Opioide und Cannabinoide – Synergien nutzen

Die Therapie mit Cannabinoiden kann die analgetischen Effekte von Opioiden verstärken und bei manchen Patienten zu einer Einsparung von Opioiden beitragen. Verantwortlich hierfür ist die enge Verbindung von Endocannabinoid- und Opioid-Rezeptorsystem, die auf molekularer Ebene belegt werden konnte. Im klinischen Alltag können die Synergieeffekte genutzt werden, um die Lebensqualität von Patienten mit therapierefraktären chronischen Schmerzen und/oder Medikamenten-Nebenwirkungen zu verbessern. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen kann es vorkommen, dass mit etablierten Therapien keine befriedigende Schmerzlinderung erreicht wird. Nicht selten führt dies zu einer hohen bis überdosierten Gabe von Opioiden mit den entsprechenden Nebenwirkungen [1]. In einem aktuellen Review wird anhand publizierter präklinischer und klinischer Studien die Evidenzsituation für die immer wieder berichtete Beobachtung geprüft, dass im Versorgungsalltag über die gleichzeitige Adressierung des Endocannabinoidsystems (ECS) und des endogenen Opioidsystems bei manchen Patienten eine verstärkte Schmerzreduktion erzielt werden kann [2]. Die endogenen Opioid- und Cannabinoidrezeptorsysteme sind in den Regionen des zentralen und peripheren Nervensystems weit verbreitet und kolokalisiert. Eine Vielzahl präklinischer Belege deutet darauf hin, dass es funktionelle Interaktionen zwischen diesen beiden Systemen gibt, die zu therapeutischen Zwecken genutzt werden können. Zahlreiche Tierstudien haben gezeigt, dass Cannabinoid-Agonisten wie Delta-9-Tetrahydrocannabinol (Dronabinol) die analgetischen Effekte von µ-Opioid-Agonisten verstärken können [2]. Cannabinoide wie Dronabinol sind die einzigen Wirkstoffe, die gezielt das ECS adressieren. Prospektive, kontrollierte klinische Studien, die Synergieeffekte von Cannabinoiden mit Opioiden belegen, fehlen zwar noch, doch berichten immer mehr Ärzte und Patienten über entsprechende positive Erfahrungen mit der Add-on-Gabe von THC-haltigen Cannabis-Zubereitungen zu einer insuffizient wirksamen Opioidtherapie. Die im klinischen Alltag beobachteten Synergieeffekte von THC und Opioiden lassen sich auf molekularer Ebene teilweise auch über eine Heterodimerisierung von Cannabinoid-1-Rezeptoren (CB1R) und Delta-Opioid-Rezeptoren (DOR) erklären [3]. Demnach besteht eine enge Verbindung zwischen Cannabinoid- und Opioidsignalwegen bei der Modulation der Schmerzwahrnehmung. Die Ergebnisse weiterer experimenteller Untersuchungen zeigen eine verstärkte Wirkung von Opioiden, insbesondere von Fentanyl, bei Kombination mit THC (Abb. 1) [4]. Abb. 1 Präklinische Daten zeigen eine verstärkte Wirkung von Opioiden, insbesondere von Fentanyl, bei Kombination mit Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) im Tierversuch (modifiziert nach [4]) Springer Medizin Verlag GmbH × Auch die hier vorgestellten Fallbeispiele (Kästen) weisen darauf hin, dass die Add-on-Gabe von Cannabinoiden zu einer Opioideinsparung beitragen und die Gesamtsituation von Patienten mit therapierefraktären chronischen Schmerzen verbessern kann. Kasuistik 1: Komplexes regionales Schmerzsyndrom – THC hilft, Opioide einzusparen Der 58-jährige Patient stellte sich mit brennenden, einschießenden Schmerzen in beiden Füßen (Maximalwert von 10 auf der numerischen Schmerzskala, NRS) und massiver Allodynie vor. Der Patient wirkte sehr angespannt, konnte nicht ruhig stehen oder sitzen. Im Jahr 2008 hatte der Patient ein Überrolltrauma durch einen Gabelstapler über beide Beine erlitten. In der Folge entwickelte sich ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (Complex Regional Pain Syndrome, CRPS) in beiden Beinen mit konsekutiven Rücken-, Schulter- und Ellenbogenschmerzen (NRS 6–8/10) durch langjähriges Laufen an Unterarmgehstützen. Aufgrund ausgeprägter nächtlicher Schmerzattacken schlief der Patient sehr schlecht. Er zog sich aus dem sozialen Umfeld zurück, beschränkte Aktivitäten auf ein Minimum und bewältigte alltägliche Aufgaben nur mit viel Mühe, Schmerzen und Hilfe durch die Ehefrau. Seit dem Unfall befindet sich der Patient in psychotherapeutischer Behandlung. Im Rahmen der interdisziplinären Behandlung durch Orthopäden, Neurologen, Internisten und Schmerzmediziner erhält der Patient seit vielen Jahren eine hochdosierte Schmerztherapie mit Oxycodon/Naloxon und Morphin bei Bedarf sowie seit drei Jahren zusätzlich Duloxetin. Eine stationäre multimodale Schmerztherapie zeigte keinen bleibenden Effekt. Physikalische Maßnahmen sind erschöpft. Koanalgetika wie Gabapentin und Pregabalin waren wirkungslos oder wurden nicht vertragen. Im Mai 2017 wurde eine Behandlung mit dem Wirkstoff Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) eingeleitet mit dem Ziel, die Schmerzen zu reduzieren, Schmerzattacken zu minimieren, die Dosis der Opiate zu verringern und die innere Unruhe zu dämpfen. Die THC-Dosis wurde von initial 2×2 Tropfen (25mg/ml) alle zwei Tage um jeweils 1 Tropfen morgens und abends bis maximal 15 Tropfen (12,5mg) pro Tag auftitriert. Im weiteren Verlauf erhielt der Patient eine stabile Dosis von 3×5 Tropfen pro Tag, gelegentlich 6–8 (statt 5) Tropfen am Abend. Seit sechs Monaten ist die Dosis stabil. Unter THC war es möglich, die Morphin-Bedarfstherapie abzusetzen und die Dosierungen von Oxycodon/Naloxon und Duloxetin zu reduzieren. Bei guter Therapieadhärenz wurde die Schmerzstärke in den Beinen stabil auf 5–6/10 NRS reduziert. Die Allodynie an Unterschenkeln und Füßen nahm um ca. 20% ab, die Schmerzattacken wurden auf die Hälfte reduziert mit deutlich geminderter maximaler Intensität. Auch die innere Unruhe und die Schlafqualität besserten sich. Der Patient berichtet über eine insgesamt gesteigerte Lebensqualität, da er nun aktiver und belastbarer sei, was sich nach den Worten der Ehefrau auch auf das familiäre Umfeld positiv auswirke. Quelle: Es handelt sich um ein reales Fallbeispiel aus der Praxis eines in Deutschland niedergelassenen Facharztes für Anästhesiologie. Kasuistik 2: Cannabisblüten inhalativ erfolgreich gegen Schmerzspitzen Der Patient (Anfang Sechzig) stellte sich mit starken Rückenschmerzen vor. Der Wert auf der numerischen Schmerzskala (NRS) lag im Durchschnitt bei 8/10, mindestens bei 6/10. In den Jahren 2013–2019 waren bei dem Patienten mehrere Wirbelsäulen- und Bandscheibenoperationen durchgeführt worden, im Anschluss war es zu Wundheilungsstörungen gekommen. Aufgrund einer iatrogenen Nervenverletzung besteht eine Fußheberparese links. Nach Hüft-TEP links erfolgte aufgrund von infektionsbedingten Lockerungszeichen eine Revisions-OP. Eine weitere Revision lehnte der Patient ab. Anamnestisch bestehen ein schwer kontrollierbarer Hypertonus, Z.n. Myokardinfarkt und Stenting 2015, massiver Nikotinabusus (60 Packungsjahre), riskanter Alkoholkonsum („wirkt eben schmerzlindernd“) sowie eine mittelgradige Depression. Seinen Arbeitsplatz hat der Patient krankheitsbedingt verloren. Unter der aktuellen Medikation mit Oxycodon/Naloxon bis zu 100mg/d, Fentanyl Pflaster bis 75µg sowie Buprenorphin, Pregabalin und Gabapentin berichtet der Patient über Obstipation, massive Übelkeit und Hautirritationen. Es besteht keine antidepressive Medikation. Trotz Opiatrotation, Einleitung einer Duloxetin-Therapie, Reduktion der Pregabalin-Dosierung und Beginn einer antidepressiven Therapie mit Ami-trip-tylin liegt der NRS-Durchschnitt weiterhin bei 6/10 (maximal 9/10, mindestens 5/10). Noch immer kommt es mehrfach täglich zu massiven Schmerzexazerbationen. Die Einleitung einer Therapie mit Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) führt zu einer deutlichen Besserung der Gesamtsituation. Weiterhin bestehende Schmerzspitzen können durch die zusätzliche Anwendung von Cannabisblüten günstig beeinflusst werden. Verordnet wurden Cannabisblüten Red No 2 (THC 20,0% : CBD <0,5%, Sativa) 0,2g 2× täglich im Vaporisator am Tag sowie Cannabisblüten Red No 4 (THC 24,0% CBD <0,5%, Indica) zur Nacht. Quelle: Dr. med. Marc Seibolt, MBA Chefarzt Algesiologikum, Tagesklinik für Schmerzmedizin, München Wirksamkeit von THC im Versorgungsalltag Mehrere retrospektive Analysen von Daten aus dem klinischen Alltag in Deutschland bestätigen die deutliche Schmerzreduktion unter THC und zeigen, dass die Add-on-Gabe dazu beitragen kann, Koanalgetika einzusparen und Begleitsymptome zu verbessern [1, 5, 6]. Bereits im Jahr 2009 wurden die Daten von 124 Patienten publiziert, die im Mittel sieben Monate lang orales Dronabinol zusätzlich zu ihrer bestehenden Schmerztherapie erhalten hatten. Die Patienten litten an zentralen neuropathischen Schmerzen (n=92) oder an einer Fibromyalgie (n=32). Bei den meisten (n=114) dauerten die Schmerzen bereits mehr als drei Jahre an. Viele litten zusätzlich unter schmerzbedingten Schlafstörungen oder einer Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. Alle Patienten erhielten orales THC (Dronabinol) zusätzlich zu ihrer vorbestehenden Schmerztherapie, weil sie auf die bisherige Therapie nicht ausreichend ansprachen. Die Schmerzintensität, gemessen mithilfe der numerischen Schmerzskala (NRS), nahm unter THC deutlich ab [5]. Die Anzahl der eingenommenen Koanalgetika konnte von durchschnittlich 4,2 auf 1,0 (plus Dronabinol) reduziert werden. Auch der Pain Disability Index, die gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie Angst und depressive Symptome besserten sich unter der Cannabinoidgabe [5]. Cannabisblüten als Therapieoption Für bestimmte Patienten können Cannabisblüten eine Therapieoption darstellen, z.B. wenn die orale Anwendung nicht ausreichend wirksam ist (z.B. bei individuell hohem First-Pass-Effekt in der Leber), nicht gut vertragen wird, ein schnellerer Wirkeintritt gewünscht ist oder wenn bei remittierenden Beschwerden keine Cannabinoid-Dauertherapie erforderlich ist [7]. Für Cannabisblüten ist grundsätzlich die Inhalation mittels eines Vaporisators zu empfehlen. Vaporisatoren erhitzen Cannabisblüten (auf 150–210°C), wobei sich freies THC und Cannabidiol aus den pharmakologisch inaktiven Prodrugs bilden und verdampft werden. Es kommt zu einer minutenschnellen Anflutung, sodass sich die Anwendung beispielsweise zur Reduktion von Schmerzspitzen, nächtlichen (MS-)Spastiken oder Tourette-Tics eignet. Übernimmt die GKV die Kosten für eine Therapie mit Cannabisblüten, werden in der Regel auch die Kosten für den Vaporisator übernommen [7]. Literatur Wendelmuth et al., Schmerz 2019, 33:384–391 Babalonis S, Walsh SL, Eur Neuropsy-chopharmacol 2020, 36:206–216 Bushlin I et al., PLoS ONE 2012, 7:e49789, doi:10.1371/journal.pone.0049789 Maguire DR, France CP, J Pharmacol Exp Ther 2014, 351:383–389 Weber J et al., Anesthesiol Res Pract 2009, pii:827290 Horlemann J, „Schmerz im Alter – DGS-PraxisRegister-Daten im Fokus”, Deutscher Schmerz- und Palliativtag online, 24. Juli 2020, Vortrag Seibolt M, „Therapeutischer Nutzen von Cannabinoiden: Was wir aus der realen Versorgung wissen“, Deutscher Schmerz- und Palliativtag online, 24. Juli 2020, Vortrag Impressum „Therapierefraktäre Schmerzen: Opioide und Cannabinoide – Synergien nutzen“ Literatur und Kasuistiken Berichterstattung: Dr. Kirsten Westphal, Heimstetten Artikel gedruckt in: Der Schmerz, Band 34, Heft 5, Oktober 2020; sowie in: DGNeurologie, Band 3, Heft 6, November 2020 Mit freundlicher Unterstützung der Spectrum Therapeutics GmbH, Neumarkt Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Andrea Krahnert Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Therapierefraktäre Schmerzen: Opioide und Cannabinoide – Synergien nutzen

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