wurden in den vergangenen Jahren z. B. in Portugal, Norwegen, Irland und Australien verschiedene Bemühungen unternommen, in der Erwachsenenpsychiatrie einen Paradigmenwechsel von einem Patient*innenfokus zu einem Familienfokus mit stärkerer Berücksichtigung der Kinder zu erzielen (Lauritzen et al.
2014; van Doesum et al.
2019). Zu diesem Zweck implementierten Lauritzen et al. (
2014) 2 Interventionen: die Einführung eines Erhebungsinstrumentes zur routinierten Erfassung von Familieninformationen sowie den Einsatz von Familiengesprächen. Die Effekte der Maßnahmen wurden longitudinal nach 3 und nach 5 Jahren erfasst, mit dem Ergebnis, dass die Zahl identifizierter Eltern-Patient*innen über den Verlauf deutlich zunahm. Das Wissen der Klinikmitarbeitenden über die Familienorientierung im Gesundheitswesen wuchs, während positive Einstellungen bezüglich der Familienorientierung zunächst zunahmen (Lauritzen et al.
2014), in der Follow-up-Analyse aber tendenziell geringer wurden (Lauritzen et al.
2018). Van Doesum et al. (
2019) berichten von einer Zunahme von Wissen und Fertigkeiten über familienorientierte Praxis bei Fachkräften der Erwachsenen- sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik durch ein Training in familienorientierter Kurzintervention in der Klinikroutine. Das Training bestand aus einer Vorlesung, Rollenspielen sowie Diskussionen zu Hürden und Lösungen einer erfolgreichen Implementierung. Die Ergebnisse dieser Studien weisen einerseits auf die Herausforderungen hin, Implementierungsprozesse erfolgreich und langfristig umzusetzen. Andererseits erscheint der Ansatz vielversprechend, haltungs-, einstellungs- und kompetenzorientierte Fachkräftetrainings zur Förderung von Implementierungsprozessen zu verwenden.
Studienergebnisse aus Norwegen zeigten, dass die Einstellungen von Kliniker*innen im Gesundheitswesen zusammengefasst durch den Slogan „not mine, not trained, too busy, too risky“ gekennzeichnet sind (freie dt. Übersetzung: „nicht meins, nicht fortgebildet, zu beschäftigt, zu riskant“; Lauritzen et al.
2014). In ihrer täglichen Praxis gaben 44 % der Gesundheitsfachkräfte an, dass sie ihre Patient*innen dazu befragen, ob sie Kinder hätten oder nicht (Lauritzen et al.
2015). Dabei schien das Wissen über Kinder psychisch erkrankter Eltern und über gesetzliche Bestimmungen für deren Versorgung einen positiven Einfluss auf die Identifikation zu nehmen. Zudem hatten Fachkräfte, die angaben, mehr Wissen über Kinder psychisch erkrankter Eltern zu haben, weniger Bedenken, die Arbeitsbeziehung zu den Eltern durch das Einbringen eines Familienfokus zu belasten. Bezüglich der Einstellungen zeigte sich außerdem, dass positive Erwartungen zur Wirksamkeit von Familieninterventionen ein wichtiger Prädiktor für positive Einstellungen bezüglich dieser Praxis waren. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, Prozesse im Gesundheitswesen anzukurbeln, die zur Implementierung familienorientierter Praxis beitragen und dies über wirksame Methoden anzugehen, die zunächst die Wahrnehmung und Praxis im Alltag tangieren.
Nach dem Wissen der Autoren liegt im deutschsprachigen Raum bislang keine Untersuchung zu Einstellungen von Klinikmitarbeitenden unterschiedlicher Professionen in der Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Thema eines familienorientierten Gesundheitswesens vor. Ebenso wenig ist bekannt, wie bewusst die Thematik bereits in den Alltag der Kliniker*innen integriert ist, was sich beispielsweise anhand eines hohen Anteils an Patient*innen darstellen lässt, von denen die Klinker*innen wissen, ob die Patienten Eltern sind oder nicht. Aus diesem Grund verfolgt die vorliegende Studie 2 Ziele: 1) die Beantwortung der Fragestellung, wie stark das Bewusstsein für Eltern-Patient*innen im psychiatrischen Alltag bei Fachkräften ausgeprägt und somit der Bedarf an einem Training ist sowie 2) die qualitative Evaluation der Akzeptanz und Wirksamkeit eines Fachkräftetrainings zur Verbesserung von Einstellungen, Wissen und Fertigkeiten einer familienorientierten Psychiatrie auf Basis der Gedächtnisprotokolle der Trainerinnen.
Stichprobe
Über die Zahl der Teilnehmenden für die Vorlesung und damit den ersten Teil des Trainings lässt sich keine Aussage treffen, da die Vorlesung im Videoformat frei zur Verfügung gestellt wurde. Am zweiten Teil des Trainings nahmen 120 Personen teil, wobei die Teilnehmendenzahl zwischen den 7 Standorten von 3 bis 45 Personen schwankte, mit einem Mittel von 13 Personen/Trainingsdurchführung. Entgegen der Planung gelang es nur bei 2 Trainings, dass sowohl Mitarbeitende der Erwachsenen- als auch der Kinder- und Jugendpsychiatrie vertreten waren. Eines der Trainings erfolgte ausschließlich mit Fachkräften einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, und in den restlichen 6 Trainings waren Teilnehmende ausschließlich aus der Erwachsenenpsychiatrie vertreten.
An der begleitenden Fragebogenstudie nahmen 58 Fachkräfte aus den 7 Standorten teil (ca. 50 % der Teilnehmenden der interaktiven Webinare). Aufgrund der anonymen Erhebung kann nicht nachvollzogen werden, wie sich die Teilnehmenden auf die Standorte verteilen. Die Beschreibung der Stichprobe ist Tab.
2 zu entnehmen. Im Durchschnitt waren die Teilnehmenden an der begleitenden Studie M = 38,16 Jahre alt (SD ± 9,47 Jahre) und wiesen eine Berufserfahrung von durchschnittlichen M = 9,4 Jahren (SD ± 8,9 Jahre) auf. Der Schwerpunkt der klinischen Tätigkeit lag vermehrt im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich (48,2 %), während 12,5 % der Teilnehmenden angaben, sowohl im Erwachsenen- als auch im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich tätig zu sein. Mit 50 % war die Fachgruppe der Ärzt*innen am stärksten vertreten. Von den Teilnehmenden gaben 44,6 % an, bereits an einer Fortbildung zum Thema psychische Erkrankungen in der Familie teilgenommen zu haben (Tab.
2).
Tab. 2
Charakteristika der Stichprobe (n = 58)
Alter (Jahre; M ± SD) | 38,16 ± 9,47 |
Ausübung des aktuelles Berufs (Jahre; M ± SD) | 9,36 ± 8,98 |
Geschlecht (Anteil, %) |
– Weiblich | 67,2 |
– Männlich | 32,8 |
– Divers | 0,0 |
Schwerpunkt (Anteil, %) |
– Kinder und Jugendliche | 48,2 |
– Erwachsene | 39,3 |
– Beides | 12,5 |
Qualifikationena (Anteil, %) |
– Fach- oder Assistenz*ärztin | 50,0 |
– Psycholog*in | 20,7 |
– Psychologische*r Psychotherapeut*in oder Kinder- und Jugendpsychotherapeut*in | 15,5 |
– (Sozial‑)Pädagog*in | 15,5 |
– Praktikant*in/Auszubildende/PiA | 8,6 |
– Ergo‑/Musik‑/Physio‑/Kunsttherapeut*in | 3,4 |
– Teilnahme an Trainings zu psychischen Erkrankungen in der Familie | 44,6 |