Das atypische hämolytisch-urämische Syndrom (aHUS) ist eine seltene, genetisch vermittelte Systemerkrankung, die mit einer unkontrollierten Aktivierung des Komplementsystems und thrombotischer Mikroangiopathie (TMA) einhergeht. Klinisch ist das aHUS durch die Trias aus mikroangiopathischer hämolytischer Anämie, Thrombozytopenie und Endorganschaden, meist im Sinne einer akuten Nierenfunktionseinschränkung, charakterisiert [
6,
19,
20,
22]. Eine häufige Ursache des hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS), insbesondere bei Kindern, ist die Infektion mit einem shigatoxinproduzierenden enteropathischen
E.-coli-Stamm (STEC-HUS). Davon abzugrenzen ist das seltene aHUS, das aufgrund seiner Heterogenität für die Diagnosestellung eine komplexe Diagnostik und die Abklärung eines breiten Spektrums an Differenzialdiagnosen erfordert [
2,
12,
14,
26]. Prinzipiell kann das aHUS auch sekundär, z. B. durch andere Erkrankungen oder durch Medikamente, ausgelöst werden. Bisherige Daten legen nahe, dass mindestens 50 % der betroffenen Patienten eine genetische oder autoimmune Prädisposition aufweisen, die durch einen komplementverstärkenden Auslöser zur Dysregulation des alternativen Komplementsystems führt [
6,
8,
19,
22].
Vor der Zulassung der medikamentösen Komplementblockade bestanden bei aHUS-Patienten eine hohe Mortalität und eine schlechte renale Prognose. Eine französische Studie berichtete, dass aHUS bei 29 % der Kinder und 56 % der Erwachsenen innerhalb eines Jahres nach Krankheitserstmanifestation zur terminalen Niereninsuffizienz oder zum Tod führt; wobei sich diese Rate nach 5 Jahren bei Kindern auf 36 % und bei Erwachsenen auf 64 % erhöht [
5]. Die Therapie umfasste in der Vergangenheit Plasmapheresen oder Plasmainfusionen [
1], welche den akuten und chronischen Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können; die Langzeitergebnisse blieben jedoch häufig unbefriedigend. Mit der Entwicklung von Medikamenten zur direkten Beeinflussung des bei aHUS aktivierten Komplementsystems haben sich neue Therapieoptionen ergeben. In neueren Studien wurde die Wirksamkeit des humanisierten, monoklonalen Antikörpers Eculizumab mit positivem Effekt auf Mortalität und Nierenfunktion nachgewiesen [
3,
9,
16,
18]. Dies führte in einigen Ländern ab 2011 zur Zulassung von Eculizumab bei aHUS und zur Anpassung nationaler und internationaler Therapieempfehlungen [
19,
20].
Aufgrund der niedrigen Inzidenz von etwa 0,5 pro 1 Mio. Einwohner [
14] gilt das aHUS als sehr seltene Erkrankung („ultra-rare disease“). Möglicherweise ist das aHUS jedoch häufiger vorzufinden, da die Diagnosestellung mit der Kenntnis von aHUS, dem Bewusstsein für die Krankheitsentität und den diagnostischen Möglichkeiten assoziiert zu sein scheint. Internationale Register sind daher eine wichtige Strategie, um die Prävalenz, den Verlauf der Krankheit, die Wirksamkeit klinischer Therapien, die Sicherheit von Medikamenten und die Versorgungsqualität zu erforschen [
7,
24]. Aus diesem Grund wurde 2012 das globale aHUS-Register (Global aHUS Registry, NCT01522183) ins Leben gerufen.
Methoden der Studie
Das globale aHUS-Register ist nichtinterventionell und wurde 2012 mit der Unterstützung von Alexion Pharmaceuticals Inc. (New Haven, CT) initiiert [
17,
25]. Diese Beobachtungsstudie umfasst retrospektiv und prospektiv erhobene Daten von Patienten mit aHUS in Deutschland, sowie Follow-up-Daten (analog zur Gesamtpopulation [
25]). Patienten wurden in das Register eingeschlossen, wenn differenzialdiagnostisch eine thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP; durch ADAMTS13 [„a disintegrin and metalloproteinase with a hrombospondin type 1 motif, member 13“]) und STEC-HUS als Auslöser der TMA ausgeschlossen wurden (Einzelheiten siehe [
17,
25]). In der aktuellen Studie wurden lediglich Daten von Patienten vor oder ohne Eculizumabbehandlung analysiert. Der Datenbankschluss war am 05. Mai 2017 und somit in dieser Studie später als in der Gesamtkohorte (30. November 2015), wodurch eine größere Anzahl an Patienten in die Analyse eingeschlossen werden konnte ([
25],
n = 136 in Deutschland; hier
n = 197, d. h. 45 % zusätzlich untersuchte Patienten). Pädiatrisch und erwachsen sind definiert als unter 18 Jahre bzw. mindestens18 Jahre. Die initialen und chronischen Krankheitsphasen entsprechen Krankheitsdauern von 6 Monaten oder weniger und mehr als 6 Monaten. Alle Daten wurden von den Autoren überprüft. Die Analysen wurden mit SAS, Version 9.4 (SAS Institute, Cary, NC) durchgeführt.
Diskussion
Die vorliegenden Registerdaten einer Kohorte von aHUS-Patienten zeigen zum ersten Mal eine systematische phänotypische und genetische Charakterisierung dieser Population in Deutschland.
Im Durchschnitt waren die Patienten in Deutschland bei Krankheitserstmanifestation älter als im globalen Vergleich (mittleres Alter: 33,1 vs. 21,4 Jahre [alle Patienten]; 5,4 vs. 3,8 Jahre [pädiatrisch]; 49,4 vs. 35,4 Jahre [erwachsen]). Der Anteil der Patienten mit aHUS-Erstmanifestation im Erwachsenenalter lag höher als in der globalen Kohorte und in einer französischen Population beschrieben (63 % vs. 55 % bzw. 58 %; [
5,
25]). In einer italienischen Studie war dieser Anteil mit 41 % sogar noch geringer [
21]. Diese Altersunterschiede bei Erstmanifestation deuten möglicherweise auf regionale Variationen hin; wahrscheinlicher sind jedoch Unterschiede beim Studieneinschluss bzw. bessere Kenntnis im Hinblick auf die Erkrankung bei älteren Patienten in den deutschen Zentren.
Der Anteil von erkrankten weiblichen und männlichen Patienten in Deutschland war mit den Daten des gesamten Registers vergleichbar (weiblich: 37 % [pädiatrisch]/65 % [erwachsen], männlich: 43 % [pädiatrisch]/65 % [erwachsen]; [
25]). In der deutschen Kohorte gab es ebenfalls mehr männliche Patienten mit pädiatrischer Krankheitserstmanifestation, wobei sich dieses Verhältnis mit zunehmendem Alter umkehrte [
25]. Der Anstieg bei den weiblichen Patienten deutet möglicherweise auf ein erhöhtes postpubertäres Risiko oder ein geringeres Risiko vor dem reproduktionsfähigen Alter hin. Die Zunahme der aHUS-Häufigkeit bei Frauen im gebärfähigen Alter könnte mit Schwangerschaft als beschriebenem Auslöser von aHUS zusammenhängen [
4,
5]. Allerdings war nur bei 4,8 % der erwachsenen weiblichen Patienten eine Schwangerschaft dokumentiert (vergleichbar mit den Daten des gesamten Registers: 9 %; [
25]).
aHUS-Patienten in deutschen Zentren hatten im Vergleich zur globalen Registerpopulation seltener eine positive Familienanamnese für aHUS und wurden früher im Krankheitsverlauf in das Register aufgenommen [
25]. Behandlungsrate und -dauer sowie die Anzahl der Nierentransplantationen waren jedoch bei beiden Populationen ähnlich. Obwohl 68,5 % der Patienten bereits in der initialen Krankheitsphase eingeschlossen wurden und 48,2 % mit Plasmapherese oder -infusionen behandelt wurden, mussten 19,8 % vor Registereintritt chronisch dialysiert werden, 17,3 % benötigten eine Nierentransplantation, und 67,5 % erlitten ein Rezidiv der TMA. Dies bestätigt die schlechte Prognose für Patienten mit aHUS im Hinblick auf das Überleben ohne terminale Niereninsuffizienz.
Publizierte Daten suggerieren, dass bei bis zu zwei Drittel aller diagnostizierten aHUS-Fälle Störungen in komplementregulierenden Proteinen festgestellt werden [
5,
6,
21,
22]. In der hier beschriebenen Population zeigte sich ebenfalls bei 68,3 % der Patienten mit umfassenden genetischen Untersuchungen eine Mutation in aHUS-assoziierten Genen [
28] oder ein positiver Nachweis von Anti-CFH-Antikörpern. Sowohl bei den pädiatrischen als auch bei den erwachsenen Patienten kamen
CFH-Mutationen oder Anti-CFH-Antikörper am häufigsten vor (16,3 und 24,4 %). Diese Prävalenz ist vergleichbar mit den Daten des globalen aHUS-Registers sowie deutsch-österreichischer und südkoreanischer Studien [
10,
15,
25], während Anti-CFH-Antikörper in einer indischen Kohorte (56 %) häufiger und in anderen kleineren Registerstudien mit 6 % bzw. 11 % deutlich seltener vorkamen [
5,
13,
21,
27]. Diese Unterschiede könnten durch regionale (z. B. ethnische) Variationen oder durch unterschiedliche Sensitivität bei der Analyse von Anti-CFH-Antikörpern erklärt werden. In der vorliegenden Kohorte zeigten sich, vergleichbar mit der Gesamtpopulation des globalen aHUS-Registers, keine Unterschiede in der Prävalenz von Anti-CFH-Antikörpern bei pädiatrischen und erwachsenen Patienten. Dies widerspricht den Ergebnissen einer französischen Studie, die ein erhöhtes Vorkommen bei pädiatrischen Patienten berichtet [
5]. Demnach kommt auch bei erwachsenen Patienten die autoimmune Form des aHUS mit 20,5 % relativ häufig vor.
CFH- und
MCP(„membrane cofactor protein“)-Mutationen zeigten sich in Deutschland überwiegend bei Patienten mit pädiatrischer Erstmanifestation, was den Befunden der Gesamtpopulation entspricht [
25]. Da Veränderungen des Komplementsystems bei aHUS-Patienten das Überleben ohne terminale Niereninsuffizienz sowie das Rezidivrisiko nach Nierentransplantation beeinflussen können, sollten genetische Analysen und Anti-CFH-Antikörper-Untersuchungen bei jeder Erstmanifestation eines aHUS erfolgen, auch um ein umfassenderes Verständnis für den Zusammenhang von Komplementstörungen und Krankheitsverlauf gewinnen zu können.
Die 5‑Jahres-Überlebensrate ohne terminale Niereninsuffizienz war bei allen Patientengruppen in Deutschland niedriger als in der Gesamtpopulation (erwachsen: 25 % vs. 49 %; pädiatrisch: 61 % vs. 73 %; [
25]), allerdings mit kürzerem Follow-up bei erwachsenen Patienten (≤7,5 Jahre vs. 15 Jahre bei Kindern). Das Risiko für die Entwicklung einer terminalen Niereninsuffizienz ist mit dem Alter bei Erstmanifestation assoziiert, wobei 61 % der pädiatrischen, aber nur 25 % der erwachsenen Patienten nach 5 Jahren keine Nierenersatztherapie benötigten. Diese Diskrepanz zwischen den Altersgruppen ist in Deutschland ausgeprägter als in der globalen Population und in der französischen Studie beschrieben [
5,
25]. Unterschiede im klinischen Alltag, insbesondere frühere Überweisung, schnellere Diagnose, kürzere Untersuchungsintervalle sowie aggressivere Behandlungsmethoden bei Kindern, könnten diese Divergenz erklären. Im Vergleich zu anderen Kohorten [
5] war v. a. die renale Prognose von Patienten mit CFH-Antikörpern deutlich schlechter.
Extrarenale Manifestationen wurden vor dem globalen aHUS-Register nur in geringen Fallzahlen oder Literaturreviews berichtet [
11,
23], wobei die hier gezeigten Raten von 16,3–32,6 % in der initialen Krankheitsphase diesen Daten ähneln [
21,
25].
Mögliche Limitationen dieser Registerstudie sind nicht berichtete Krankheitsereignisse, fehlende Daten von Patienten mit schlechter Prognose (Patienten, die vor Studieneinschluss verstarben), abweichende und unterschiedliche Interpretationen der Krankheitsmerkmale bei Studieneinschluss oder inadäquate Folgeuntersuchungen (Anteil „lost to follow-up“: 15,4 %). Das aHUS wird durch ein Ausschlussverfahren diagnostiziert, wodurch ein Spielraum in der Auslegung nicht auszuschließen ist [
8,
14,
19]. Eine Standardisierung der Diagnostik über verschiedene Studienzentren war nicht gegeben, was sich auch im relativ geringen Anteil an Patienten mit umfassender genetischer Diagnostik (
n = 63 von 197 Patienten) widerspiegelt. Trotz möglicher Unterschiede zwischen verschiedenen Zentren bei Diagnostik, TMA-Beurteilung und genetischen Untersuchungen tragen diese Daten grundlegend zum Verständnis des aHUS bei.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.