Die COVID-19(Corona Virus Disease 2019)-Pandemie hat das Jahr 2020 geprägt. Das Virus und die Maßnahmen zur Bekämpfung haben zu neuen sozialen Strukturen und teilweise zu Veränderungen in der Gesundheitsversorgung geführt: Realitäten, die bewertet und verarbeitet werden mussten. Die vorliegende Arbeit gibt über eine qualitative Analyse Einblick in die Erfahrungen multimorbider älterer Menschen im zeitlichen Verlauf der Pandemie.
Hintergrund und Ziel der Arbeit
Zu Beginn der COVID-19-Pandemie wurden ältere, multimorbide Menschen – Angehörige der sog. Risikogruppe – aufgefordert, soziale Kontakte und Tätigkeiten weitestgehend zu meiden. Dabei meint der Begriff „Risikogruppe“ Menschen, die „ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf (bei Infektion mit SARS-CoV-2) haben“ [
13], Menschen älter als 50 Jahre und solche mit bestimmten Vorerkrankungen: z. B. Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen. In der ersten Phase der Pandemie wurde zudem zeitweise der Regelbetrieb von Krankenhäusern und Arztpraxen eingeschränkt, um mehr Kapazitäten für die Versorgung von COVID-19-Patienten zu schaffen [
4]. Es lässt sich vermuten, dass Veränderungen wie diese zu einer Zunahme von Ängsten und Einsamkeit bei älteren Menschen führen. Verschiedene Studien belegen eine enge Verbindung zwischen Einsamkeit und Isolation sowie dem Erleben von Unsicherheit mit psychischen Erkrankungen, auch im Rahmen der Pandemie [
6,
7]. Dagegen sprechen andere Studien eher dafür, dass ältere Menschen mit einer gewissen Gelassenheit durch die Zeit der Krise kommen [
2,
3,
14]. Hier ist anzunehmen, dass u. a. das Erleben von Selbstwirksamkeit eine mögliche Gelassenheit in der Krise moderiert [
7]. Dabei wird Selbstwirksamkeit als Vertrauen in die eigenen Kompetenzen verstanden, als Überzeugung, schwierige Situationen erfolgreich bewältigen zu können [
1]. Eine aktuelle Metaanalyse zeigt, dass sich ältere Menschen, die gesundheitliche Versorgung brauchen, als vermindert handlungsfähig empfinden [
17] – was sich in der Pandemie in vermehrten Ängsten und Unsicherheit widerspiegeln könnte.
Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, wie ältere Personen mit kritischen Vorerkrankungen die Pandemie wahrgenommen haben. Dabei wurden Schwerpunkte auf das affektive Erleben, die sozialen Kontakte und die Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gelegt.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Ergebnisse
Eine Übersicht über die Charakteristika der 21 TeilnehmerInnen gibt Tab.
1. Angaben zu den Untergruppen finden sich in Appendix 2 (Zusatzmaterial online). Es fiel auf, dass die depressive Beschwerdelast in den Phasen 3 und 4 (November 2020 bis Januar 2021) deutlich höher lag als in den Phasen 1 und 2 (07–09/20) (PHQ- Score: 11,1 ± 5,6 vs. 6,5 ± 4,7). Alle Interviewten befanden sich aufgrund eines akuten kardialen Ereignisses in stationärer Behandlung.
Tab. 1
Demografische und klinische Daten der Studiengruppe
Anzahl Interviews | 21 (11 weiblich, 10 männlich) (t1:6; t2/t3/t4:5) |
Alter | 69,3 ± 8,2 Jahre; Min.: 58; Max.: 88 |
Familienstand | 12 verheiratet, 1 alleinstehend, 6 geschieden/verwitwet, 20 zu Hause lebend, 1 im Pflegeheim |
Bildungsstand | 10 Volksschule, 3 Realschule, 3 Abitur/Hochschulbildung, 4 Sonstige |
Anzahl, Diagnosen | 5,3 ± 2,9; Min.: 2; Max.: 17 |
Häufigste Diagnosen | Herzrhythmusstörungen, KHK, Herzklappenvitien, Kardiomyopathie pAVK, Niereninsuffizienz, Schlafapnoe, Anpassungsstörung |
Anzahl, Medikamente | 5,9 ± 3,5; Min.: 0; Max.: 21 |
Depressionssymptome | PHQ-9: Leicht: 6/Mittelgradig: 4/Schwer: 4; k. A.: 1 Mittelwert: 7,6 ± 5,4; Range 0–27 |
INTERMED-Interview | Mittelwert: 24,5 ± 6,6; 17 komplex (81 %), Range: 0–60 |
Im Juli 2020 zeigten sich Reaktionen, die von Negation jeglicher Betroffenheit bis hin zu starker Angst reichten. Dabei fiel auf, dass das Ausmaß der Betroffenheit unabhängig davon war, wie stark die PatientInnen vorerkrankt waren. Von den 6 beteiligten Personen zeigten sich eher die Personen, die noch berufstätig waren, eingeschränkt und besorgt.
„Corona …. Habe ich nichts mit zu tun“
(TN 1.1: weiblich, über 80 J., verwitwet, alleinlebend, berentet, komplex erkrankt, leicht depressiv)
„Einschränkungen …Ja also erstmal im Geschäft, ist ja logisch … Ich hatte ja fast drei Monate zu …. man wusste ja auch nicht, wie gestaltet sich da die Zukunft, ja. Muss ich mein Geschäft ganz zumachen, oder wie geht es überhaupt weiter?“
(TN 1.6: weiblich, 70–80 J., verheiratet, berufstätig, komplex erkrankt, keine psychische Erkrankung)
In den Gesprächen im September 2020 wurde der Blick auf die erste Welle der Pandemie eher relativierender. In verschiedenen Gesprächen war Erleichterung über die Lockerungen der sozialen Beschränkungen und die Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums zu spüren.
„Am Anfang hatte ich große Angst, …, aber dann haben wir uns alle mal unterhalten. Und dann haben wir gesagt, also, theoretisch kann uns ja nichts passieren. Wir halten ja alles ein … wir halten Abstand, wir tragen Mundschutz. Wir verhalten uns so, wie man sich verhalten soll, machen alles richtig. Und jetzt sage ich mir: Also, wenn ich es kriege, dann kriege ich es.“
(TN 2.1: weiblich, 60–70 J., verheiratet, berufstätig, komplex erkrankt, mittelgradig depressiv)
In den Interviews im November 2020 wurden zunehmend Sorgen über die gesellschaftlichen Auswirkungen deutlich, bzw. auch Ärger über das Nichteinhalten von Schutzmaßnahmen.
„Weil halt viele mittlerweile halt in ihrer Spaßgesellschaft eingeschränkt sind. Und irgendwie nicht akzeptieren können, dass es einfach, dass man sich mal zurücknehmen muss, ja. … Die Älteren vielleicht besser, weil die noch den Krieg erlebt haben, und da war halt immer was nicht da oder ging was nicht.“
(TN: 3.1: weiblich, über 80 J., verwitwet, alleinlebend, berentet, nicht komplex erkrankt, mittelgradig depressiv)
Im Dezember 2020/Januar 2021 wurden in den Gesprächen spontan weniger die Restriktionen im Rahmen der Pandemie diskutiert, sondern wieder mehr die Erkrankung selbst. Dabei zeigten die PatientInnen erneut eine Zunahme von Ängsten in Bezug auf COVID-19.
Diskussion
Unsere Studie zeigt an exemplarischen Fällen die Erfahrungen älterer, multimorbider Menschen in akut-medizinischer Behandlung zu verschiedenen Phasen der Pandemie. Sie spiegelt den Verlauf der Pandemie im affektiven Erleben sowie in der Schilderung des Adaptationsprozesses an ein verändertes soziales Gefüge. Dabei zeigte sich in vielen Bereichen ein hohes Maß an Pragmatismus und Reflexion sowie Akzeptanz.
Erwartbare Emotionen gegenüber COVID-19, wie Angst oder Verunsicherung, werden genannt, dies jedoch unabhängig davon, wie schwer erkrankt die einzelne Person ist und welchem Geschlecht sie angehört. Die 70-jährige, verhältnismäßig gesunde Patientin, die eine hohe Beeinträchtigung, bedingt durch Veränderungen im beruflichen Umfeld beschreibt, gehört ebenso zur Gruppe der vulnerablen älteren Personen, wie die schwer multimorbide 75-Jährige, die eine Betroffenheit schlicht verneint. Eine vergleichbare Heterogenität findet sich in der Literatur. Während einige Autoren die psychische Resilienz älterer Menschen in der Coronakrise herausstellen und keine signifikante Zunahme an Einsamkeit beobachten [
9], warnen andere, dass die pandemiebedingte Isolation durchaus auch traumatisierend verarbeitet werden kann [
16]. Beide Beobachtungen finden Wiederklang in unseren Daten. Dabei ist auffällig, dass Ängste zunächst eher verneint, dann relativiert werden und im Zuge der zweiten „Corona-Welle“ wieder zunehmen. Eine ähnliche Dynamik findet sich in anderen Studien, die die größte Belastung durch die Pandemie in Phasen der größten Bedrohung sehen [
7]. Auch werden Gefühle wie Ärger thematisiert, jedoch eher gegenüber denen, die sich nicht an die Schutzmaßnahmen halten.
Die TeilnehmerInnen unserer Studie weisen eine überdurchschnittlich hohe Morbidität und Depressivität auf, im Vergleich mit anderen Gruppen ähnlichen Alters [
18] – bedingt durch die Einschlusskriterien der Studie und die Rekrutierung im stationären Umfeld. Trotzdem scheinen sie sorgsam, aber gelassen angesichts COVID-19. Diese Gelassenheit könnte auf der Lebenserfahrung und dem Wissen um den Umgang mit potenziell lebensbedrohlichen Situationen oder sozialen Änderungen beruhen. Es ist aber auch möglich, dass das soziale Umfeld im Vorfeld schon so konzentriert war, dass die Änderungen nicht gravierend schienen. Bezogen auf das Konzept der Selbstwirksamkeit wird bei einigen TeilnehmerInnen deutlich, dass ihre Zuversicht wuchs, durch die zunehmende Erfahrung mit der Pandemie und die Überzeugung, diese Situation auch selber bewältigen zu können. Dabei fällt auf, dass viele Interviewte häufiger die eigene Handlungskompetenz gegenüber COVID-19 herausstellten, z. B. über Schutzmaßnahmen oder neue Kontaktformen, und weniger auf die mögliche Bedrohung angesichts der eigenen Vorerkrankung eingingen.
Hinsichtlich der Auswirkung von depressiver Symptomatik auf das Erleben der Pandemie zeigte sich in unseren Daten keine klare Tendenz. Weder zeigten depressive TeilnehmerInnen ein ausgeprägteres Rückzugverhalten noch eine auffallend passiv-pessimistische Haltung gegenüber COVID-19. Es fiel aber auf, dass die TeilnehmerInnen aus den späteren Phasen eine höhere depressive Symptomatik zeigten. Dabei lässt sich jedoch nicht sagen, ob dies durch die fortdauernde Pandemie zu erklären ist, oder ob saisonale Effekte eine Rolle spielen.
Auf sozialer Ebene fiel auf, dass die Änderungen, insbesondere von aktiven Älteren bedauert, jedoch weitestgehend akzeptiert wurden. Dabei schilderten einige, dass sich durch COVID-19 der Kontakt zur direkten Familie änderte, räumlich nahe Kontakte sogar z. T. intensiviert wurden. Andere schilderten die Aufnahme neuer Kontaktmodelle, wie Videochats, gaben aber auch an, dass diese den Kontakt nicht vollständig ersetzten. In diesem Kontext zeigte ein aktueller Review, dass es bislang keine gesicherte Evidenz gibt, dass Videotelefonate psychische Belastung älterer Menschen signifikant lindern [
11]. Weiterhin war auffällig, dass die Alltagsunterstützung der befragten „Risikopatienten“ primär von familiären Bezugspersonen vorgenommen wurde und weniger von Sozialdiensten. Dies wurde auch in anderen Studien beschrieben, die im Rahmen der COVID-19-Pandemie eine Zunahme der Versorgungsarbeit in den Familien, insbesondere bei Frauen, sahen [
12].
Hinsichtlich der medizinischen Versorgung fiel eine hohe Zufriedenheit auf, sowie Verständnis für die getroffenen Schutzmaßnahmen oder die Aufschiebung von Terminen. Dabei wurde die Ansprechbarkeit der HausärztInnen hervorgehoben. Von Einzelnen wurde der erhöhte organisatorische Vorlauf, bedingt durch die Schutzmaßnahmen, als strukturierend eingeordnet.
Unsere Ergebnisse sind von Limitationen betroffen. So unterliegen die Aussagen zum zeitlichen Verlauf deutlicher interindividueller Schwankung, da sich jede Teilkohorte aus unterschiedlichen Menschen zusammensetzt und so pro Zeitraum jeweils nur sehr individuelle Meinungen erfasst wurden. Auch wurden wichtige Aspekte wie der soziale Status und die soziale Situation vor der Pandemie nicht detailliert erfasst. Auch ist es möglich, dass durch die kurze Dauer dieses Interviewabschnitts belastete Themenfelder bezogen auf COVID-19 nicht ausreichend thematisiert werden konnten. Weiterhin ist auffällig, dass die Länge der Interviews zunahm. Dies kann einerseits an der geschilderten Modifikation des Fragebogens liegen, aber auch an der zunehmenden Erfahrung mit COVID-19 im Zuge der immer länger andauernden Pandemie. Die größte Stärke hingegen ist die Erhebung von Daten in einer Gruppe von hochbelasteten PatientInnen, die in vielen aktuellen Studien zu COVID-19 nicht abgebildet sind.
Dies berücksichtigend stellen unsere Daten wichtige Momentaufnahmen aus dem Erleben der COVID-19-Pandemie von älteren Menschen mit kritischen Vorerkrankungen dar, aus denen sich Ansatzpunkte für weitere Forschungsarbeiten ergeben können. Dabei ist jedoch auch weiterhin die unverändert hohe Dynamik der Pandemie zu beachten.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.