Problemlagen
Eine nach Häufigkeit geordnete Übersicht über die Problemlagen, die aus den 427 In-vivo-Codes verdichtet wurden, gibt Tab.
1. Erwartungsgemäß zeigt sich, dass es keine Familie gibt, die nicht über Probleme berichtet. Die Quotienten, gebildet aus der Zahl der Problemcodes und der Zahl der Familien, rangieren zwischen 18,5 und 23,9 (Tab.
1,
erste Zeile), d. h., die 3 Familientypen sind hinsichtlich der Berichtsmasse vergleichsweise homogen, wobei die Familien mit kranken Mitgliedern etwas mehr berichten.
Tab. 1
Häufigkeiten der Nennungen einzelner Problemklassen in 3 unterschiedlich belasteten Familientypen
Corona unspezifisch | 108 | 26 (4) ≙ 6,5 | 71 (12) ≙ 5,9 | 11 (2) ≙ 5,5 |
Coronaeinschränkungen | 104 | 15 (4) ≙ 3,75 | 78 (12) ≙ 6,5 | 11 (3) ≙ 3,7 |
Stress | 65 | 11 (4) ≙ 2,75 | 44 (10) ≙ 4,4 | 10 (3) ≙ 3,3 |
Homeschooling | 53 | 3 (1) ≙ 3 | 43 (11) ≙ 3,9 | 7 (2) ≙ 3,5 |
Soziale Verluste | 43 | 13 (4) ≙ 3,2 | 22 (9) ≙ 2,4 | 8 (2) ≙ 4 |
Mehrfachbelastung | 39 | 7 (2) ≙ 3,5 | 29 (8) ≙ 3,6 | 3 (2) ≙ 1,5 |
Fehlende Struktur | 30 | 12 (3) ≙ 4 | 12 (8) ≙ 1,5 | 6 (1) ≙ 6 |
Fehlende soziale Unterstützung | 29 | 4 (2) ≙ 2 | 13 (7) ≙ 1,8 | 12 (3) ≙ 4 |
Gesundheit | 23 | 4 (2) ≙ 2 | 11 (5) ≙ 2,2 | 8 (1) ≙ 8 |
Enge | 19 | 4 (2) ≙ 2 | 14 (6) ≙ 2,3 | 1 (1) ≙ 1 |
Existenzielle Bedrohung | 11 | 2 (1) ≙ 2 | 7 (4) ≙ 1,75 | 2 (1) ≙ 2 |
Sozialer Druck | 8 | 0 | 8 (3) ≙ 2,7 | 0 |
Finanzielle Probleme | 6 | 1 (1) ≙ 1 | 4 (2) ≙ 2 | 1 (1) ≙ 1 |
Dieses Muster betrifft auch jene 108 unspezifischen Probleme, die zwar mit der Pandemie zusammenhängen, aber bis zum Ende des Projekts nicht anders zugeordnet wurden. Hierzu gehören sehr unterschiedliche Probleme, die von einem verunmöglichten Büfett im Garten zur Jugendweihe des Sohnes (E01§121) über „negatives Denken“ (K04§380) bis zu schwierigen Umzügen (K06§428) reichen. Unerwartete Probleme entstanden, wenn etwa durch die Belastungssituationen Familiengeheimnisse, wie außerehelichen Beziehungen, auftauchten: „Dadurch, dass ich auch im Krankenhaus war und er sich richtig Sorgen gemacht hat, gab’s auch nochmal ’ne andere Situation, [in der] bei ihm noch Sachen rauskamen, die vorher noch nicht so ganz klar waren“ (K07$310). Die unspezifischen Belastungen jedoch verteilten sich ungefähr gleich über die untersuchten Gruppen und ließen keine Sonderstellung der Familien mit erkrankten Mitgliedern erkennen. Probleme, die unter „Coronaeinschränkungen“ zusammengefasst wurden, betreffen hingegen die Familien mit erkrankten Kindern deutlicher als die anderen Typen, fast doppelt so häufig (6,5:3,7). Eine nähere Inspektion ergibt, dass beispielsweise Aggressionen zwischen den Kindern in dieser Gruppe etwas häufiger berichtet werden als in den anderen beiden. Eine Mutter führt dies auf den Mangel an außerhäuslichen Kontakten der Kinder zurück: „Die Zeit, wo es hieß, die Kiddis dürfen keine Freunde treffen oder so, dann waren halt die Großen immer aufeinander, und der Große braucht halt auch ab und zu mal Zeit für sich, und klar, der ist jetzt auch zwölf, und das hat die Achtjährige immer nicht verstanden, die ist immer wieder rein und hat genervt und dann gab’s irgendwann auch mal ’ne kleine Klopperei, und das hat man dann schon fast jeden Tag …“ (K01§57). Auch aus diesem Grund stellte sich das Allein-zu-Haus-Lassen der Kinder in vielen Familien mit erkrankten Kindern zumindest anfänglich als größtes Problem heraus, insbesondere, wenn die Eltern ihrer Arbeit nachgehen mussten: „… dass sie keinen Blödsinn macht, auf Deutsch gesagt … Es ist natürlich beruhigend, wenn man weiß, Kind geht morgens zur Schule, und es kommt zu seinen normalen Zeiten wieder nach Hause“ (K04§119). Auch der Ausfall sportlicher Betätigung im Verein traf die Familien mit erkrankten Kindern härter als die anderen, trotz elterlicher Anstrengungen: „Am Anfang … bin ich mit ihr zusammen gegangen, irgendwann hatte sie keine Lust mehr, also Lauftraining machen, Kickboxen, ne. Das ist alles ausgefallen. auch noch Kampfsport, ne, das ist alles ausgefallen, und das … fand ich sehr schade“ (K06§100). Auffällig sind auch Nennungen, in denen Eltern mit erkrankten Kindern die Probleme beschreiben, die entstanden, wenn sie ihre Kinder zu wichtigen Verrichtungen mitnehmen müssen, und diese größere Probleme mit der Maskenpflicht hatten, etwa beim Einkaufen.
Auch bei den Codes, die unter „Stress“ zusammengefasst wurden, fallen die Eltern psychisch erkrankter Kinder mit häufigeren Nennungen auf. Die meisten Stresscodes waren an Einschränkungen gebunden, u. a., weil den Eltern psychisch erkrankter Kinder die Zeit zum Umlernen zu kurz war. Die Probleme, die sich v. a. auf das Homeschooling beziehen (n = 53), verteilen sich hingegen gleichmäßig auf die Gruppen. Der letzte deutliche Unterschied, der erörtert werden soll, betrifft die „fehlende soziale Unterstützung“. Alle erkrankten Eltern beklagen sich massiv, während die anderen Familien hierzu seltener berichten. Die dahinterstehenden Gründe sollen kurz inspiziert werden. Einweisungen in die Klinik, die aus der Sicht der Familien mit der Pandemie zusammenhängen, erschwerten das Familienleben sehr. In diesem Fall berichtet die Mutter: „… es war eher so dieses, ja so Ärger und Wut, und dass alles so extrem schwierig dadurch wird, also so ich hab mir gedacht, jetzt die Zeit ist sowieso schon schwierig für die Kinder und für meinen Mann, wenn ich jetzt in der Klinik bin …“ (E01§111). Auch eine andere Patientin, die zusätzlich somatisch erkrankt ist, darf eigentlich nicht krank werden, da ohne funktionierende Einrichtungen die Betreuung ihres jüngsten Kindes nicht gewährleistet ist: „Ne, denn auch noch hier mit’m Krankenhaus … mit Herzkatheter, war auch die Coronazeit. So, wo bleibt er jetzt, mein [kleiner] Sohn … mein großer Sohn konnte ihn nicht nehmen …“ (E02§70). Als alleinerziehende Mutter ohne Freundesnetzwerk und mit nur wenigen, kaum belastbaren Beziehungen hat die Befragte einen starken Konflikt: „Freunde hab’ ich keine, ich sach mal, ich hab nur ’ne gute Bekannte … oder ein älteren Herrn, aber er wurde jetzt auch schwer krank … er raucht zu viel, und ich kann das nicht ab. Und meine Bekannte, mit der ich Kaffee trinken war, der kannste nicht alles erzählen … das sind dann keine Freunde“ (E02§86). Einer dritten Patientin, die von ihrem Mann getrennt lebte, wurden die Coronaregelungen zum Verhängnis, die sich eher auf Haushalte, aber nicht auf Familien, richteten. Ihr geschiedener Mann argumentierte für den vollständigen Verbleib der Kinder bei ihm, da sie, als arbeitende Mutter mit weniger Platz in Pandemiezeiten nicht ausreichend für die Gesundheit der Kinder sorgen könne. Alle 3 Patientinnen fühlten sich mit derartigen Problemen alleingelassen, da diese auch nicht „wegtherapiert“ werden könnten. Hiermit beschrieben sie den Umstand, dass sie die COVID-19-bezogenen Belastungen als unabhängig von ihrer Krankheit und damit der Psychotherapie unzugänglich erlebten.
Zusammenfassend lassen sich zwei Komplexe ausmachen, die familientypisch zu sein scheinen. Familien mit erkrankten Kindern leiden deutlicher unter den Einschränkungen, die sich jedoch weniger auf das Homeschooling beziehen, sondern eher auf die fehlenden Möglichkeiten außerhalb der Familie. Die fehlende Betreuung machte es allen Eltern schwer, täglich zur Arbeit zu gehen. Bei psychisch erkrankten Eltern stehen fehlende Unterstützungen der Eltern selbst im Vordergrund.
Bewältigungsstrategien
Die Nennungen zu Bewältigungsstrategien wurden ähnlich quantifiziert und geordnet wie die zu Problemen. Der Übersicht halber werden in Tab.
2 nur Strategien aufgeführt, die mindestens 7‑mal genannt wurden. Grundsätzlich lässt sich auch hier sagen, dass die pandemiebedingten Probleme (Tab.
1,
erste Zeile) auf vielfältigste Weise bewältigt werden, wobei wieder die Familien mit erkrankten Mitgliedern etwas mehr berichten.
Tab. 2
Häufigkeiten der Nennungen einzelner Bewältigungsstrategien in 3 unterschiedlich belasteten Familientypen
Situationskontrolle | 99 | 11 (2) ≙ 5,5 | 72 (11) ≙ 6,5 | 11 (2) ≙ 5,5 |
Suche nach sozialer Unterstützung | 76 | 17 (2) ≙ 8,5 | 45 (11) ≙ 4,1 | 14 (3) ≙ 4,7 |
Gedankliche Weiterbeschäftigung | 41 | 3 (2) ≙ 1,3 | 26 (6) ≙ 4,3 | 12 (2) ≙ 6 |
Ersatzbefriedigung | 42 | 5 (2) ≙ 2,5 | 26 (8) ≙ 3,2 | 11 (3) ≙ 3,7 |
Vermeidung | 30 | 8 (4) ≙ 2 | 22 (9) ≙ 2,4 | 0 |
Positive Selbstinstruktion | 26 | 9 (3) ≙ 3 | 15 (8) ≙ 1,9 | 2 (2) ≙ 1 |
Herunterspielen durch Vergleich mit anderen | 24 | 9 (4) ≙ 2,2 | 14 (8) ≙ 1,8 | 1 (1) ≙ 1 |
Schuldabwehr | 18 | 0 | 14 (3) ≙ 4,7 | 4 (1) ≙ 4 |
Bagatellisierung | 16 | 3 (2) ≙ 1,5 | 12 (8) ≙ 1,5 | 1 (1) ≙ 1 |
Selbstbemitleidung | 15 | 0 | 13 (5) ≙ 2,6 | 2 (1) ≙ 2 |
Aggression | 15 | 1 (1) ≙ 1 | 13 (5) ≙ 2,6 | 1 (1) ≙ 1 |
Flucht | 12 | 2 (1) ≙ 2 | 8 (7) ≙ 1,1 | 2 (1) ≙ 2 |
Resignation | 12 | 1 (1) ≙ 1 | 11 (6) ≙ 1,8 | 0 |
Entspannung | 12 | 3 (2) ≙ 1,3 | 5 (4) ≙ 1,2 | 4 (1) ≙ 4 |
Mediennutzung | 9 | 2 (1) ≙ 2 | 7 (3) ≙ 2,3 | 0 |
Ablenkung | 7 | 0 | 6 (4) ≙ 1,5 | 1 (1) ≙ 1 |
Soziale Abkapselung | 7 | 1 (1) ≙ 1 | 4 (2) ≙ 2 | 2 (1) ≙ 2 |
Die meisten Nennungen ließen sich als Ansätze kategorisieren, die Pandemiesituation unter Kontrolle zu bekommen, soweit dies möglich war. Dazu gehörte die fortwährende Motivation der Kinder: „Da fing er mit mal an. Ne, ich hab keine Lust, Hausaufgaben zu machen! Ich sach, das muss doch gemacht werden, sach ich, auch wenn’s mir nicht gutgeht, müssen wir doch trotzdem die Hausaufgaben machen, ne. Dann ham wir Stück für Stück dann mal zwei Blätter, am nächsten Tag dann mal drei Blätter … Ich hab ihn dann immer motiviert …“ (E02§70). In Tab.
2 wird gezeigt, dass sich hier die Ratio der Familientypen kaum unterscheidet, weshalb auf diese aktive Art der Bewältigung nicht näher eingegangen wird. Für die zweithäufigste Art der Bewältigung, die Suche nach sozialer Unterstützung, unterscheiden sich die Gruppen erheblich. Zwar berichtet nur die Hälfte der gesunden Familien hierzu pandemiebezogene Bewältigungsstrategien in unterschiedlichen Familientypen, dann jedoch doppelt so häufig wie die Familien mit erkrankten Mitgliedern. Ein entgegengesetztes Bild bietet sich für Ruminationen, im SVF „gedankliche Weiterbeschäftigung“ genannt. Hier sind die Berichte aus den kranken Familien massiver, wobei die kranken Eltern besondere Betroffenheit signalisieren. Hier betrafen die Ruminationen das Zusammentreffen von eigener Erkrankung, Pandemie und Elternrolle. Mitunter äußerte sich die Sorge schon in den ersten Momenten: „wie mein Sohn dann sachte, ja, wir gehn ab Freitag nicht mehr zur Schule. Oh Gott, hab ich gesagt, na, was das wohl wird, … wir werden dann wahrscheinlich immer aneinandergeraten“ (E02§66).
Diese Ängste wurden noch gesteigert, wenn die Hilfemöglichkeiten durch die Pandemie ebenso verringert wurden: „… und wenn du deine Panik- und Angstattacken dann hattest, wo gehste jetzt hin? Ins Krankenhaus traute ich mir schon gar nicht“ (E02§80). In den Familien mit erkrankten Kindern kreisten die Gedanken häufiger um die Kinder. So blieb die Angst vor Ansteckungen lange präsent. Mehrere Familien mit erkrankten Kindern berichteten, dass sie sich ständig das Ende der Beschränkungen herbeiwünschten: „Also, man ersehnt sich doch wirklich den ganz normalen Wahnsinn wieder, ne, also nicht diesen, ja, wie soll man das ausdrücken, ne, diesen … Es ist eigentlich alles mit Stress verbunden“ (K04§89). Oft liegen die lastenden Gedanken bei den Kindern selbst: „Sie macht sich unwahrscheinlich, sehr viel Sorgen: ‚Könn’ wir krank werden, könn’ wir nicht krank werden?‘. Hauptproblem ist, dass sie sich eigentlich den ganzen Tag damit beschäftigt, wie’s uns geht“ (K04§160).
Eine andere Mutter eines erkrankten Kindes wird die Gedanken nicht los, dass die Auswirkungen des Lockdowns für ihren Sohn anhaltend sein werden: „Ja, und er hat halt viele Sachen auch wieder verlernt, die er vorher schon konnte, wo jetzt auch wieder mehr Arbeit ist, um das wieder zu lernen, das ist ganz schwierig, so gerade in der Schule, sich wieder daran zu erinnern, beim Schreiben nicht mitzusprechen, beim Unterricht zuzuhören, nicht selber zu sprechen, ne, und dann ist es hier natürlich noch schwieriger, ihn so zu händeln, und das wird uns nächstes Jahr genauso kommen … Das ist nicht gut, definitiv nicht“ (K06§226).
Von allen anderen Bewältigungsstrategien ist der Unterschied bei „Schuldabwehr“ noch offensichtlich, wobei alle Nennungen in den kranken Familien liegen. Die meisten dieser Codes beschreiben die Externalisierung von Schuld für Probleme, wofür im Fall der Familien mit erkrankten Kindern häufig diese selbst herhalten mussten. In den Familien mit erwachsenen Patientinnen wurden häufiger andere Erwachsene oder Institutionen als Schuldige benannt.