Ethik in der Pflege und für die Pflege folgt nicht einem universalen Ansatz, d. h. sie bedient sich verschiedener theoretischer Zugänge.
7 Über die Prinzipienethik als kleinsten gemeinsamen Nenner aller Gesundheitsberufe hinaus (Riedel et al.
2017, S. 163), besteht lediglich ein Minimalkonsens darin,
dass PP eine Verantwortung für ihre Patient*innen haben (Lachmann
2012, S. 114). Umfang und Ausmaß dieser Verantwortung sind jedoch abhängig von der spezifischen Situation und der im Einzelfall vorgenommenen Abwägung der tangierten moralischen Prinzipien. Außerdem kommen verschiedene Begründungsquellen für die Pflicht von PP zur Behandlung im Fall einer ernsten Infektionskrankheit, die sie selbst einem bedeutenden Risiko aussetzt, in Betracht. Eine solche Begründung kann auf der ausdrücklichen oder impliziten Zustimmung fußen, der (teilweise auch staatlich finanzierten) Fachausbildung und dem Gedanken der Reziprozität bzw. eines Gesellschaftsvertrags. Außerdem finden sich ethische Begründungen insbesondere in Gelöbnissen sowie Kodizes der Profession (Malm et al.
2008). Letztere Begründungsquelle, professionsethische Kodizes, ist vorliegend ein Ausgangspunkt. Die anderen vier Begründungsquellen werden an dieser Stelle nicht näher untersucht, da – so auch von Malm et al. (
2008, S. 7ff.) ausgeführt – PP bei Vertragsschluss im Regelfall bislang weder auf das Risiko einer Pandemie aufmerksam gemacht wurden noch dieses mitbedacht haben. Eine solche, für einen gültigen Arbeitsvertrag nicht verpflichtende Klausel würde bedeuten, dass PP mit Vertragsunterzeichnung, abhängig von der Formulierung, explizit einwilligen, auch hochinfektiöse Patient*innen, bspw. im Rahmen einer Pandemie, zu behandeln und sich dazu folglich vertraglich zu verpflichten. Ebenso greift die Begründungsquelle der Fachausbildung zu kurz, da im Rahmen der COVID-19 Pandemie auch verstärkt PP auf ITS eingesetzt werden, die für diese nicht primär ausgebildet und qualifiziert sind, sondern im Rahmen von Personalumverteilungskonzepten dort eingesetzt werden sollen (DIVI
2020). Auch die Begründung einer Sorge
pflicht unter Rekurs auf Reziprozität, d. h. einen Vertrag zwischen Gesellschaft und PP, ist zu unspezifisch. Eine solche kann nur Aussagen über die Gruppe der PP als ganze machen, nicht aber alle Aspekte und Prinzipien für eine Abwägung im Einzelfall generieren (Malm et al.
2008, S. 11). Anders als z. B. Ärzt*innen, werden beruflich Pflegende nach wie vor als „(Semi‑)Profession“ diskutiert (Kälble
2017). Aus ihrem Status als (Semi‑)Profession erwachsende Vorteile sind demnach weniger durch besondere Vorteile in (im)materieller Anerkennung gekennzeichnet als vielmehr durch ein besonderes Vulnerabilitätsniveau, das sich aus den vorherrschenden Meinungen über ihren Berufsstand und den unzulänglichen Rahmenbedingungen für ihre Arbeit ergibt (Schrems
2020, S. 35ff.). Darüber hinaus kann – selbst bei Anerkennung des Professionsstatus – allein durch die Zugehörigkeit einzelner PP zur Gruppe der beruflich Pflegenden nicht davon ausgegangen werden, dass für
einzelne PP aus dem damit verbundenen Ansehen tatsächlich Vorteile erwachsen (vgl. dazu auch Malm et al.
2008, S. 12).
Im Folgenden wird deshalb exemplarisch der ICN-Ethikkodex für Pflegende unter besonderer Berücksichtigung der Prinzipienethik als Anhaltspunkt für dessen konkretes Verständnis beleuchtet und durch den moralphilosophischen Ansatz der Care-Ethik nach Joan Tronto komplementiert. Diese Auswahl begründet sich durch die Konzentration des ICN-Ethikkodexes auf professionelle Verantwortung. Der ICN-Ethikkodex und die Prinzipienethik legen in Teilen dieselben ethischen Verhaltensweisen zugrunde, wenn auch mit anderer Begründung und Tiefe. Die Prinzipienethik kann in diesem Sinne den ICN-Ethikkodex substantiieren. Sie dient folglich hier als Vehikel für die Anwendung des ICN-Ethikkodex auf die konkrete Situation. Tronto ihrerseits fokussiert ebenso auf eine verantwortungsbasierte Ethik (Tronto
1993, S. 131ff.), in der sie Verantwortung – im Unterschied zu Ansätzen, die auf Pflichten basieren – als kontextrelatives Handlungsprinzip und relationales Konzept betrachtet. Die von ihr entwickelten vier Komponenten des Caring eignen sich besonders, diese Relationalität im Care-Prozess allgemein sowie im Pflegeprozess im Besonderen nachzuvollziehen. Entsprechend gibt Trontos Ansatz Anhaltspunkte für dem pflegerischen Handeln zugrundliegende moralische Prinzipien, die auf den Fall von ITS-Pflege in Zeiten der COVID-19 Pandemie angewendet und gegeneinander abgewogen werden.
ICN-Ethikkodex für Pflegende, unter besonderer Berücksichtigung der Prinzipienethik
Auch wenn Malm et al. kritisch anmerken, dass Kodizes erstens von den Adressat*innen stärker als lediglich symbolisch und weniger als handlungsleitend angesehen werden und zweitens sehr allgemein und mit großem Interpretationsspielraum formuliert sind (Malm et al.
2008, S. 13, 16), geben sie dennoch Aufschluss über die grundlegenden Werte und Prinzipien der entsprechenden Profession. Verstanden als Bezugssystem, das professionsethisches Handeln leitet, ist ein Ethikkodex ein Instrument der berufsständischen Selbstverwaltung (Ruderman et al.
2006). Werden Kodizes Teil der Berufsordnung (z. B. im Rahmen von Pflegekammergesetzen), so gewinnen sie an Gesetzeskraft. Entsprechend legt auch der ICN-Ethikkodex für Pflegende
8 „den Kern der ethischen Identität der Pflege“ nieder (Riedel et al.
2017, S. 163). Der Kodex des International Council of Nurses (ICN
2012) zeichnet sich durch den Rückbezug auf universale Werte und Prinzipien und dabei insbesondere durch seine Orientierung an den Menschenrechten aus. Dies erhöht nicht nur seine Verbindlichkeit, sondern macht ihn auch supranational anwendbar. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sieht den Ethikkodex als Basis für die Berufsausübung der PP in Deutschland an und beruft sich entsprechend auch in der öffentlichen Debatte ausdrücklich auf den Kodex.
9 Zudem wird er vom Deutschen Pflegerat als sog. Berufsethik unter beruflich Pflegenden verbreitet
10 und ist durch Aus- und Fortbildung einem Großteil der PP in Deutschland bekannt.
11
Nach dem ICN gilt die „grundlegende professionelle Verantwortung der Pflegenden […] dem pflegebedürftigen Menschen“. Zudem sind PP „persönlich verantwortlich und rechenschaftspflichtig für die Ausübung der Pflege“ (ICN
2012, S. 2). Die vier Aufgaben der PP sind entsprechend der Präambel die Förderung von Gesundheit, die Verhütung von Krankheit, die Wiederherstellung von Gesundheit sowie die Linderung von Leid. Der ICN-Ethikkodex selbst buchstabiert nicht aus, wie PP diese Aufgaben zu verstehen und wahrzunehmen haben. In der Literatur resoniert der Grundsatz der grundlegenden professionellen Verantwortung in der Debatte um die Pflicht zur Pflege („duty to care“), in welcher die beiden Prinzipien Fürsorge und Nicht-Schaden aus der Prinzipienethik im Zentrum stehen (Schroeter
2008, S. 3). Für die Auslegung des ICN-Ethikkodexes kann die Prinzipienethik jedoch nur Anhaltspunkte geben, da Letztere deutlich zentristischer ist als der universal angelegte ICN-Ethikkodex. Simonds und Sokol (
2009) zufolge umfasst Fürsorge in einer Pandemie nicht nur die Sorge um das Wohl der Patient*innen selbst, sondern auch die Pflicht, im Interesse der An- und Zugehörigen zu handeln sowie die Verantwortung, Kolleg*innen, den Arbeitgeber, die Profession als solche sowie die Gesellschaft zu unterstützen. Dem entspricht, im Sinne des Prinzips des Nicht-Schadens, die Verpflichtung, das Risiko für Patient*innen sowie Team-Mitglieder, Familienangehörige, aber auch für sich selbst möglichst gering zu halten. Außerdem kommt PP die Pflicht zu, die weitere Ausbreitung der Infektionskrankheit durch entsprechende Maßnahmen zu verhindern. Schließlich umfasst das Prinzip des Nicht-Schadens gemäß Simonds und Sokol auch, einen möglichen Vertrauensverlust in Gesundheitsberufe sowie andere Nachteile für die Profession dadurch zu verhindern, dass PP die Behandlung und Pflege hochinfektiöser Patient*innen nicht ablehnen (Simonds und Sokol
2009, S. 305f.). Dieser Gedanke wiederum findet sich auch im ICN-Kodex, in welchem PP dazu angehalten werden, „das Vertrauen der Bevölkerung in den Pflegeberuf zu stärken“ (ICN
2012). Durch seine menschenrechtliche Begründung weit über die Prinzipienethik hinausgehend, umfasst der ICN-Kodex ethischer Verhaltensweisen auch, dass PP „auf ihre eigene Gesundheit [achten], um ihre Fähigkeit zur Berufsausübung nicht zu beeinträchtigen“ (ICN
2012, S. 3).
Folglich haben PP nicht nur eine Verantwortung gegenüber anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Es muss an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass die Darstellung der Verantwortung respektive Pflicht zur Selbstsorge ein instrumentelles Verständnis der Gesundheit Pflegender impliziert, da es direkt an die Fähigkeit zur Pflegeübernahme geknüpft wird (Seidlein et al.
2019). Diese gerade in einer Pandemie über einen längeren Zeitraum hinweg überbordende Verantwortung für andere wie für sich selbst und die daraus resultierende fortwährende Abwägung lassen sich jedoch unter alleinigem Rekurs auf Prinzipienethik und ICN-Kodex nicht auflösen. Vielmehr ist der größere Kontext, darunter berufliche Beziehungen und soziale (Macht‑)Strukturen, in die Abwägung und Entscheidungsfindung einzubeziehen (Austin
2008).
Care-Ethik
Den Einbezug solcher Aspekte erlaubt der moralphilosophische Ansatz der Care-Ethik. „Care“ ist dabei nicht mit der pflegerischen Tätigkeit gleichzusetzen und ebenso wenig instrumentell zu verstehen, sondern geht weit über sie hinaus. So wird Care zumeist definiert als Tätigkeit oder Tugend, die auf das Erhalten der Welt sowie auf die Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse wie der Bedürfnisse anderer zielt. Care-Ethik zeichnet sich folglich durch die Betonung des relationalen Moments, der Verbundenheit mit- und Abhängigkeit voneinander sowie eine Bedürfnisorientierung aus. Sie schreibt den grundlegenden Komponenten von (Sorge‑)Beziehungen moralische Bedeutung zu (Sander-Staudt
2019).
Für Tronto umfasst die Care-Ethik, einen entsprechenden Care-Habitus zu entwickeln, sich seinem Gegenüber zuzuwenden und sich selbst gleichzeitig zu fragen, wie die Care-Verantwortung bestmöglich erfüllt werden kann (Tronto
1993, S. 110, 127). Das Sorgen (
Caring), bspw. für Patient*innen, hat ihr zufolge vier Phasen:
caring about –
taking care of –
caregiving –
care receiving (Tronto
1993, S. 165). Notwendig für erfolgreiches sowie wirkungsvolles
Caring sind wiederum vier grundliegende Komponenten: Aufmerksamkeit (
attentiveness) – Verantwortung (
responsibility) – Kompetenz (
competence) – Reaktion des*der Gepflegten (
responsiveness of the care receiver) (Tronto
1993, S. 127).
Nur wer aufmerksam ist, kann erkennen, dass jemand – das Gegenüber oder man selbst – ein Bedürfnis hat. Zum einen ist für Tronto Ignoranz ein moralisches Übel. Zum anderen hebt sie hervor, dass es, wenn die Aufmerksamkeit auf Bedürfnisse anderer geht, wichtig ist, auch auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten und sich nicht mit dem Gegenüber überzuidentifizieren (Tronto
1993, S. 127ff.). Die ethische Dimension der Verantwortung betont hingegen, dass
Caring über eine Pflichterfüllung hinausgeht. Damit zusammen hängt auch die Frage nach Kompetenz, welche für Tronto insofern eine ethische Dimension hat, als dass der*die Sorgende bei eigenem fachlichen Unvermögen oder fehlenden Ressourcen dafür Sorge zu tragen hat, dass ein*e andere*r Fachkundige*r die Sorgearbeit ausführt (Tronto
1993, S. 133f.). Schließlich werden durch die vierte Dimension, die Reaktion – von Kohlen mit „Resonanz“ übersetzt (Kohlen
2018, S. 263), die ethischen Konzepte und Herausforderungen der Vulnerabilität sowie (Un‑)Gleichheit, Abhängigkeit und Machtasymmetrie in einer Care-Beziehung hervorgehoben (Tronto
1993, S. 134ff.). Außerdem verweist diese letzte Dimension auf die Wichtigkeit der Selbstsorge des*der Sorgenden: Die Reaktion des Gegenüber und damit die Reziprozität der Beziehung (Watson
2001) impliziert zugleich, dass der*die Gepflegte nicht als Mittel zum Zweck der eigenen Genugtuung „gebraucht“ und als Mittel zum Zweck der eigenen Selbstsorge stilisiert werden darf. Vielmehr ist Selbstsorge ein Teil der
Care Work (Sorgearbeit). Selbstsorge „umfasst die Sorge um die eigene Gesundheit, Bildung und individuellen Bedürfnisse. Sorgearbeit für sich selbst ist im Beruf, im Familien- und Freundeskreis sowie in anderen Bereichen notwendig, um das eigene Arbeitsvermögen aufrecht zu erhalten“ (Kohlen
2018, S. 268). Dadurch wird deutlich, dass Selbstsorge weder isoliert betrachtet und absolut gesetzt, noch verkürzt allein für die Aufrechterhaltung der beruflichen (Pflege‑)Tätigkeit instrumentalisiert werden kann. Vielmehr ist nicht nur bei Care, sondern auch bei Self-Care das relationale Moment und damit relative Selbstsorge zu betonen.
Der Ansatz der Care-Ethik erweitert das Spektrum ethischer Verhaltensweisen, die pflegerischem Handeln zugrunde liegen, entsprechend in verschiedene Richtungen: hin zu Aufmerksamkeit und Verantwortung, Kompetenz und Resonanz. Zugleich wird die im ICN-Ethikkodex angeklungene ethische Verhaltensweise der Selbstsorge aufgenommen und substantiiert.