Knapp die Hälfte der COVID-19-Patienten steckt sich bei Personen an, die noch keine Symptome haben. Ohne Distanzregeln lässt sich die weitere Ausbreitung daher kaum verhindern.
Immer wieder tauchen in der aktuellen Literatur zur Corona-Pandemie Berichte auf, wonach sowohl asymptomatische als auch präsymptomatische Infizierte das Virus weiterverbreiten. Eine aktuelle Analyse, die auf einem Preprint-Server veröffentlicht wurde, scheint dies nun zu bestätigen.
Forscher um Dr. Gabriel Leung vom WHO-Zentrum für die Epidemiologie infektiöser Erkrankungen in Hongkong haben sich zum einen die Viruslast im Infektionsverlauf von 94 Betroffenen angeschaut, zum anderen die Ansteckungsintervalle von 77 epidemiologisch nachgewiesenen Übertragungen eruiert (medRxiv 2020; online 18. März). Beide Analysen sprechen dafür, dass ein großer Teil der SARS-CoV-2-Infektionen auf Personen zurückzuführen ist, die selbst noch keine Symptome haben.
Maximale Infektiosität mit oder kurz vor Symptombeginn
Damit unterscheidet sich SARS-CoV-2 deutlich von SARS-CoV-1 aus den Jahren 2002/2003. Damals waren Infizierte rund eine Woche nach Symptombeginn maximal infektiös – in solchen Fällen genügt es, symptomatische Patienten zu isolieren, berichten Leung und Mitarbeiter. Bei SARS-CoV-2 hingegen scheint die Infektiosität mit oder kurz vor dem Symptombeginn maximal zu sein – damit genügt eine Isolierung symptomatischer Personen nicht mehr, um die weitere Ausbreitung zu begrenzen.
Zur Bestimmung der Viruslast kooperierten die Forscher um Leung mit einer Klinik in Guangzhou in China. Ein Team um Dr. Xi He hatte dort 414 Rachenproben von COVID-19-Patienten analysiert. Solche Proben sind für die Virusverbreitung besonders aussagekräftig – über den Rachen werden die meisten Viren beim Sprechen und Husten ausgeschieden. Die Proben erstreckten sich über einen Zeitraum von Tag 1 der Erkrankung bis zum Tag 32.
Höchste Viruskonzentration an Tag 1
Wie sich zeigte, wurden die höchsten Viruskonzentrationen am Tag des Symptombeginns gemessen, danach ging sie im Rachen stetig zurück. Nach drei Wochen war dort kaum noch SARS-CoV-2 nachweisbar. Dieses Muster konnten die Ärzte unabhängig von Alter, Geschlecht, der Erkrankungsschwere und dem Krankheitsverlauf beobachten.
Dass die maximale Viruslast am Tag des Symptombeginns gemessen wurde, deutet auf eine hohe oder gar noch höhere Viruskonzentration in den Tagen davor. Entsprechend müssten sich Übertragungen von präsymptomatischen Patienten nachweisen lassen. Davon ist auszugehen, wenn das serielle Intervall – also die Zeitdauer vom Erkrankungsbeginn des Überträgers bis zum Symptombeginn der ersten von ihm Infizierten – im Schnitt gleich lang oder kürzer ist als die mittlere Inkubationsdauer.
Ein Beispiel: Patient 1 steckt Patient 2 an, Patient 2 entwickelt vier Tage nach Patient 1 die ersten Symptome, die Inkubationszeit beträgt jedoch fünf Tage, also muss die Ansteckung schon einen Tag vor Beginn der Symptome bei Patient 1 erfolgt sein. Allerdings variieren Inkubationszeit und serielles Intervall, sodass sich solche Effekte nur über eine größere Patientenzahl hinweg ermitteln lassen.
Fast die Hälfte der Ansteckungen bei präsymptomatischen Patienten
Für ihre Modellrechnung verwendeten die Forscher um Leung öffentlich zugängliche Daten epidemiologischer Falluntersuchungen in China, bei der Infektionswege mit hoher Sicherheit nachgewiesen werden konnten. Sie schlossen folglich nur Erkrankte mit ein, bei denen sich recht sicher sagen ließ, von wem sie infiziert worden waren, etwa weil sie mit anderen nachgewiesen Infizierten keinen Kontakt hatten und zuvor keine weiteren Infektionen im Umfeld aufgetreten waren.
Dabei kamen sie auf ein mittleres serielles Intervall von 5,8 Tagen sowie einen Medianwert von 5,2 Tagen. Der Median ist praktisch identisch mit der mittleren Inkubationsdauer von 5,2 Tagen. Dies bedeutet, dass – je nach Art der Verteilung – sich rund die Hälfte der Patienten bei präsymptomatischen und ebenso viele bei symptomatischen Patienten angesteckt haben.
Konkret kamen die Forscher mit ihrer Modellrechnung zu dem Schluss, dass 44 Prozent der Infektionen von präsymptomatischen Infizierten ausgehen. Die Infektiosität beginnt danach zweieinhalb Tage vor Symptombeginn und erreicht das Maximum einen halben Tag, bevor die Betroffenen etwas von ihrer Infektion bemerken. Anschließend fällt sie über sieben Tage hinweg deutlich ab. Eine Woche nach dem Symptombeginn sind die Patienten dann in der Regel nicht mehr infektiös. Das deckt sich mit den Analysen zur Viruslast im Rachen: SARS-CoV-2 verschwindet innerhalb einer Woche weitgehend aus dem Rachen und taucht dann zunehmend in der Lunge auf.
Infektionsprofil erinnert eher an Influenza
Das Infektionsprofil von SARS-CoV-2 erinnere daher eher an Influenza als an SARS-CoV-1, schreiben die Ärzte. Saisonale Influenza zeige ebenfalls eine hohe Infektiosität um den Symptombeginn herum. Die Resultate sprechen nach Ansicht der Forscher um Leung tatsächlich dafür, dass die Isolierung Erkrankter nicht genügt, um die Epidemie einzudämmen. Abstand halten und Befolgen von Hygienevorschriften seien daher entscheidende Maßnahmen bei der Eindämmung.
„Das bedeutet natürlich auch, wenn man sich sofort bei Symptombeginn zu Hause einschließt, hat man schon Personen infiziert, wenn man ein ganz normales soziales Leben weiterlaufen lässt“, kommentierte der Virologe Professor Christian Drosten von der Charité Berlin die Studienresultate. „Mit normalen Regeln des Infektionsschutzes kann man diese Krankheit nicht eindämmen.“ Dies spreche für das soziale Distanzieren und für gezielte Verhaltensänderungen.
Das Wichtigste in Kürze
Frage: Wann werden COVID-19-Patienten infektiös?
Antwort: Nach Modellrechnungen beginnt die Infektiosität bereits zweieinhalb Tage vor Symptombeginn und erreicht einen halben Tag vor den ersten Beschwerden das Maximum.
Bedeutung: Etwa 44 Prozent aller COVID-19-Patienten könnten sich bei präsymptomatischen Personen infizieren.
Einschränkung: Modellrechnung, Preprint-Artikel
Quelle: Ärzte Zeitung